BBl 2024 1784
CH - Bundesblatt

Anwendung von Notrecht Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate 23.3438 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 24. März 2023 und 20.3440 Schwander vom 6. Mai 2020

Anwendung von Notrecht Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate 23.3438 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 24. März 2023 und 20.3440 Schwander vom 6. Mai 2020
vom 19. Juni 2024
Übersicht
In den letzten zwei Jahrzenten kam es zu gravierenden Krisen mit grossen Risiken für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. In diesen Situationen erliess der Bundesrat gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 der Bundesverfassung (BV) Notverordnungen und beantragte bei der Finanzdelegation dringliche Kredite. Der vorliegende Bericht des Bundesrates analysiert die Notrechtstheorie vor dem Hintergrund der bundesrätlichen Notrechtspraxis. Der Bericht kommt zum Schluss, dass der Bundesrat immer dann notrechtlich handeln können muss, wenn fundamentale Rechtsgüter akut gefährdet sind, für die er eine staatliche Schutzpflicht hat.
Ausgangslage
Mit dem vorliegenden Bericht kommt der Bundesrat dem Postulat 23.3438 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates «Anwendung von Notrecht» nach. Das Postulat beauftragt ihn, in einem Bericht die rechtlichen Grundlagen und Grenzen des Notrechts aufzuzeigen. Der Bundesrat beantwortet mit diesem Bericht gleichzeitig auch das Postulat 20.3440 Schwander «Präzisierung des Schutzbereichs in Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung». Das Postulat 23.3438 «Anwendung von Notrecht» steht zudem in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der parlamentarischen Initiative 23.439 Caroni «Begründungspflicht beim Erlass von Notrecht». Diese Initiative will den Bundesrat mittels einer zu schaffenden Gesetzesbestimmung verpflichten, beim Erlass von Notrecht jeweils konkret zu begründen, inwiefern der jeweilige Rückgriff auf Notrecht rechtlich zulässig ist.
Inhalt des Berichts
Der Bundesrat kann gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV Notverordnungen erlassen, sofern die Wahrung der Interessen des Landes dies erfordert oder um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Nach einer Analyse der Lehre und Rechtsprechung kommt der Bericht zum Schluss, dass der Bundesrat immer dann notrechtlich handeln darf, wenn fundamentale Rechtsgüter akut gefährdet sind, für die er eine Schutzpflicht hat. Seine Schutzpflicht ist dabei nicht auf die klassischen Polizeigüter (insbesondere Leib, Leben, Freiheit, öffentliche Gesundheit) beschränkt, sondern kann für ihn auch die Pflicht bedeuten, zum Schutz von anderen Rechtsgütern oder rechtlich geschützten gesellschaftspolitischen Interessen Notrecht zu erlassen. Entscheidend ist dabei die Systemrelevanz des Schutzgutes.
Um die Handlungsfähigkeit des Bundes in Krisenlagen zu gewährleisten, muss der Bundesrat mit Notverordnungen auch von bestehendem Gesetzesrecht und unter Umständen selbst von gewissen Verfassungsbestimmungen abweichen können. Grösste Zurückhaltung ist jedoch insbesondere beim Abweichen von spezialgesetzlichen Bestimmungen zur Krisenbewältigung geboten, in denen der Gesetzgeber für den Fall von Notlagen bereits eine Regelung getroffen hat. Gleiches gilt für Ausserkraftsetzungen des Zugangs zu amtlichen Dokumenten nach dem Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) und die Einführung von Strafbestimmungen in Notverordnungen. Notverordnungen haben sich in jedem Fall an das Verhältnismässigkeitsprinzip zu halten und dürfen unter keinen Umständen das zwingende Völkerrecht und die notstandsfesten Menschenrechtsgarantien (internationales Recht) sowie die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns gemäss Artikel 5 BV und die grundrechtlichen Kerngehalte (Verfassungsrecht) verletzen.
Der Rückgriff auf Notrecht darf dann erwogen werden, wenn das ordentliche Recht in akuten Krisensituationen keine geeigneten Handlungsinstrumente zur Verfügung stellt, um eine unmittelbare Gefahr abzuwenden. Es ist entscheidend, dass der Gesetzgeber Notlagen zu antizipieren weiss und eine krisenfeste Gesetzgebung anstrebt. Notbestimmungen in Spezialgesetzen stellen demokratisch und rechtsstaatlich insbesondere dann einen Mehrwert dar, wenn sie die verfassungsmässige Notrechtskompetenz des Bundesrates nicht bloss wiederholen, sondern sachbereichsspezifisch konkretisieren.
Da eine abstrakte Normenkontrolle für Verordnungen der Exekutive (Art. 189 Abs. 4 BV) und somit auch für Notverordnungen des Bundesrats nicht vorgesehen ist, sind politische Kontrollinstrumente umso wichtiger. Im Rahmen der parlamentarischen Initiativen 20.437 Staatspolitische Kommission des Nationalrates «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und 20.438 Staatspolitische Kommission des Nationalrates «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» wurden die Möglichkeiten der Bundesversammlung, auf die Rechtsetzung des Bundesrates in Notsituationen Einfluss zu nehmen, erheblich ausgebaut.
Dem Bundesrat kommt bei der Anwendung von Notrecht aufgrund der damit einhergehenden temporären Machtverschiebung im Gewaltenteilungsgefüge und seiner erweiterten Möglichkeiten eine erhöhte Begründungs- und Rechtfertigungspflicht zu. Der Bundesrat ist verpflichtet, die Bundesversammlung, die Kantone und die Öffentlichkeit rechtzeitig und umfassend über seine Lagebeurteilungen, Planungen und Entscheide zu informieren, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen (Art. 180 Abs. 2 BV und Art. 10 Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz). Diese proaktive Informationspflicht des Bundesrates ist bei der Krisenbewältigung von zentraler Bedeutung für die Nachvollziehbarkeit und Umsetzung von Notmassnahmen. Soweit das Notrecht im konkreten Fall nichts anderes vorsieht, gilt das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten gemäss Artikel 6 BGÖ mit seinen einschränkenden Ausnahmen gemäss den Artikeln 7-9 BGÖ.
Mit einzelnen Massnahmen möchte der Bundesrat beim Erlass von Notrecht die Transparenz und die Rechtssicherheit fördern sowie die Krisenfestigkeit der Rechtsordnung insgesamt verbessern. Er will Möglichkeiten für eine systematische Erfassung der Notverordnungen prüfen. Er beabsichtigt, die Kriterien beim Erlass von Notrecht klarer aufzuzeigen und die Qualität der rechtlichen Begründung von Notrechtsverordnungen zu verbessern. Ein Prüfschema und ein Raster mit Kriterien sollen die Erarbeitung und die rechtliche Begründung von Notrecht strukturieren, vereinheitlichen und insgesamt verbessern. Weiter will der Bundesrat die Erfahrungen aus den vergangenen Krisen nutzen und das Krisenmanagement des Bundes weiterentwickeln. Mit neuen Leitlinien will er die Bundesverwaltung bei der Vorbereitung von spezialgesetzlichen Bestimmungen zur Krisenbewältigung unterstützen und auf eine krisenfeste Gesetzgebung hinwirken.
Bericht

