Parlamentarische Initiative StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 22. Februar 2024 Stellungnahme des Bundesrates
Parlamentarische Initiative StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 22. Februar 2024 Stellungnahme des Bundesrates
vom 15. Mai 2024
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Zum Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 22. Februar 2024 ¹ betreffend die parlamentarische Initiative 19.433 «StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
15. Mai 2024 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Stellungnahme
¹ BBl 2024 751
1 Ausgangslage
1.1 Entstehungsgeschichte
Am 11. Oktober 2017 unterbreitete der Bundesrat den Räten die Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen. ² Die Vorlage schlug Änderungen im Zivil- und Strafrecht vor mit dem Ziel, Opfer von häuslicher Gewalt und Stalking besser zu schützen. So sah sie insbesondere eine neue Bestimmung im Zivilgesetzbuch (ZGB) ³ vor, damit wegen Gewalt, Drohung oder Nachstellung angeordnete Rayon- und Kontaktverbote elektronisch überwacht werden können (Art. 28 c ZGB). In der Vernehmlassung zu dieser Vorlage war gefordert worden, eine Strafnorm zum Stalking in das Strafgesetzbuch (StGB) ⁴ aufzunehmen. ⁵ Der Bundesrat gelangte in seiner Botschaft jedoch zum Schluss, dass auf die Einführung einer solchen Strafnorm zu verzichten sei. Denn die einzelnen Tathandlungen des Stalkings könnten aufgrund verschiedener geltender Strafnormen verfolgt und bestraft werden; zudem erlaube die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Nötigung, mehrere Handlungen, die diese Strafschwelle nicht erreichten, unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zu würdigen und als Nötigung zu bestrafen, wenn die erforderliche Zwangsintensität gegeben sei. ⁶ Eine spezifische Strafnorm zum Stalking könne dagegen in verschiedener Hinsicht zu Problemen führen. Die Verstärkung des zivilrechtlichen Schutzes, gerade die elektronische Überwachung von Rayon- und Kontaktverboten, könne dem Opfer direkter helfen und auch die Beweissituation massgeblich verbessern. ⁷
Bei der Beratung der Vorlage am 30. August 2018 diskutierte die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) die Frage der Notwendigkeit einer eigenständigen Strafnorm eingehend. Um die Vorlage nicht zu verzögern, verzichtete sie darauf, ihrem Rat in der laufenden Beratung einen Antrag zu unterbreiten. Sie beauftragte die Verwaltung jedoch, einen Bericht zur Frage der Kodifizierung einer Strafnorm zum Stalking zu verfassen. ⁸
Gestützt auf diesen Bericht reichte die RK-N am 3. Mai 2019 die parlamentarische Initiative 19.433 «StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen» ein. Gemäss deren Wortlaut sollte Stalking im Rahmen bestehender Tatbestände (Drohung und Nötigung) explizit unter Strafe gestellt werden. Die ständerätliche Schwesterkommission stimmte dem Anliegen am 29. Oktober 2019 zu. Die RK-N prüfte verschiedene Möglichkeiten zur Umsetzung der Kommissionsinitiative und entschied sich im Zuge der Arbeiten dafür, das Verhalten nicht im Rahmen bestehender Tatbestände für strafbar zu erklären, sondern eine eigenständige Strafnorm zu Stalking bzw. zur Nachstellung einzuführen. ⁹ Am 27. April 2023 nahm die RK-N den entsprechenden Vorentwurf in der Gesamtabstimmung mit 22 zu 0 Stimmen an.
Das Vernehmlassungsverfahren zum Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes vor Nachstellung dauerte vom 26. Mai bis zum 16. September 2023. 1⁰ Fast alle Teilnehmenden begrüssten die Vorlage im Grundsatz. Dabei fand grosse Zustimmung, dass eine eigenständige Strafnorm eingeführt werden soll. Was die konkrete Ausgestaltung und Formulierung der Strafnorm betrifft, machten aber viele Teilnehmende Vorbehalte und zum Teil erhebliche Bedenken geltend. Abgelehnt wurde die Vorlage von einer politischen Partei und zwei Organisationen. Nach eingehender Diskussion der verschiedenen Fragen entschied die RK-N, die Formulierung des Vorentwurfs im Wesentlichen beizubehalten. An ihrer Sitzung vom 22. Februar 2024 nahm sie den vorliegenden Entwurf in der Gesamtabstimmung mit 22 zu 2 Stimmen an.
