Verwaltungsanweisung zu § 95 SGB XII - Feststellung der Sozialleistungen
Verwaltungsanweisung zu § 95 SGB XII - Feststellung der Sozialleistungen
Verwaltungsanweisung zu § 95 SGB XII
Feststellung der Sozialleistungen
Verwaltungsanweisung zu § 95 SGB XII
1 Inhalt und Ziel
1.1 Verfahren bei der Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Sozialleistungen
1.2 Anwendungsfälle des § 95
2 Feststellung der Sozialleistungen
2.1 Anwendungsbereich
2.2 Ablauf
2.3 Ermessenausübung
2.3.1 Übermittlung der erforderlichen Daten
2.3.2 Besonderheiten Wohngeld
3 Einlegung von Rechtsmitteln nach § 95
4 Grenzen des Verfahrens nach § 95
4.1 Kein Leistungsausschluss unmittelbar aus § 2
Gesetzestext§ 95 SGB XII Feststellung der Sozialleistungen
Der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe kann die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen. Der Ablauf der Fristen, die ohne sein Verschulden verstrichen sind, wirkt nicht gegen ihn. Satz 2 gilt nicht für die Verfahrensfristen, soweit der Träger der Sozialhilfe das Verfahren selbst betreibt.
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Inhalt und Ziel
1.1
Verfahren bei der Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Sozialleistungen
Gemäß § 2 Absatz 1 SGB XII
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erhält Sozialhilfe nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält (sog. Nachranggrundsatz).
Daraus folgt, dass Leistungsberechtigte vom Amt für Soziale Dienste (im Folgenden: TdSH, Träger der Sozialhilfe) zur Beantragung vorrangiger Sozialleistungen aufzufordern sind (bspw. Unterhaltsvorschuss, Wohngeld, Kindergeld nach dem BKGG).
Um unnötigen Aufwand für die Leistungsberechtigten, sowie für die beteiligten Behörden zu vermeiden, sollte vom TdSH vor der Aufforderung zur Beantragung einer anderen Sozialleistung (soweit möglich) geprüft werden, ob Leistungsansprüche bestehen könnten (bspw. überschlägige Berechnung durch Wohngeldrechner aus dem Internet).
Es kann sachdienlich sein, zusammen mit der Aufforderung zur Beantragung, im Rahmen der Beratungspflicht nach § 14 SGB I der leistungsberechtigten Person die Notwendigkeit der Beantragung der anderen Sozialleistung zu erläutern.
Zeitgleich wird in der Regel ein Erstattungsanspruch bei der anderen Behörde angemeldet.
Im Regelfall sollte das beschriebene Verfahren zu einer Beantragung der Sozialleistung führen. In diesen Fällen findet § 95 keine Anwendung.
1.2
Anwendungsfälle des § 95
In den Fällen, in denen trotz des o.g. Vorgehens der Antrag auf eine andere Sozialleistung nicht gestellt wird,
kann
der TdSH nach § 95 tätig werden.
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich daher auf Fälle, in denen die Leistungsberechtigten den Antrag auf eine andere Sozialleistung trotz vorheriger Aufforderung durch den TdSH nicht gestellt oder ein Rechtsmittel nicht eingelegt haben.
§ 95 gibt dem TdSH die Möglichkeit, die Feststellung einer Sozialleistung zu betreiben sowie Rechtsmittel einzulegen, um hierdurch den gesetzlichen Nachrang herzustellen. Dabei kann der TdSH für die leistungsbeziehende Person den Antrag auf eine andere Sozialleistung stellen und auch die nötigen Unterlagen, soweit ihm diese vorliegen, an den anderen Träger übersenden, um so eine Bewilligung der Sozialleistung zu erreichen. Weiterhin kann der TdSH Rechtsmittel für die Leistungsberechtigten beim anderen Träger einlegen.
Anlässlich der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23.03.2021 (Az. B 8 SO 2/20 R) zum Nachranggrundsatz des § 2 und dem Verhältnis von Wohngeld und Sozialhilfe, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in einem Rundschreiben zur Anwendung des § 95 ausgeführt. Diese Verwaltungsanweisung regelt im Folgenden die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anwendung des § 95 für die Praxis.
