Übereinkommen über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen
Abgeschlossen in Wien am 26. September 1986 Von der Bundesversammlung genehmigt am 3. März 1988¹ Schweizerische Ratifikationsurkunde hinterlegt am 31. Mai 1988 In Kraft getreten für die Schweiz am 1. Juli 1988 (Stand am 3. Februar 2025) ¹ AS 1988 1359
Art. 1 Anwendungsbereich
(1) Dieses Übereinkommen findet auf jeden Unfall Anwendung, der die in Absatz 2 genannten Anlagen oder Tätigkeiten eines Vertragsstaats oder seiner Hoheitsgewalt oder Kontrolle unterstehender natürlicher Personen oder anderer Rechtsträger betrifft, bei dem radioaktive Stoffe freigesetzt werden oder werden können und der zu einer internationalen grenzüberschreitenden Freisetzung geführt hat oder führen kann, die für die Sicherheit eines anderen Staates vor Strahlungsfolgen von Bedeutung sein könnte.
(2) Die in Absatz 1 genannten Anlagen und Tätigkeiten sind folgende:
a) jeder Kernreaktor, unabhängig von seinem Standort;
b) jede Anlage des Kernbrennstoffkreislaufs;
c) jede Anlage zur Behandlung radioaktiver Abfälle;
d) die Beförderung und Lagerung von Kernbrennstoffen oder radioaktiven Abfällen;
e) die Herstellung, Verwendung, Lagerung, Beseitigung und Beförderung von Radioisotopen für landwirtschaftliche, industrielle, medizinische sowie damit zusammenhängende wissenschaftliche Zwecke und Forschungszwecke und
f) die Verwendung von Radioisotopen für die Energiegewinnung in Weltraumgegenständen.
Art. 2 Benachrichtigung und Informationen
Im Fall eines Unfalls nach Artikel 1 (im folgenden «nuklearer Unfall» genannt) wird der in jenem Artikel bezeichnete Vertragsstaat
a) sofort unmittelbar oder über die Internationale Atomenergie‑Organisation (im folgenden «Organisation» genannt) die Staaten, die, wie in Artikel 1 ausgeführt, physisch betroffen sind oder sein können, sowie die Organisation von dem nuklearen Unfall, seiner Art, dem Zeitpunkt seines Eintretens und gegebenenfalls dem genauen Unfallort benachrichtigen und
b) umgehend den unter Buchstabe a bezeichneten Staaten unmittelbar oder über die Organisation sowie der Organisation die verfügbaren sachdienlichen Informationen nach Artikel 5 übermitteln, damit Strahlungsfolgen in diesen Staaten auf ein Mindestmass beschränkt werden.
Art. 3 Andere nukleare Unfälle
Um die Strahlungsfolgen auf ein Mindestmass zu beschränken, können die Vertragsstaaten auch bei anderen als den in Artikel 1 bezeichneten nuklearen Unfällen eine Benachrichtigung vornehmen.
Art. 4 Aufgaben der Organisation
Die Organisation
a) informiert sofort die Vertragsstaaten, Mitgliedstaaten, anderen Staaten, die, wie in Artikel 1 ausgeführt, physisch betroffen sind oder sein können, und in Betracht kommenden internationalen zwischenstaatlichen Organisationen (im folgenden «internationale Organisationen» genannt) über eine nach Artikel 2 Buchstabe a erhaltene Benachrichtigung und
b) übermittelt umgehend jedem Vertragsstaat, jedem Mitgliedstaat oder jeder in Betracht kommenden internationalen Organisation auf Ersuchen die nach Artikel 2 Buchstabe b erhaltenen Informationen.
