Parlamentarische Initiative Behandlung von kantonalen oder kommunalen Solidaritätsbeiträgen gemäss AFZFG Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 11. April 2024 Stellungnahme des Bunderates
Parlamentarische Initiative Behandlung von kantonalen oder kommunalen Solidaritätsbeiträgen gemäss AFZFG Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 11. April 2024 Stellungnahme des Bunderates
vom 22. Mai 2024
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Zum Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 11. April 2024 ¹ betreffend die parlamentarische Initiative «Behandlung von kantonalen oder kommunalen Solidaritätsbeiträgen gemäss AFZFG» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
22. Mai 2024 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Stellungnahme
¹ BBl 2024 953
1 Ausgangslage
Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) beschloss an ihrer Sitzung vom 26. Oktober 2023 einstimmig die parlamentarische Initiative 23.472 «Behandlung von kantonalen oder kommunalen Solidaritätsbeiträgen gemäss AFZFG». Diese verlangt eine Änderung des Bundesgesetzes vom 30. September 2016 ² über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG). Durch eine Ergänzung dieses Gesetzes sollen allfällige Solidaritätsbeiträge von Kantonen und Gemeinden, wie sie namentlich von der Stadt Zürich gewährt werden, in Bezug auf Artikel 4 Absatz 6 AFZFG dem Solidaritätsbeitrag des Bundes gleichgestellt werden. Dadurch soll erreicht werden, dass diese Beiträge den Empfängerinnen und Empfängern weder in steuer- noch schuldbetreibungsrechtlicher Hinsicht zum Nachteil gereichen und es für sie auch nicht zu Kürzungen von Leistungen aus Sozialversicherungen oder aus der Sozialhilfe führt.
An ihrer Sitzung vom 30. Januar 2024 stimmte die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates der parlamentarischen Initiative einstimmig zu.
Die RK-N erteilte daraufhin ihrem Sekretariat und dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement den Auftrag, ihr einen Vorentwurf samt Berichtsentwurf zu unterbreiten. Nebst der Umsetzung des Anliegens der Gleichbehandlung von kantonalen und kommunalen Solidaritätsbeiträgen mit dem Beitrag des Bundes wurde die Gelegenheit auch genutzt, um den Grundsatz neu explizit im Gesetz zu verankern, wonach der Solidaritätsbeitrag auch Opfern, für welche eine Beistandschaft oder eine andere erwachsenenschutzrechtliche Massnahme besteht, möglichst zur freien Verfügung stehen soll.
Diesen Entwurf beriet die RK-N an ihrer Sitzung vom 11. April 2024 und nahm ihn einstimmig an und verabschiedete den dazugehörigen erläuternden Bericht. Gleichzeitig überwies sie den Entwurf und den Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme.
² SR 211.223.13
2 Stellungnahme des Bundesrates
2.1 Beurteilung des Entwurfs der Kommission
Der Bundesrat schenkt dem Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 grosse Beachtung. Er hat sich in den vergangenen Jahren sehr dafür engagiert, dass dieses dunkle Kapitel der jüngeren Sozialgeschichte der Schweiz rasch und umfassend ausgeleuchtet und aufgearbeitet werden kann. Das AFZFG wurde mit breiter Unterstützung aller massgeblichen politischer Kräfte rasch ausgearbeitet, vom Parlament beschlossen und auf den 1. April 2017 in Kraft gesetzt. Als staatliche Geste der Wiedergutmachung sieht das Gesetz einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25 000 Franken pro Opfer vor. Der Bundesrat hat seither mehrere Anpassungen des AFZFG unterstützt, welche im Zusammenhang mit dem Solidaritätsbeitrag des Bundes stehen: Aufhebung der ursprünglich für die Einreichung der Gesuche für den Solidaritätsbeitrag geltenden Frist ³ , Nichtberücksichtigung des Solidaritätsbeitrages bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen ⁴ und der Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose ⁵ .
Aus dem höchstpersönlichen Charakter des Anspruchs auf den Solidaritätsbeitrag ergibt sich, dass dieser primär für die Befriedigung besonderer persönlicher Bedürfnisse zur Verfügung stehen soll und somit insbesondere nicht für die Bestreitung des laufenden Lebensunterhaltes oder zur Tilgung von Schulden der Opfer verwendet werden muss. Artikel 4 Absatz 6 AFZFG sieht überdies vor, dass die Ausrichtung des Solidaritätsbeitrages des Bundes nicht dazu führen darf, dass dieser aufgrund geltender steuer-, schuldbetreibungs-, sozialhilfe- und sozialversicherungsrechtlicher Normen geschmälert wird. Er unterliegt somit nicht der Einkommenssteuer, ist unpfändbar und darf bei der Berechnung von Sozialhilfe-, Ergänzungs- und Überbrückungs-leistungen für ältere Arbeitslose auch nicht berücksichtigt werden.