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Feststellung der Sozialleistungen
2.1
Anwendungsbereich
Kann der Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GAE) durch den Bezug von anderen vorrangigen Sozialleistungen vermindert oder gänzlich vermieden werden, bedarf es der Verwirklichung dieser Rechtsansprüche, um die Nachrangigkeit der Sozialhilfe herzustellen. Stellt die leistungsberechtigte Person einen notwendigen Antrag auf eine andere Sozialleistung, kann der TdSH die Feststellung dieser Sozialleistung betreiben.
Der Begriff der Sozialleistung ist in § 11 SGB I definiert: Sozialleistungen sind danach die im Sozialgesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen. Sozialleistungen sind sowohl die Leistungen der in § 12 SGB I genannten Leistungsträger als auch Leistungen aus den in § 68 SGB I genannten Gesetzen (z. B. Bundesausbildungsförderungsgesetz, Opferentschädigungsgesetz, Bundeskindergeldgesetz, Wohngeldgesetz, Unterhaltsvorschussgesetz), die ebenfalls als besondere Teile zum Sozialgesetzbuch gehören
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.
Die Feststellung einer Sozialleistung nach § 95 umfasst alle rechtserheblichen Handlungen, die für die Verwirklichung des vermeintlichen Anspruchs auf Sozialleistungen erforderlich sind (förmliche und materiell-rechtliche Antragstellung, unter Einhaltung der datenschutzrechtlichen Grenzen für die Übermittlung der für die Feststellung der Sozialleistung erforderlichen Daten der leistungsberechtigten Person, soweit der vorrangig verpflichtete Sozialleistungsträger oder das Gericht diese benötigt, um über den Antrag entscheiden zu können). Nicht darunter fällt die Ausübung von Gestaltungsrechten, insbesondere zu Anträgen, die sich auf den versicherungsrechtlichen Status der leistungsberechtigten Person beziehen (z. B. nach § 9 SGB V die den freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung erklären oder die Familienversicherung nach § 10 SGB V eines Leistungsempfängers durch die Krankenkasse feststellen zu lassen).
2.2
Ablauf
Der TdSH kann die Beantragung für die leistungsberechtigte Person vornehmen und so vorrangige Ansprüche der leistungsberechtigten Person realisieren, wenn er erstattungsberechtigt ist. Ausreichend ist, dass der TdSH einen Erstattungsanspruch haben kann, er muss noch nicht entstanden sein. Daher kann der TdSH über § 95 auch zukünftige vorrangige Ansprüche der leistungsberechtigten Person geltend machen. Ebenso muss noch keine Bewilligung von GAE-Leistungen erfolgt sein; es genügt das Bestehen einer Leistungspflicht des TdSH nach materiellem Recht. Das heißt, es muss feststehen, dass die leistungsberechtigte Person die Leistungsvoraussetzungen der GAE erfüllt und hilfebedürftig ist – die Leistung muss jedoch noch nicht, auch nicht vorläufig, bewilligt sein. Der TdSH kann mit seinem Antrag an einen vorrangigen Sozialleistungsträger jedoch nicht die unmittelbare Auszahlung der festgestellten Sozialleistung an sich verlangen. Zur Durchsetzung seiner Erstattungsberechtigung bedarf es neben der Feststellung der vorrangigen Sozialleistung auch der ausdrücklichen Anmeldung des Erstattungsanspruchs nach dem SGB X des TdSH gegenüber dem vorrangigen Sozialleistungsträger.
Die praktisch häufigste Erstattungsberechtigung resultiert für den TdSH aus § 104 SGB X. Erstattungsberechtigt nach § 104 SGB X ist der nachrangig verpflichtete Leistungsträger. Nachrangig verpflichtet ist der TdSH dabei nur dann, wenn die leistungsberechtigte Person bei Auszahlung der vorrangigen Leistung keinen oder einen geringeren Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe hätte (z. B. Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, Wohngeld). Hierunter fallen insbesondere auch solche Sozialleistungen, die gemäß § 43 i.V.m. §§ 82 ff. auf die Leistungen der GAE anzurechnen sind (z. B. Renten, Unterhaltsansprüche).