Art. 5 Zu übermittelnde Informationen
(1) Die nach Artikel 2 Buchstabe b zu übermittelnden Informationen umfassen folgende Angaben, soweit der benachrichtigende Vertragsstaat darüber verfügt:
a) den Zeitpunkt, gegebenenfalls den genauen Ort und die Art des nuklearen Unfalls;
b) die betroffene Anlage oder Tätigkeit;
c) die vermutete oder festgestellte Ursache und die vorhersehbare Entwicklung des nuklearen Unfalls in Bezug auf die grenzüberschreitende Freisetzung radioaktiver Stoffe;
d) die allgemeinen Merkmale der radioaktiven Freisetzung einschliesslich, soweit durchführbar und angemessen, der Art, wahrscheinlichen physikalischen und chemischen Form und der Menge, Zusammensetzung und effektiven Höhe der radioaktiven Freisetzung;
e) Informationen über die derzeitigen und vorhergesagten meteorologischen und hydrologischen Bedingungen, die zur Vorhersage der grenzüberschreitenden Freisetzung der radioaktiven Stoffe erforderlich sind;
f) die Ergebnisse der Umweltüberwachung in Bezug auf die grenzüberschreitende Freisetzung der radioaktiven Stoffe;
g) die ergriffenen oder geplanten Schutzmassnahmen ausserhalb der betroffenen Anlage;
h) die Vorhersage über das Verhalten der radioaktiven Freisetzung im weiteren Verlauf.
(2) Diese Informationen werden in angemessenen Zeitabständen durch weitere sachdienliche Informationen über die Entwicklung der Notfallsituation einschliesslich ihres vorhersehbaren oder tatsächlichen Endes ergänzt.
(3) Die nach Artikel 2 Buchstabe b erhaltenen Informationen dürfen uneingeschränkt verwendet werden, sofern der benachrichtigende Vertragsstaat sie nicht vertraulich übermittelt hat.
Art. 6 Konsultationen
Ein Vertragsstaat, der Informationen nach Artikel 2 Buchstabe b übermittelt, entspricht, soweit es vernünftigerweise durchführbar ist, umgehend einem Ersuchen eines betroffenen Vertragsstaats um weitere Informationen oder Konsultationen mit dem Ziel, die Strahlungsfolgen in diesem Staat auf ein Mindestmass zu beschränken.
Art. 7 Zuständige Behörden und Kontaktstellen
(1) Jeder Vertragsstaat gibt der Organisation und den anderen Vertragsstaaten, unmittelbar oder über die Organisation, seine zuständigen Behörden und seine für die Übermittlung und Entgegennahme der in Artikel 2 bezeichneten Benachrichtigung und Informationen verantwortliche Kontaktstelle bekannt. Diese Kontaktstellen und eine Anlaufstelle in der Organisation sind ständig erreichbar.
(2) Jeder Vertragsstaat teilt der Organisation umgehend jede sich etwa ergebende Änderung der in Absatz 1 bezeichneten Informationen mit.
(3) Die Organisation führt ein auf dem neuesten Stand gehaltenes Verzeichnis dieser staatlichen Behörden und Kontaktstellen sowie der Kontaktstellen der in Betracht kommenden internationalen Organisationen und stellt es den Vertragsstaaten und Mitgliedstaaten sowie den in Betracht kommenden internationalen Organisationen zur Verfügung.
Art. 8 Hilfeleistung für Vertragsstaaten
Die Organisation untersucht in Übereinstimmung mit ihren Statuten² und auf Ersuchen eines Vertragsstaats, der selbst keine nuklearen Tätigkeiten ausübt und an einen Staat angrenzt, der ein aktives Nuklearprogramm hat, aber nicht Vertragsstaat ist, die Durchführbarkeit und Einrichtung eines geeigneten Systems zur Strahlungsüberwachung, um das Erreichen der Ziele dieses Übereinkommens zu erleichtern.
² SR 0.732.011
Art. 9 Zweiseitige und mehrseitige Vereinbarungen
Zur Förderung ihrer gegenseitigen Interessen können Vertragsstaaten, wenn es als zweckmässig erachtet wird, den Abschluss zweiseitiger oder mehrseitiger Vereinbarungen in Erwägung ziehen, die den Gegenstand dieses Übereinkommens betreffen.
Art. 10 Verhältnis zu anderen internationalen Übereinkünften
Dieses Übereinkommen berührt nicht die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten aus bestehenden internationalen Übereinkünften betreffend die durch das Übereinkommen erfassten Angelegenheiten oder aus künftigen internationalen Übereinkünften, die in Übereinstimmung mit Ziel und Zweck des Übereinkommens geschlossen werden.