Mit Schreiben vom 15. März 2024 lud die RK-N den Bundesrat ein, gestützt auf Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 1¹ (ParlG) bis zum 24. Mai 2024 zur Vorlage Stellung zu nehmen.
² BBl 2017 7307
³ SR 210
⁴ SR 311.0
⁵ Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen, Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens vom 17.Juli 2017, abrufbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2015 > EJPD (Stand: 28.3.2024), Ziff. 6.3.1.1.
⁶ BGE 129 IV 262, bestätigt in BGE 141 IV 437 sowie in weiteren Urteilen des Bundesgerichts, zuletzt in 6B_122/2021 vom 5.12.2022; 6 B_598/2022 vom 9. März 2023 und 6 B_808/2022 vom 8. Mai 2023.
⁷ BBl 2017 7307 , Ziff. 3.3.6.
⁸ Bericht des Bundesamtes für Justiz zur Frage der Kodifizierung eines Straftatbestands «Stalking» vom 12. April 2019, abrufbar unter: www.parlament.ch > Geschäft 19.433 > weiterführende Unterlagen (Stand: 28.3.2024).
⁹ 19.433 Parlamentarische Initiative, StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen, Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 27. April 2023, abrufbar unter: www.parlament.ch > Geschäft 19.433 > Vernehmlassung oder www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2023 > Parl. (Stand: 28.03.2024), Ziff. 3.2.1 und 5 .
1⁰ Zu den Ergebnissen des Vernehmlassungsverfahrens siehe: 19.433 Parlamentarische Initiative der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates, StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen, Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens vom 25. Oktober 2023, ergänzte Version vom 15. Februar 2024, abrufbar unter: www.parlament.ch > Geschäft 19.433 > Vernehmlassung oder www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2023 > Parl. (Stand: 28.3.2024).
1¹ SR 171.10
1.2 Vorschlag der Kommission
Trotz der zahlreichen Vorbehalte in der Vernehmlassung hat sich die RK-N entschieden, die Ausgestaltung der neuen Strafnorm im Wesentlichen beizubehalten. Nach Artikel 181 b E-StGB macht sich der Nachstellung strafbar, wer jemanden beharrlich verfolgt, belästigt oder bedroht und ihn dadurch in seiner Lebensgestaltungsfreiheit beschränkt. Die Strafdrohung lautet auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
Die RK-N hat entschieden, die Tat grundsätzlich als Antragsdelikt auszugestalten. Es soll dem Opfer überlassen sein, über die Strafverfolgung zu entscheiden (Art. 181 b Abs. 1 E-StGB). Erfolgt die Tat aber im Rahmen einer Paarbeziehung, so wird sie nach Absatz 2 von Amtes wegen verfolgt.
Die neue Strafnorm soll in analoger Formulierung in Artikel 150 a des Militärstrafgesetzes vom 13. Juni 1927 ¹2 (MStG) aufgenommen werden.
Die Nachstellung in Paarbeziehungen (Art. 181 b Abs. 2 E-StGB und 150 a Abs. 2 E-MStG) wird zudem in die Deliktskataloge nach den Artikeln 55 a StGB und 46 b MStG aufgenommen. Diese Bestimmungen erlauben es, das Strafverfahren auf Gesuch des Opfers zu sistieren, falls dies zu einer Stabilisierung oder Verbesserung seiner Situation führen kann, und nach Ablauf einer Frist von sechs Monaten einzustellen. Zudem soll bei der Strafverfolgung wegen Nachstellung eine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs möglich sein und die neue Strafnorm daher in den Deliktskatalogen nach Artikel 269 Absatz 2 der Strafprozessordnung (StPO) ¹3 und Artikel 70 Absatz 2 des Militärstrafprozesses vom 23. März 1979 ¹4 (MStP) erscheinen.
Eine Minderheit der RK-N sieht keinen grundsätzlichen Handlungsbedarf für eine Erweiterung des strafrechtlichen Instrumentariums. Sie ist der Ansicht, dass es die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Nötigung bereits heute erlaubt, die für das Stalking typischen Verhaltensweisen zu bestrafen. Sie befürchtet insbesondere, dass die neue Strafnorm zu weit gefasst ist und damit die Gefahr besteht, dass sozialadäquates Verhalten kriminalisiert wird.