Betreibt der TdSH die Feststellung der Sozialleistung nach § 95, ist die leistungsberechtigte Person im dadurch angestoßenen Verwaltungsverfahren zu beteiligen (§ 12 SGB X). Die leistungsberechtigte Person bleibt Inhaberin des Anspruchs gegenüber dem vorrangig verpflichteten Leistungsträger. Werden infolge des Feststellungsverfahrens Sozialleistungen bewilligt, kann die leistungsberechtigte Person auf diese nicht nach § 46 Absatz 1 SGB I verzichten. Ein Verzicht auf die festgestellte Leistung wäre gemäß § 46 Absatz 2 SGB I unwirksam.
Beteiligung der leistungsberechtigten Person nach § 12 SGB X Die Beteiligung in Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sollte dadurch erfolgen, dass sämtliche Schreiben, die der TdSH an den anderen Sozialleistungsträger versendet, in Zweitschrift auch an die leistungsberechtigte Person versandt werden. Sofern ein Gerichtsverfahren durch den TdSH eröffnet wird, ist die leistungsberechtigte Person beizuladen (siehe dazu unter 3. Einlegung von Rechtsmitteln nach § 95). |
§ 95 bewirkt dabei keine Überleitung des Anspruchs der berechtigten Person auf den TdSH, sondern ermächtigt Letzteren, im eigenen Namen für die leistungsberechtigte Person ein Verwaltungsverfahren zu betreiben.
Zusammenfassung des Verfahrensablaufes: Sofern die Beantragung der anderen Sozialleistung durch die leistungsberechtigte Person nach dem gängigen Verfahren (siehe 1.1) nicht erreicht werden konnte, kann der TdSH den Antrag nach § 95 beim anderen Träger stellen. Diese Antragstellung unterliegt vorerst keiner besonderen Form. Es sollte leistungsberechtigte Person und die andere Sozialleistung benannt werden, sowie ein kurzer Hinweis erfolgen, dass der Antrag nach § 95 gestellt wird. |
Im Rahmen dieses Antragsverfahrens wird sich der andere Träger an den TdSH wenden und die Vorlage der benötigten Formulare/Nachweise fordern. Da der TdSH als Antragsteller auftritt, ist i.d.R. nicht davon auszugehen, dass der andere Träger die leistungsberechtigte Person zur Vorlage der Nachweise auffordert. Daraufhin kann der TdSH die benötigten Nachweise – sofern ihm diese vorliegen – an den anderen Träger übersenden und so eine Bewilligung der anderen Sozialleistung herbeiführen. In vielen Fällen sollte hierdurch eine Bewilligung der Sozialleistung erfolgen können. |
Sofern die benötigten Nachweise dem TdSH nicht vorliegen und die Aufforderung zur Mitwirkung gegenüber der leistungsberechtigten Person keinen Erfolg hat, somit die benötigten Unterlagen dem anderen Träger nicht vorgelegt werden können, ist davon auszugehen, dass dieser den Antrag ablehnen oder versagen wird. |
2.3
Ermessenausübung
Ob der TdSH von seiner durch § 95 eingeräumten Befugnis Gebrauch macht, steht in dessen pflichtgemäßen Ermessen. Das Ermessen umfasst sowohl das Entschließungsermessen (also „ob“ die Feststellung betrieben wird) als auch das Auswahlermessen (also mit welchen der in § 95 eingeräumten Möglichkeiten). Die Feststellung der Sozialleistung durch den TdSH greift in die Rechte der leistungsberechtigten Person (potentielle/r Anspruchsinhaber/in) ein, weswegen der TdSH bei der Ausübung seines Ermessens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten hat. Dieser setzt voraus, dass die Feststellung der Sozialleistung erforderlich ist. Sie ist dann erforderlich, wenn kein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht weniger stark einschränkendes Mittel zur Verfügung steht, mit dem das Ziel ebenso gut erreicht werden kann.