1 Auftrag

Das Postulat 23.3438 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) «Anwendung von Notrecht» beauftragt den Bundesrat, «die gesetzlichen Grundlagen und Grenzen des Notrechts in einem Bericht aufzuzeigen. Dabei soll insbesondere darauf eingegangen werden:
-
inwiefern die beiden Art. 184 und 185 BV ¹ als Rechtsgrundlage genügen; und
-
inwiefern die Mitwirkung des Parlaments verbessert werden kann».
Beim Beantworten der zweiten Frage hält sich der Bundesrat zurück, da diese primär in den Bereich des Parlaments fällt und das Parlament im Rahmen der Behandlung der parlamentarischen Initiative (pa. Iv.) 20.437 Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und der pa. Iv. 20.438 SPK-N «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» im Rahmen der Änderung vom 17. März 2023 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 ² (ParlG) neue Regelungen beschlossen hat, die am 4. Dezember 2023 in Kraft getreten ³ sind.
Der Bundesrat beantwortet mit diesem Postulatsbericht auch das Postulat 20.3440 Schwander «Präzisierung des Schutzbereichs in Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung». Dieses verlangt vom Bundesrat, dass er aufzeigt, «wie er den Schutzbereich von Artikel 185 Absatz 3 Bundesverfassung definiert und daraus seine Notrechtskompetenzen begründet. Insbesondere soll klargestellt werden, ob immer ein sicherheitspolitisches Anliegen vorliegen muss oder auch andere politische Ziele alleine genügen». Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Referenden zu dringlich erklärten Bundesgesetzen wurden hingegen im Bericht des Bundesrates vom 15. März 2024 ⁴ in Erfüllung des Postulats 22.3010 SPK-N «Referenden zu dringlich erklärten Bundesgesetzen und Verhältnis zum Erneuerungsverbot gemäss Artikel 165 Absatz 4 der Bundesverfassung. Klärungsbedarf» behandelt.
Das Postulat 23.3438 RK-N «Anwendung von Notrecht» steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der pa. Iv. 23.439 Caroni «Begründungspflicht beim Erlass von Notrecht». Diese will den Bundesrat mittels einer zu schaffenden Gesetzesbestimmung verpflichten, beim Erlass von Notrecht jeweils konkret zu begründen, inwiefern der jeweilige Rückgriff auf Notrecht rechtlich zulässig ist. Begründet wird dies damit, dass dem Bundesrat auch nach den Reformen aufgrund der pa. Iv. 20.437 SPK-N «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» sowie 20.438 SPK-N «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» in Krisensituationen eine erhebliche Machtfülle verbleibe. Namentlich entscheide der Bundesrat weiterhin selber, ob die Voraussetzungen für Notrecht gegeben seien.
Bereits im Nachgang an den Fall Tinner, in dem der Bundesrat gestützt auf sein Notverfügungsrecht die Aktenvernichtung von Kernwaffenbauplänen beschloss und damit in die Unabhängigkeit der Justiz eingriff, hatte die Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte in ihrem Bericht vom 19. Januar 2009 ⁵ «Fall Tinner: Rechtmässigkeit der Beschlüsse des Bundesrats und Zweckmässigkeit seiner Führung» klargestellt, dass sie vom Bundesrat erwarte, «dass er in Zukunft von seinen Kompetenzen gemäss Artikel 184 Absatz 3 und Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung nur restriktiv und nach eingehender Prüfung der Voraussetzungen für deren Anwendung Gebrauch macht».
¹ SR 101
² SR 171.10
³ AS 2023 483
⁴ www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 22.3010
⁵ BBl 2009 5007