¹2 SR 321.0
¹3 SR 312.0
¹4 SR 322.1
2 Stellungnahme des Bundesrates
Gesetzgeberischer Handlungsbedarf
Der Bundesrat hat sich bisher gegen die Einführung einer Strafnorm zur Nachstellung ausgesprochen (vgl. Ziff. 1.1). Das Ergebnis der Vernehmlassung lässt allerdings ein Bedürfnis erkennen, die Nachstellung ausdrücklich unter Strafe zu stellen und damit auch die symbolische Wirkung zu verstärken. Als positiv erachtet der Bundesrat, dass der neue Tatbestand eine Mehrheit von Handlungen voraussetzt, die insgesamt den verpönten Erfolg bewirken. Dadurch erfasst er primär jenes Verhalten, dessen Einzelhandlungen für sich allein genommen nicht strafbar sind, das in seiner Gesamtheit aber strafwürdig ist. Mit einer eigenständigen Strafnorm lassen sich die Tatbestandselemente genauer umschreiben, ohne dass sich die Formulierung in einen bestehenden Tatbestand einfügen müsste. So kann insbesondere eine auf den vorausgesetzten Erfolg zugeschnittene Rechtsprechung entwickelt werden. In diesem Sinne unterstützt der Bundesrat die Vorschläge der RK-N.
Der Bundesrat möchte aber noch einmal darauf hinweisen, dass mit der neuen Strafnorm nicht allzu hohe Erwartungen verbunden werden dürfen. Verschiedene Schwierigkeiten, die sich bei der Bestrafung der Nachstellung nach geltendem Recht stellen, werden sich auch mit einer ausdrücklichen Strafnorm nicht lösen lassen. Insbesondere wird der Beweis der einzelnen Nachstellungshandlungen nach wie vor aufwendig sein. Weil der Tatbestand notwendigerweise unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, werden sich in der Praxis Schwierigkeiten bei der Subsumtion ergeben. Zudem dürfte die Strafnorm zu heiklen Abgrenzungsschwierigkeiten mit geltenden Tatbeständen führen.
Während der Nutzen einer ausdrücklichen Strafnorm zur Nachstellung somit relativiert werden muss, wird mit deren Einführung voraussichtlich ein grosser Mehraufwand für die kantonalen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte entstehen. ¹5 Zumindest zu Beginn und bei Sachverhalten, deren strafrechtliche Relevanz heute fraglich ist, kann sie als Einladung verstanden werden, Strafantrag zu stellen bzw. Anzeige zu erheben. Sofern man davon ausgehen kann, dass die Verfahren (und Verurteilungen) wegen Nachstellung eine mögliche Gewaltspirale frühzeitig zu durchbrechen vermögen, sind diesem Mehraufwand jedoch Einsparungen bei späteren Verfahren und Folgekosten wegen Gewalt gegenüberzustellen. Für Nachstellung in Paarbeziehungen müssen die Kantone gestützt auf die Artikel 55 a Absatz 2 StGB und 46 b Absatz 2 MStG zudem Lernprogramme zur Verfügung stellen, die während der Sistierung angeordnet werden können. Diese müssen dem Profil stalkender Personen Rechnung tragen und womöglich im Einzelsetting angeboten werden. ¹6 Gerade dies wird zu Mehrkosten führen.
Randtitel in der französischen Fassung
Der Randtitel in der französischen Fassung lautet «Harcèlement obsessionnel». In der Vernehmlassung war dies umstritten. Während einige den vorgeschlagenen Randtitel ausdrücklich begrüssten, waren gleich viele Vernehmlassungsteilnehmende der Auffassung, dass dieser (lediglich) «Harcèlement» lauten sollte. ¹7
Dies beantragt auch eine Minderheit II der RK-N: Mit dem Adjektiv «obsessionnel» werde eine Divergenz zum Tatbestand geschaffen. Denn dieser enthalte nicht das Element der «Besessenheit» («obsession»), sondern der «Beharrlichkeit» («obstination»). Die Besessenheit sei ein Begriff aus dem pathologischen Bereich. Auch wenn der Randtitel für die Auslegung des Tatbestandes nicht massgebend sei, sollte eine Besessenheit nicht in die strafrechtliche Umschreibung Eingang finden. Dies sei auch im Randtitel der deutschen und italienischen Fassung nicht der Fall. Zudem verwendeten auch Artikel 34 des Übereinkommens des Europarates vom 11. Mai 2011 ¹8 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) und Artikel 28 b f. ZGB lediglich den Begriff «Harcèlement».