Bevor ein TdSH die Feststellung der vorrangigen Sozialleistung betreibt, muss er der leistungsberechtigten Person nicht nur über vorrangige Ansprüche Auskunft geben und diese beraten, sondern der TdSH hat auch losgelöst vom Nachranggrundsatz auf eine sachdienliche Antragsstellung hinzuwirken (§ 16 Absatz 3 SGB I) . Die leistungsberechtigte Person muss zudem die Gelegenheit bekommen haben, den erforderlichen Antrag selbst zu stellen. Zwar ist für das Feststellungsverfahren nach § 95 weder die Mitwirkung noch die Zustimmung der leistungsberechtigten Person erforderlich, dennoch scheidet dieses Vorgehen aus, wenn die leistungsberechtigte Person selbst bereit und auch tatsächlich in der Lage ist, die vorrangige Sozialleistung zu beantragen bzw. gegen einen ablehnenden Bescheid vorzugehen.
Nach § 95 ist in jedem betroffenen Leistungsfall eine nachvollziehbare Ermessensentscheidung zur Geltendmachung vorrangiger Ansprüche zu treffen. Daher sind bei der Abwägung für oder gegen eine Beantragung vorrangiger Leistungen durch den TdSH auch die Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 46a Absatz 4 Satz 1) zu berücksichtigen. Schließlich dient § 95 in erster Linie der Durchsetzung der Interessen des TdSH. Dementsprechend ist auch abzuwägen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die leistungsberechtigte Person die vorrangige Leistung erhalten wird. Bei der Ausübung des Ermessens sind daher insbesondere auch die folgenden Fragestellungen zu berücksichtigen:
•
Ist die vorrangige Leistung allein von einem Antrag abhängig?
•
Reichen die vom TdSH erhobenen und übermittlungsfähigen Daten aus, um die vorrangige Sozialleistung auch ohne Mitwirkung der leistungsberechtigten Person feststellen zu können?
•
Führt die vorrangige Leistung zu einer dauerhaften oder vorübergehenden Überwindung oder erheblichen Verringerung der Hilfebedürftigkeit?
•
Hat die leistungsberechtigte Person in der Vergangenheit die Mitwirkung an der Feststellung eines vorrangigen Leistungsanspruchs verweigert und sind in der Zwischenzeit erhebliche Änderungen eingetreten, die es wahrscheinlicher erscheinen lassen, dass nunmehr eine erfolgversprechende Mitwirkung zu erwarten ist?
•
Für die Zulässigkeit der Übermittlung von Daten und Unterlagen: Hat die leistungsberechtigte Person in die Übermittlung der für die Feststellung der Sozialleistung erforderlichen Daten eingewilligt oder liegen die Voraussetzungen nach § 69 Absatz 1 Nummern 1 oder 2 SGB X für eine Übermittlung der erforderlichen Daten auch ohne die Einwilligung der leistungsberechtigten Person vor? (siehe 2.3.1 Übermittlung der erforderlichen Daten)
Je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass die leistungsberechtigte Person die vorrangige Leistung erhalten wird, und je stärker sich die Hilfebedürftigkeit bei Bezug der vorrangigen Sozialleistung verringern würde, desto mehr reduziert sich der Spielraum beim Entschließungsermessen. In diesen Fällen ist regelmäßig nach § 95 vorzugehen und die Feststellung zu betreiben.
Fazit: Sofern die Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass eine Feststellung der Sozialleistung nach § 95 nicht erfolgt, ist kein Antrag auf die andere Sozialleistung durch den TdSH zu stellen. Die Gründe für die Ermessensentscheidung sind aktenkundig zu dokumentieren. |
2.3.1
Übermittlung der erforderlichen Daten
Eine Übermittlung von Sozialdaten kann unter anderem für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe der übermittelnden Stelle nach dem Sozialgesetzbuch zulässig sein (§ 69 Absatz 1 Nummer 1 SGB X). Gemäß § 69 Absatz 1 Nummer 2 SGB X ist eine Übermittlung von Sozialdaten zudem möglich, wenn sie für die Durchführung eines mit der Erfüllung einer Aufgabe nach Nummer 1 zusammenhängenden gerichtlichen Verfahrens erforderlich ist
Da es sich bei § 95 SGB XII um eine Ermessensvorschrift handelt und § 69 Absatz 1 Nummern 1 und 2 SGB X auf die „Erforderlichkeit“ abstellen, ist eine Übermittlung von Daten und Unterlagen in jedem Fall auf die Sozialdaten zu beschränken, die zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben des jeweiligen Leistungsträgers erforderlich sind (z. B. zur Prüfung von Leistungsvoraussetzungen wie zur Prüfung des Wohngeldanspruchs: Name, Anschrift, Geburtsdatum, Angaben über Haushaltsmitglieder, vorliegende Nachweise über die Aufwendungen für Unterkunft und über das bekannte Haushaltseinkommen). Zudem sollte zur sorgfältigen Abwägung im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens im Regelfall in Erwägung gezogen werden, die Einwilligung des Betroffenen zu der Datenübermittlung einzuholen bzw. zumindest abzufragen.