Art. 11 Beilegung von Streitigkeiten
(1) Im Fall einer Streitigkeit zwischen Vertragsstaaten oder zwischen einem Vertragsstaat und der Organisation über die Auslegung oder Anwendung dieses Übereinkommens konsultieren die Streitparteien einander mit dem Ziel, die Streitigkeit durch Verhandlungen oder durch jedes andere für sie annehmbare friedliche Mittel der Beilegung von Streitigkeiten beizulegen.
(2) Kann eine Streitigkeit dieser Art zwischen Vertragsstaaten nicht binnen eines Jahres nach dem in Absatz 1 vorgesehenen Ersuchen um Konsultation beigelegt werden, so wird sie auf Ersuchen einer der Streitparteien einem Schiedsverfahren unterworfen oder dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung unterbreitet. Wird eine Streitigkeit einem Schiedsverfahren unterworfen und können sich die Streitparteien nicht binnen sechs Monaten nach dem Zeitpunkt des Ersuchens über die Ausgestaltung des Schiedsverfahrens einigen, so kann eine Partei den Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs oder den Generalsekretär der Vereinten Nationen ersuchen, einen oder mehrere Schiedsrichter zu bestellen. Widersprechen Ersuchen der Streitparteien einander, so hat das an den Generalsekretär der Vereinten Nationen gerichtete Ersuchen Vorrang.
(3) Ein Staat kann bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung dieses Übereinkommens oder dem Beitritt zu diesem erklären, dass er sich durch eines oder durch beide der in Absatz 2 vorgesehenen Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten nicht als gebunden betrachtet. Die anderen Vertragsstaaten sind gegenüber einem Vertragsstaat, für den eine solche Erklärung in Kraft ist, durch ein in Absatz 2 vorgesehenes Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten nicht gebunden.
(4) Ein Vertragsstaat, der eine Erklärung nach Absatz 3 abgegeben hat, kann diese jederzeit durch eine an den Depositar gerichtete Notifikation zurücknehmen.
Art. 12 Inkrafttreten
(1) Dieses Übereinkommen liegt für alle Staaten und Namibia, vertreten durch den Rat der Vereinten Nationen für Namibia, vom 26. September 1986 am Sitz der Internationalen Atomenergie‑Organisation in Wien und vom 6. Oktober 1986 am Sitz der Vereinten Nationen in New York bis zu seinem Inkrafttreten oder für die Dauer von zwölf Monaten, falls diese Zeitspanne länger ist, zur Unterzeichnung auf.
(2) Jeder Staat und Namibia, vertreten durch den Rat der Vereinten Nationen für Namibia, können ihre Zustimmung, durch dieses Übereinkommen gebunden zu sein, entweder durch Unterzeichnung oder durch Hinterlegung einer Ratifikations‑, Annahme‑ oder Genehmigungsurkunde nach einer unter Vorbehalt der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung erfolgten Unterzeichnung oder durch Hinterlegung einer Beitrittsurkunde zum Ausdruck bringen. Die Ratifikations‑, Annahme‑, Genehmigungs‑ oder Beitrittsurkunden werden beim Depositar hinterlegt.
(3) Dieses Übereinkommen tritt 30 Tage nach dem Zeitpunkt in Kraft, zu dem drei Staaten ihre Zustimmung, gebunden zu sein, zum Ausdruck gebracht haben.
(4) Für jeden Staat, der nach Inkrafttreten dieses Übereinkommens seine Zustimmung zum Ausdruck bringt, durch das Übereinkommen gebunden zu sein, tritt es 30 Tage nach dem Zeitpunkt in Kraft, zu dem die Zustimmung zum Ausdruck gebracht wurde.
(5) a) Dieses Übereinkommen steht internationalen Organisationen und von souveränen Staaten gebildeten Organisationen der regionalen Integration, die für das Aushandeln, den Abschluss und die Anwendung internationaler Übereinkünfte betreffend die durch das Übereinkommen erfassten Angelegenheiten zuständig sind, nach Massgabe dieses Artikels zum Beitritt offen.
b) Bei Angelegenheiten, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, handeln diese Organisationen bei Ausübung der Rechte und Erfüllung der Pflichten, die dieses Übereinkommen den Vertragsstaaten zuweist, in eigenem Namen.
c) Bei der Hinterlegung ihrer Beitrittsurkunde übermittelt eine solche Organisation dem Depositar eine Erklärung, in der sie den Umfang ihrer Zuständigkeit betreffend die durch dieses Übereinkommen erfassten Angelegenheiten angibt.
d) Eine solche Organisation besitzt keine zusätzliche Stimme neben den Stimmen ihrer Mitgliedstaaten.