Wie die Minderheit II ist der Bundesrat der Auffassung, dass der Randtitel «Harcèlement» lauten sollte. Zwar ist dieser Begriff sehr weit: Er könnte mit «wiederholter Belästigung» übersetzt werden und findet im Zusammenhang mit unterschiedlichen Phänomenen Anwendung. ¹9 Der weite Begriff des Randtitels wird aber durch die Umschreibung des strafbaren Verhaltens im Tatbestand konkretisiert. Ausschlaggebend ist für den Bundesrat, dass auch Artikel 34 der Istanbul-Konvention und Artikel 28 b f. ZGB den Begriff «Harcèlement» verwenden. Es sollte nicht ohne Grund von der Bezeichnung desselben Phänomens in der schweizerischen Rechtsordnung abgewichen werden. Der Bundesrat schliesst sich daher dem Antrag der Minderheit II an und spricht sich dafür aus, in der französischen Fassung den Randtitel der Artikel 181 b E-StGB und 150 a E-MStG bzw. die Bezeichnung der Tat in den Deliktskatalogen nach den Artikeln 55 a Absatz 1 E-StGB und 46 b Absatz 1 E-MStG entsprechend anzupassen.
Tathandlung in der französischen Fassung
Die Tathandlung ist in der französischen Fassung als «traque, harcèle ou menace» formuliert. In der Vernehmlassung traf die Verwendung von «harceler» auf Kritik. 2⁰
Diese Kritik nimmt eine Minderheit der RK-N auf: «Harcèlement (obsessionnel)» sei gleichzeitig der Randtitel und damit der Oberbegriff für das strafbare Verhalten. Derselbe Begriff sei daher zur Umschreibung einer einzelnen Handlung ungeeignet. Das Verb «harceler» enthalte überdies bereits das Element der Wiederholung, die im Tatbestand aber separat genannt sei. Das deutsche Pendant «belästigen» sei weiter und könne sich auf weniger gravierende Verhaltensweisen beziehen. Die Minderheit beantragt entsprechend, die Tathandlung in der französischen Fassung als «traque, importune ou menace» zu formulieren.
Es scheint in der Tat nicht stimmig, «harceler» im Randtitel als Oberbegriff für das strafbare Verhalten, gleichzeitig aber auch zur Bezeichnung einer von mehreren Handlungen im Tatbestand zu verwenden. Dies umso mehr, als die strafrechtliche Erfassung der Nachstellung notwendigerweise erfordert, dass die Tathandlung als tatbestandliche Handlungseinheit konzipiert ist: Das tatbestandsmässige Verhalten setzt faktisch mehrere Einzelhandlungen voraus, die insgesamt zur Strafbarkeit wegen «Harcèlement (obsessionnel)» führen. Der Begriff «harceler» enthält das Element der Wiederholung und sollte daher lediglich im Randtitel erscheinen. Der Bundesrat schliesst sich somit auch hier dem Antrag der Minderheit an und spricht sich dafür aus, in der französischen Fassung die Tathandlung der Artikel 181 b E-StGB und 150 a E-MStG umzuformulieren.
Schwelle des Erfolgs
Mehrere Handlungen, die je für sich genommen rechtmässig sein können, führen zu Strafbarkeit, wenn sie beharrlich verübt und zur Beschränkung der Lebensgestaltungsfreiheit des Opfers führen. Die Grenze zur Strafbarkeit ist im Tatbestand so genau wie möglich zu definieren.