Die Stadt Zürich hat als erste Gemeinde der Schweiz am 1. September 2023 einen eigenen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25 000 Franken eingeführt, wobei mit ca. 300 Gesuchen gerechnet wird. ⁶ Offen ist, ob und gegebenenfalls wann andere Gemeinwesen diesem Beispiel folgen werden. Im Interesse der Opfer erachtet der Bundesrat eine Gleichbehandlung solcher Solidaritätsbeiträge mit dem Beitrag des Bundes in den Bereichen Steuern, Schuldbetreibung, Sozialversicherungen und Sozialhilfe als sinnvoll und begrüsst den von der RK-N vorgeschlagenen neuen Artikel 4 Absatz 7 AFZFG. Gleiches gilt für die Klarstellung, dass die in diesen Bereichen vorgesehenen Privilegierungen nach dem Tod des Opfers nicht mehr gelten (neuer Art. 4 Abs. 8 AFZFG); für den Solidaritätsbeitrag des Bundes findet sich eine entsprechende Regelung heute in der Verordnung vom 15. Februar 2017 ⁷ zum AFZFG, künftig soll dies sowohl für den Solidaritätsbeitrag des Bundes als auch für kantonale oder kommunale Solidaritätsbeiträge auf Gesetzesstufe geregelt sein.
Da bis zum allfälligen Inkrafttreten der neuen Bestimmungen von der Stadt Zürich bereits Solidaritätsbeiträge an Opfer ausbezahlt worden sind, sollen allenfalls bereits erlittene finanzielle Nachteile wieder rückgängig gemacht oder ausgeglichen werden können. Aus den von der RK-N im Bericht aufgeführten Gründen erscheint es dem Bundesrat nachvollziehbar, dass ausnahmsweise eine rückwirkende Anwendung von Artikel 4 Absätze 7 und 8 AFZFG für die Bereiche Steuern, Sozialversicherungen und Sozialhilfe vorgesehen wird und als praktikabel eingestuft wird (vgl. die Übergangsbestimmung in Art. 21 c AFZFG).
Der Bundesrat unterstützt zudem den Vorschlag der RK-N, den Grundsatz neu explizit im Gesetz zu erwähnen, wonach der Solidaritätsbeitrag auch Opfern, für welche eine Beistandschaft oder eine andere erwachsenenschutzrechtliche Massnahme besteht, möglichst zur freien Verfügung stehen soll (Art. 4 Abs. 6 Bst. d AFZFG). Auf diese Weise können in der Vergangenheit immer wieder aufgetretene Missverständnisse und Komplikationen in der Vollzugspraxis zukünftig vermieden werden.
³ Vgl. parlamentarische Initiative 19.471 vom 21.6.2019 «Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Fristverlängerung».
⁴ Vgl. parlamentarische Initiative 19.476 vom 3.9.2019 «Gewährleistung der Ergänzungsleistungen ehemaliger Verdingkinder und Administrativversorgter».
⁵ Vgl. Bundesgesetz vom 19.6.2020 über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose ( SR 837.2 ), in Kraft seit 1.7.2021.
⁶ Vgl.
www.stadt-zuerich.ch
> Beratung und Unterstützung > Finanzielle Unterstützung > Kommunaler Solidaritätsbeitrag.
⁷ SR 211.223.131
2.2 Finanzielle Auswirkungen auf Bund und Kantone
Gemäss dem Entwurf sollen neu auch Solidaritätsbeiträge der Kantone und Gemeinden nicht der Einkommensteuer unterliegen, unpfändbar sein und bei der Bemessung von Sozialversicherungsleistungen (Ergänzungsleistungen und Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose) und Sozialhilfeleistungen nicht berücksichtigt werden dürfen. Entsprechend entstehen in diesen Bereichen sowohl dem Bund als auch den Kantonen gewisse Ausfälle oder es entgehen ihnen gewisse Einsparungen, weil sie auf eine Reduktion von Leistungen an einen Teil der Opfer verzichten müssen. Wie die RK-N nachvollziehbarerweise ausführt, ist eine einigermassen verlässliche Schätzung der finanziellen Auswirkungen nicht möglich. Einerseits ist unklar, wie hoch dereinst die Anzahl der ausbezahlten kantonalen und kommunalen Solidaritätsbeiträge sein wird. Andererseits kann auch über die finanzielle Situation der anspruchsberechtigten Opfer nur spekuliert werden. Der Bundesrat erachtet aber die Ausführungen im Bericht der RK-N als nachvollziehbar, wonach die finanziellen Auswirkungen auf Bund und Kantone als nicht substanziell einzustufen sind, da sich diese auf die verschiedenen Gemeinwesen und auf mehrere Jahre verteilen und sich im Einzelfall ohnehin meistens auf einen Bruchteil des Solidaritätsbeitrags beschränken.
Der Bundesrat hat im Übrigen bereits in seiner Botschaft vom 4. Dezember 2015 ⁸ zum AFZFG zum Ausdruck gebracht, dass der Staat den Opfern nicht mit der einen Hand den Solidaritätsbeitrag geben solle, um ihn dann mit der anderen Hand sogleich wieder «wegzunehmen», wenn es ihm mit dem Anliegen der Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts ernst sei. Dies soll nach Auffassung des Bundesrates auch in Bezug auf die kantonalen und kommunalen Solidaritätsbeiträge gelten. Es sollte deshalb von untergeordneter Bedeutung sein, wie hoch allfällige Mindereinnahmen und entgangene Einsparungen für die betroffenen Gemeinwesen sein werden.
⁸ BBl 2016 101 , 120
3 Antrag des Bundesrates
Der Bundesrat beantragt Eintreten und Zustimmung zum Entwurf der Kommission.
Bundesrecht
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