Art. 13 Vorläufige Anwendung
Ein Staat kann bei der Unterzeichnung oder zu einem späteren Zeitpunkt, bevor dieses Übereinkommen für ihn in Kraft tritt, erklären, dass er das Übereinkommen vorläufig anwenden wird.
Art. 14 Änderungen
(1) Ein Vertragsstaat kann Änderungen dieses Übereinkommens vorschlagen. Der Änderungsvorschlag wird dem Depositar vorgelegt, der ihn sofort an alle anderen Vertragsstaaten weiterleitet.
(2) Ersucht die Mehrheit der Vertragsstaaten den Depositar um Einberufung einer Konferenz zur Prüfung der Änderungsvorschläge, so lädt der Depositar alle Vertragsstaaten zur Teilnahme an dieser Konferenz ein, die frühestens 30 Tage nach Versenden der Einladungen beginnt. Jede auf der Konferenz mit Zweidrittelmehrheit aller Vertragsstaaten angenommene Änderung wird in einem Protokoll festgehalten, das für alle Vertragsstaaten in Wien und New York zur Unterzeichnung aufliegt.
(3) Das Protokoll tritt 30 Tage nach dem Zeitpunkt in Kraft, zu dem drei Staaten ihre Zustimmung, zum Ausdruck gebracht haben, durch das Protokoll gebunden zu sein. Für jeden Staat, der nach Inkrafttreten des Protokolls seine Zustimmung zum Ausdruck bringt, durch das Protokoll gebunden zu sein, tritt es 30 Tage nach dem Zeitpunkt in Kraft, zu dem die Zustimmung zum Ausdruck gebracht wurde.
Art. 15 Kündigung
(1) Ein Vertragsstaat kann dieses Übereinkommen durch eine an den Depositar gerichtete schriftliche Notifikation kündigen.
(2) Die Kündigung wird ein Jahr nach Empfang der Notifikation durch den Depositar wirksam.
Art. 16 Depositar
(1) Der Generaldirektor der Organisation ist der Depositar dieses Übereinkommens.
(2) Der Generaldirektor der Organisation notifiziert den Vertragsstaaten und allen anderen Staaten umgehend
a) jede Unterzeichnung dieses Übereinkommens oder eines Änderungsprotokolls;
b) jede Hinterlegung einer Ratifikations‑, Annahme‑, Genehmigungs‑ oder Beitrittsurkunde zu diesem Übereinkommen oder einem Änderungsprotokoll;
c) jede Erklärung oder Rücknahme einer Erklärung in Übereinstimmung mit Artikel 11;
d) jede Erklärung über die vorläufige Anwendung dieses Übereinkommens in Übereinstimmung mit Artikel 13;
e) das Inkrafttreten dieses Übereinkommens und jeder Änderung desselben und
f) jede Kündigung nach Artikel 15.
Art. 17 Verbindliche Wortlaute und beglaubigte Abschriften
Die Urschrift dieses Übereinkommens, dessen arabischer, chinesischer, englischer, französischer, russischer und spanischer Wortlaut gleichermassen verbindlich sind, wird beim Generaldirektor der Internationalen Atomenergie‑Organisation hinterlegt; dieser übermittelt den Vertragsstaaten und allen anderen Staaten beglaubigte Abschriften.
Unterschriften
Zu Urkund dessen haben die gehörig befugten Unterzeichneten dieses Übereinkommen, das nach Artikel 12 Absatz 1 zur Unterzeichnung aufliegt, unterschrieben.
Angenommen von der Generalkonferenz der Internationalen Atomenergie‑Organisation auf einer Sondertagung in Wien am 26. September 1986.
(Es folgen die Unterschriften)