In der Vernehmlassung wurde der unbestimmte Rechtsbegriff der Beschränkung der Lebensgestaltungsfreiheit von vielen als zu vage erachtet. Vereinzelt wurde verlangt, zu dessen näheren Umschreibung eine Ergänzung zu prüfen, wonach die Lebensgestaltungsfreiheit «nicht unerheblich», «unzumutbar» oder «schwerwiegend» beeinträchtigt worden sein muss. 2¹ Eine solche Schwelle kennen auch die Strafnormen des österreichischen und deutschen Rechts. 2²
Der Bericht der RK-N vom 22. Februar 2024 geht davon aus, dass bei der Nachstellung geprüft werden muss, ob das Opfer unzulässig in seiner Lebensgestaltungsfreiheit beschränkt wurde. ²3 Nur Einschränkungen, die über ein bestimmtes, vom Opfer zu erduldendes Mass hinausgehen, sollen zur Strafbarkeit führen. ²4 Dem ist beizupflichten. Nach Auffassung des Bundesrates sollte aber im Tatbestand festgehalten werden, dass das Opfer «auf unzumutbare Weise» in seiner Lebensgestaltungsfreiheit beschränkt werden muss. Mit diesem Erfordernis sollen verhältnismässig geringfügige Eingriffe in die Freiheit des Opfers von der Strafbarkeit ausgenommen und damit die Grenze zur Strafbarkeit etwas konkretisiert werden. Der Bundesrat beantragt, die Formulierung des Erfolgs in den Artikeln 181 b E-StGB und 150 a E-MStG entsprechend anzupassen.
Verfolgung auf Antrag
Die RK-N hat entschieden, die Tat grundsätzlich als Antragsdelikt auszugestalten (Art. 181 b Abs. 1 E-StGB und 150 a Abs. 1 E-MStG). Der Bundesrat erachtet dies als richtig. Wie bei den Ehrverletzungsdelikten (Art. 173 ff. StGB) oder den sexuellen Belästigungen (Art. 198 StGB) soll es auch bei der Nachstellung dem Opfer überlassen sein, über die Strafverfolgung zu entscheiden. Denn letztlich vermag nur das Opfer zu beurteilen, wie sich die Tat auf seine Persönlichkeit auswirkt. Nachstellung weist zudem die Besonderheit auf, dass einzelne Handlungen erst mit der Zeit eine genügende Intensität erreichen, um das Opfer in seiner Lebensgestaltungsfreiheit einzuschränken. Ob und wann dies der Fall ist, kann von aussen kaum beurteilt werden. Aussenstehenden sollte es daher nicht möglich sein, unabhängig vom oder gar gegen den Willen des Opfers ein Strafverfahren in Gang zu setzen. Der Bundesrat gewichtet bei der Nachstellung das Interesse des Opfers, selbstbestimmt über die Strafverfolgung zu entscheiden, als besonders hoch. In der Vernehmlassung wurde angeführt, ein Strafverfahren könne gar eine Form des gesuchten Kontaktes des Stalkers oder der Stalkerin darstellen. ²5 Die Ausgestaltung als Offizialdelikt könnte daher zur paradoxen Situation führen, dass es der Tatperson möglich wäre, dem Opfer einmal mehr ihren Willen aufzuzwingen und es in ein Strafverfahren zu drängen, das es gar nicht will.
Bei der Nachstellung, die während einer Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder hetero- oder homosexuellen Lebenspartnerschaft oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung, Auflösung oder Trennung begangen wurde, sieht der Entwurf die Verfolgung von Amtes wegen vor (Art. 181 b Abs. 2 E-StGB und 150 a Abs. 2 E-MStG). Dies entspricht dem Konzept, das nach geltendem Recht bei der einfachen Körperverletzung (Art. 123 StGB), den (wiederholten) Tätlichkeiten (Art. 126 StGB) und der Drohung (Art. 180 StGB) gilt: Diese Taten werden grundsätzlich auf Antrag verfolgt, bei Begehung im Rahmen einer Paarbeziehung aber von Amtes wegen. ²6
Nach Ansicht des Bundesrates lässt sich dieses Konzept jedoch nicht auf die Nachstellung mit ihren Besonderheiten übertragen. Diese Tat geht in vielen Fällen vom Ex-Partner oder von der Ex-Partnerin aus. ²7 Somit wäre sie bis ein Jahr nach der Scheidung, Auflösung oder Trennung der Beziehung von Amtes wegen zu verfolgen, danach aber auf Antrag. Allerdings ergibt sich der Erfolg der Nachstellung erst aus mehreren Handlungen, die während längerer Zeit begangen werden - u. U. vor und nach der Jahresfrist seit Scheidung, Auflösung oder Trennung der Beziehung. Somit würden sich die Voraussetzungen für die Strafverfolgung während der Begehung ein und desselben Deliktes ändern. Das dürfte in der praktischen Anwendung zu Schwierigkeiten und Unklarheiten führen, die sich zum Nachteil des Opfers auswirken könnten.