2.3.2
Besonderheiten Wohngeld
Handelt es sich bei der vorrangigen Sozialleistung um Wohngeld und nimmt die leistungsberechtigte Person zusätzlich weitere kommunale Vergünstigungen (z. B. vergünstigtes ÖPNV-Ticket, Befreiung Rundfunkbeitrag)
tatsächlich
in Anspruch, die den Bezug von GAE-Leistungen voraussetzen, und können diese bei dem Wechsel in den Wohngeldbezug nicht mehr in Anspruch genommen werden, so ist dies im Rahmen der Ermessensentscheidung ebenfalls zu berücksichtigen. Eine Berücksichtigung im Rahmen der Ermessensentscheidung setzt die offenkundige tatsächliche Inanspruchnahme oder einen entsprechend belegten Vortrag der leistungsberechtigten Person z. B. im Rahmen des Beratungsgesprächs voraus. Reicht der im Vergleich zum GAE-Bezug höhere Wohngeldanspruch aus, um die bei Wegfall der bisher genutzten Vergünstigungen entstehenden Mehraufwendungen zu kompensieren, bleibt es bei den vorgenannten Ermessenserwägungen. Ist eine Kompensation dagegen nicht möglich, ist in diesen Fällen keine Feststellung der Sozialleistung über § 95 zu betreiben.
Entsprechendes gilt für antragstellende Personen, die nachweisen, dass sie kommunale Vergünstigungen (z. B. vergünstigtes ÖPNV-Ticket), deren Inanspruchnahme den Bezug von GAE-Leistungen voraussetzt, tatsächlich nutzen werden.
Beispiel: Der mögliche Wohngeldanspruch liegt 50 € über dem bisherigen SGB XII-Leistungsanspruch beim TdSH. Die leistungsberechtigte Person teilt mit, dass sie kein Wohngeld beantragen möchte, da sie dann Vergünstigungen verlieren würde. Sie macht geltend, dass sie das vergünstigte Stadtticket nutzt und kann dies durch Vorlage eines aktuellen Tickets belegen. Im Übrigen ist zu beachten, dass die Befreiung vom Rundfunkbeitrag, die bei Leistungsbezug nach dem SGB XII erfolgt, in der Regel beim Bezug von Wohngeld nicht möglich ist3. |
Es würde bei einem „Wechsel ins Wohngeld“ ein finanzieller Nachteil durch den Verlust der Ticket-Vergünstigung (Differenz zwischen Preis Stadtticket und Monatsticket ohne Vergünstigung; derzeit 42,80 €) und durch die wegfallende Rundfunkbeitragsbefreiung (18,36 €) entstehen. In Summe monatlich 61,16 €. |
Dieser finanzielle Nachteil in Höhe von 61,16 € kann nicht durch den höheren Bewilligungsbetrag des Wohngeldes (50 € höher als SGB XII-Leistungen) kompensiert werden. Bei einem Wechsel ins Wohngeld würde die leistungsberechtigte Person somit finanziell schlechter gestellt werden. Im Rahmen der Ermessensausübung kann der TdSH von der Beantragung von Wohngeld absehen. Damit käme in diesem Fall § 95 nicht zur Anwendung und die Person verbleibt im Leistungsbezug nach dem SGB XII. Die Gründe für die Ermessensentscheidung sind aktenkundig zu dokumentieren. |
Die leistungsberechtigte Person kann dennoch selbst entscheiden Wohngeld zu beantragen, auch wenn dadurch die genannten Vergünstigungen entfallen und ein sogenannter finanzieller Nachteil entsteht. Das Beispiel soll lediglich darlegen, dass § 95 in diesen Fällen keine Anwendung findet, der TdSH also keine Aufforderung bzw. Antragstellung vornimmt. |
3
Einlegung von Rechtsmitteln nach § 95
Lehnt der vorrangige Leistungsträger die beantragte Leistung ab, ermächtigt § 95 den TdSH auch ausdrücklich zur Einlegung von Rechtsmitteln. Die Befugnis Rechtsmittel einzulegen ist unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks der Durchsetzung von Sozialleistungen weit auszulegen. Der TdSH kann daher im Verwaltungsverfahren Widerspruch einlegen, einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X stellen oder einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend machen. § 95 ermöglicht dem TdSH auch die gerichtliche Geltendmachung des Anspruchs der leistungsberechtigten Person im Wege der gesetzlichen Prozessstandschaft z. B. durch Klageerhebung, Berufung, Revision, Beschwerde oder Nichtzulassungsbeschwerde. Die leistungsberechtigte Person ist im gerichtlichen Verfahren notwendig beizuladen (§ 75 Absatz 2 SGG). Ein Fristablauf, der ohne Verschulden des TdSH eingetreten ist, wirkt gemäß § 95 Satz 2 nicht gegen den TdSH, solange dieser das Verfahren auf Feststellung der Leistung nicht selbst betreibt. Zu den privilegierten Fristen gehören sowohl Verfahrensfristen, insbesondere Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsfristen, als auch materielle Fristen (z. B. für den Rentenantrag nach § 99 SGB VI), in denen ein Antrag zurückwirken kann.
Solange das Rechtsmittelverfahren noch läuft und auch noch keine vorläufige Bewilligung und Auszahlung der vorrangigen Sozialleistung erfolgt ist, hat der TdSH GAE-Leistungen in gesetzlicher Höhe ohne Berücksichtigung der eventuell bestehenden vorrangigen Sozialleistung zu bewilligen und auszuzahlen.
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Grenzen des Verfahrens nach § 95
Die Möglichkeiten des TdSH nach § 95 sind jedoch begrenzt. Zumeist sind im Anschluss an die bloße Antragstellung noch Mitwirkungshandlungen der leistungsberechtigten Person gegenüber dem Träger der vorrangigen Sozialleistung erforderlich. Diese kann der TdSH nicht in allen Fällen für die leistungsberechtigte Person vornehmen. Eine materiell-rechtlich begründete Pflicht der leistungsberechtigten Person zur Beantragung vorrangiger Sozialleistungen wie in § 12a SGB II enthält das SGB XII nicht ausdrücklich.
Entscheidet sich die leistungsberechtigte Person, die vorrangige Sozialleistung nicht in Anspruch nehmen zu wollen, und unterlässt sie daher erforderliche Mitwirkungshandlungen gegenüber dem Träger der vorrangigen Sozialleistung, so führt der vom TdSH nach § 95 gestellte Antrag - insbesondere in den Fällen, in denen die notwendigen Informationen auch nicht vom TdSH beschafft werden können - ggf. nicht zu einer Bewilligung der vorrangigen Leistung. Grund für diese Weigerung können beispielsweise kommunale Vergünstigungen sein, deren Voraussetzung der Bezug von GAE-Leistungen ist (siehe 2.3.2 Besonderheiten Wohngeld).