Dies spricht dafür, die Strafnorm entweder als reines Offizialdelikt oder als reines Antragsdelikt auszugestalten. Als Offizialdelikt würde die Strafnorm in die Deliktskataloge der Artikel 55 a StGB und 46 b MStG aufgenommen, die eine Sistierung und Einstellung des Verfahrens erlauben. Vorausgesetzt ist ein entsprechender Antrag des Opfers; seit der letzten Revision der Bestimmung liegt der Entscheid über die Sistierung und Einstellung aber bei der Behörde. ²8 Wie erwähnt ist der Bundesrat der Auffassung, dass bei der Nachstellung der Selbstbestimmung des Opfers besonderes Gewicht zukommt. Es soll nicht sein, dass das Opfer ohne oder gegen seinen Willen in ein Strafverfahren verwickelt wird. Die Ausgestaltung als reines Antragsdelikt verdient daher den Vorzug. Somit beantragt der Bundesrat, die Artikel 181 b Absatz 2 E-StGB und 150 a Absatz 2 E-MStG zu streichen und die Strafnorm nicht in die Kataloge der Artikel 55 a Absatz 1 StGB und 46 b Absatz 1 MStG aufzunehmen.
Aufnahme im Militärstrafgesetz
Die Strafnorm in Artikel 150 a E-MStG entspricht jener nach Artikel 181 b E-StGB. Auch hier wird das Delikt gemäss Absatz 1 grundsätzlich auf Antrag verfolgt, gemäss Absatz 2 jedoch von Amtes wegen, wenn es im Rahmen einer Paarbeziehung begangen wurde.
Antragsdelikte sind im MStG selten und unüblich; lediglich die Ehrverletzungsdelikte nach den Artikeln 145 ff. MStG werden auf Antrag verfolgt. So ist beispielsweise die Drohung nach Artikel 180 StGB grundsätzlich ein Antragsdelikt, das aber von Amtes wegen verfolgt wird, wenn es in der Paarbeziehung begangen wurde. Die Drohung nach Artikel 149 MStG ist dagegen ein Offizialdelikt; Absatz 2 sieht in leichten Fällen disziplinarische Bestrafung vor.
Dazu kommt eine Problematik bezüglich möglicher Zuständigkeitskonflikte, die auch in der Vernehmlassung aufgegriffen worden ist: ²9 Da Nachstellung aus mehreren Handlungen über einen längeren Zeitraum besteht, ist denkbar, dass in demselben Fall gewisse Handlungen während des Militärdienstes, andere im zivilen Alltag begangen werden. Artikel 221 MStG ist diesfalls nicht anwendbar, da lediglich eine strafbare Handlung in Frage steht.
Mit Blick darauf, dass Antragsdelikte im MStG unüblich sind und sich Fragen zur Zuständigkeit ergeben können, erscheint es dem Bundesrat sachgerecht, von einer Aufnahme der Strafnorm im MStG abzusehen. Fehlt eine spezifische Strafnorm im MStG, greift Artikel 8 MStG: Die dem Militärstrafrecht unterstehenden Personen bleiben für strafbare Handlungen, die in diesem Gesetz nicht vorgesehen sind, dem zivilen Strafrecht unterworfen. Es entsteht also keine Strafbarkeitslücke, vielmehr werden auch Personen im Militärdienst, die dem MStG unterstehen, nach der Strafnorm im StGB verfolgt und bestraft. Der Bundesrat beantragt daher, keinen neuen Artikel 150 a E-MStG zu schaffen. Entsprechend sind auch die Deliktskataloge der Artikel 46 b Absatz 1 MStG und 70 Absatz 2 MStP nicht zu ergänzen.
¹5 Dies legen die Erfahrungen in Österreich und Deutschland nahe: BBl 2024 751 , 19.433 Parlamentarische Initiative, StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen, Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 22. Februar 2024, Ziff. 6.