Das bloße Unterlassen einer - in Bezug auf die vorrangige Leistung - notwendigen Antragstellung oder gebotenen Mitwirkungshandlung führt nicht zum Wegfall eines bestehenden Anspruchs auf GAE-Leistungen und rechtfertigt daher weder eine Ablehnung eines Antrags auf GAE noch eine Aufhebung eines bereits erlassenen GAE-Bewilligungsbescheides durch den TdSH. Ebenso wenig kommen eine Versagung oder Entziehung der GAE-Leistungen nach § 66 SGB I in Betracht, vor allem dann nicht, wenn das Verwaltungsverfahren für die vorrangige Sozialleistung noch läuft. Nach § 66 SGB I kann der Leistungsträger zwar ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt, hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird und soweit deshalb die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. § 66 SGB I ermöglicht jedoch nur eine Versagung oder Entziehung derjenigen Sozialleistung, für die der zuständige Träger im Rahmen seiner eigenen Anspruchsprüfung Mitwirkungsobliegenheiten auferlegt hat. Eine Versagung oder Entziehung von Leistungen wegen Verstoßes gegen Mitwirkungsobliegenheiten in einem Verwaltungsverfahren gegenüber einem anderen Sozialleistungsträger ist dagegen unzulässig.
4.1
Kein Leistungsausschluss unmittelbar aus § 2
GAE-Leistungen können nicht ausschließlich unter Berufung auf § 2 abgelehnt werden. Mit der Entscheidung vom 23. März 2021 hat das BSG seine ständige Rechtsprechung bestätigt und bekräftigt, dass § 2 keine isolierte Ausschlussnorm darstellt. Leistungsberechtigung bzw. Leistungsausschlüsse ergeben sich für die GAE nur aus den Vorschriften des Zweiten, Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII. Unabhängig davon resultiert aus dem Nachranggrundsatz des § 2 und den ihn konkretisierenden Vorschriften (§ 27 Absatz 1, § 41 Absatz 1 i. V. m. § 43 i. V. m. §§ 82 ff.), dass eigene Mittel einzusetzen und hierfür auch bestehende (Sozialleistungs-) Ansprüche zu realisieren sind. Da für leistungsberechtigte Personen ein gesetzliches Gebot besteht, vorrangige Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, sind die TdSH zunächst zur Prüfung vorrangiger Ansprüche verpflichtet. Eine Berücksichtigung als Einkommen oder Vermögen ist jedoch nur dann möglich, wenn der leistungsberechtigten Person (zu berücksichtigendes) Einkommen zufließt oder die leistungsberechtigte Person verwertbares Vermögen besitzt oder sie die Leistung von anderen (tatsächlich) „erhält“, also eine unmittelbare (direkte) Möglichkeit besteht, den Bedarf selbst zu decken. Fließt Einkommen, insbesondere die vorrangige Sozialleistung tatsächlich nicht zu, darf eine Berücksichtigung als Einkommen nicht erfolgen.
Fußnoten
1)
Paragraphen im Folgenden beziehen sich auf das SGB XII, sofern nicht anders angegeben.
2)
Da Leistungen ausländischer Sozialleistungsträger in der Regel keine Sozialleistungen im Sinne des SGB I sind, ermöglicht § 95 keine Feststellung dieser Leistungsansprüche durch den TdSH.
3)
Für die Frage, ob im Wohngeldbezug ggf. weiterhin eine Rundfunkbeitragsbefreiung möglich ist, können die Ausführungen auf der Website des Beitragsservice herangezogen werden. Für eine Beitragsbefreiung aus sozialen/finanziellen Gründen ist die Frage ausschlaggebend, ob mit Bezug von Wohngeld der „soziale Bedarf“ (nach dem SGB XII) um mehr als 18,36 € überschritten wird. Wenn dies der Fall ist, besteht keine Rundfunkbeitragsbefreiung. Sofern Wohngeldansprüche bestehen, dürfte in der Regel davon auszugehen sein, dass der SGB XII-
Bedarf um mehr als 18,36 € überstiegen wird und damit die Rundfunkbeitragsbefreiung beim Wechsel ins Wohngeld entfallen würde, also ein finanzieller Nachteil in Höhe von 18,36 € mtl. entstehen würde. Mit dieser Annahme wurde auch im o.g. Beispiel gerechnet. Sollte das übersteigende Einkommen inkl. Wohngeld unterhalb 18,36 € liegen, ist ggf. eine Rundfunkbeitragsbefreiung während des Bezuges von Wohngeld möglich und der finanzielle Nachteil fiele entsprechend geringer aus.
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