¹6 Vernehmlassungsbericht (Fn. 10), Ziff. 5.1.
¹7 Vernehmlassungsbericht (Fn. 10), Ziff. 4.2.
¹8 SR 0.311.35
¹9 «Harcèlement» findet insbesondere auch Anwendung zur Bezeichnung von Mobbing. Die Räte haben der parlamentarischen Initiative 20.445 Suter «Neuer Straftatbestand Cybermobbing» am 6.12.2022 (NR) bzw. 21.12.2023 (SR) Folge gegeben. Es wird nicht nur eine Herausforderung sein, einen französischen Randtitel zu finden, der sich gegenüber Art. 181 b E-StGB abgrenzen lässt. Auch die Abgrenzung des strafbaren Verhaltens der Nachstellung und des Mobbings wird Schwierigkeiten bereiten: vgl. Bericht der RK-N vom 22.2.2024 (Fn. 15), Ziff. 3.3.
2⁰ Vernehmlassungsbericht (Fn. 10), Ziff. 4.3.
2¹ Vernehmlassungsbericht (Fn. 10), Ziff. 4.5.
2² Die Strafnorm des österreichischen Rechts, § 107 a A-StGB, verlangt, dass die Tathandlung geeignet ist, die Lebensführung «unzumutbar» zu beeinträchtigen. Die Strafnorm des deutschen Rechts, § 238 D-StGB, setzte zunächst eine «schwerwiegende» Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, nach den Revisionen von 2017 und 2021 die Eignung zu einer «nicht unerheblichen» Beeinträchtigung der Lebensgestaltung voraus.
²3 Bericht der RK-N vom 22. Februar 2024 (Fn. 15), Ziff. 4.1.2.6 mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Nötigung, BGE 129 IV 262 E. 2.1.
²4 Fischer Thomas, Kommentar Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 69. Aufl., München 2022, § 238 D-StGB N 33.
²5 Vernehmlassungsbericht (Fn. 10), Ziff. 4.7.
²6 Bei Art. 126 StGB müssen die Tätlichkeiten zudem wiederholt begangen worden sein.
²7 30-50 Prozent der Fälle gehen von Ex-Partnerinnen und Ex-Partnern aus: Stalking bekämpfen, Übersicht zu Massnahmen in der Schweiz und im Ausland, Bericht des Bundesrates vom 11. Oktober 2017 in Erfüllung des Postulates Feri 14.4204 vom 11. Dezember 2014, S. 10 f., abrufbar unter: www.parlament.ch > Geschäft 14.4204 > Bericht in Erfüllung des parlamentarischen Vorstosses (Stand: 15.5.2024).
²8 Mit der Revision durch das Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen soll die Verantwortung über die Sistierung und Einstellung nicht wie bis anhin beim Opfer liegen, sondern bei der Behörde. So wird dieses nicht Druckversuchen der Tatperson ausgesetzt und wird dadurch entlastet.
²9 Vernehmlassungsbericht (Fn. 10), Ziff. 5.3.
3 Anträge des Bundesrates
Der Bundesrat beantragt Eintreten und Zustimmung zur Vorlage der RK-N mit folgenden Änderungen:
1. Strafgesetzbuch
Art. 55a Abs. 1 Einleitungssatz
Streichen
Art. 181b
Randtitel
Der Bundesrat unterstützt den Antrag der Minderheit II (betrifft nur den französischen Text).
Abs. 1
Der Bundesrat unterstützt den Antrag der Minderheit (betrifft nur den französischen Text) und beantragt folgende Änderung zum Antrag der Mehrheit:
¹ Wer jemanden beharrlich verfolgt, belästigt oder bedroht und ihn dadurch auf unzumutbare Weise in seiner Lebensgestaltungsfreiheit beschränkt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Abs. 2
Streichen
2. Militärstrafgesetz
Art. 46b Abs. 1 Einleitungssatz und 150a
Streichen
3. Militärstrafprozess
Art. 70 Abs. 2
Streichen
Bundesrecht
Parlamentarische Initiative. StGB-Tatbestände mit Stalking ergänzen. Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 22. Februar 2024. Stellungnahme des Bundesrates
Feedback