2 Vorgehensweise

Unter der Federführung des Bundesamtes für Justiz (BJ) wurde eine verwaltungsinterne Arbeitsgruppe mit der Bundeskanzlei (BK), den Parlamentsdienten (PD) und Vertreterinnen und Vertretern aus den notrechtserfahrenen Ämtern Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV), Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF), Bundesamt für Gesundheit (BAG), Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL), Eidgenössisches Departement für Wirtschaft Bildung und Forschung / Generalsekretariat (GS-WBF) und Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten / Direktion für Völkerrecht (EDA/DV) gebildet, um eine angemessene Analyse der Notrechtspraxis zu ermöglichen. Die Ergebnisse der verwaltungsinternen Arbeitsgruppe wurden mit der Aussensicht von verwaltungsexternen Spezialistinnen und Spezialisten ergänzt. Hierzu wurde eine verwaltungsexterne Expertengruppe zur wissenschaftlichen Begleitung der Arbeiten gebildet ⁶ , um die Vielfalt an rechtswissenschaftlichen Positionen im akademischen Diskurs zum Notrecht ( Notrechtstheorie ) im Bericht abzubilden. Die Mitglieder der Expertengruppe brachten ihr Wissen und ihre Auffassungen in die Sitzungen ein. Aussagen und Wertungen des Berichts binden sie nicht.
Es fanden jeweils drei Sitzungen der Expertengruppe und der Arbeitsgruppe statt, in denen ausgewählte Leitfragen zur Notrechtstheorie, zur Notrechtspraxis sowie anhand eines Diskussionspapiers konkrete Verbesserungsvorschläge diskutiert wurden (siehe hierzu Anhang I, II und III). Eine Auslegeordnung der Notrechtselemente (Notrechtstheorie) und eine Vergleichstabelle zu den Notrechtsfallstudien (Notrechtspraxis), die als Übersicht dienen sollen, sind diesem Bericht beigelegt (Anhang IV und V).
⁶ Mitglieder der Expertengruppe waren (alphabetisch): Prof. Eva Maria Belser (Universität Freiburg im Üechtland); Prof. Maya Hertig (Université de Genève); Prof. Andreas Kley (Universität Zürich); Prof. Jörg Künzli (Universität Bern), Prof. Urs Saxer (Universität Zürich).

3 Inhalt des Berichts

Der vorliegende Bericht behandelt ausgehend von Notrechtsfallstudien die rechtlichen Grundlagen und Grenzen des Notrechts sowie Fragen zur Kontrolle von Notrecht, zu möglichen Alternativen und zur Überführung von Notrecht in ordentliches Recht.
Der Bericht beginnt nach einer kurzen Definition des Notrechtsbegriffs (Ziff. 4) mit einer Darstellung von vier Notrechtsfallstudien (Ziff. 5): der UBS-Rekapitalisierung 2008, der Bekämpfung der Covid-19-Epidemie 2020, des Axpo-Rettungsschirms 2022 und der behördlich unterstützten Übernahme der Credit Suisse (CS) durch die UBS 2023. Aus den Erkenntnissen der Notrechtsfallstudien wird anhand der Parameter der Eskalation, der Dauer, der Breite, der Intensität und der Wahrscheinlichkeit eine Typologisierung von Krisen entwickelt (Ziff. 6), um die unterschiedlichen Herausforderungen für die Rechtsetzung zur Krisenbewältigung einzuordnen (Ziff. 7).
Im Hauptteil des Berichts geht es um die Grundlagen (Ziff. 8) und Grenzen (Ziff. 9) des Notrechts. Die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 Bundesverfassung (BV) ermächtigen den Bundesrat, unter bestimmten Voraussetzungen Notverordnungen und Notverfügungen zu erlassen (Ziff. 8.1). Es gibt jedoch auch spezialgesetzliche Krisenbestimmungen, mit denen das Parlament den Bundesrat zur Bewältigung von besonderen und ausserordentlichen Lagen beauftragt (Ziff. 8.2). Geklärt wird zudem im Hauptteil, ob der Bundesrat per Notrecht von bestehendem Gesetzesrecht sowie von verfassungs- und völkerrechtlichen Bestimmungen abweichen darf (Ziff. 9).
Weiter werden die rechtlichen und politischen Kontrollinstrumente analysiert (Ziff. 10), insbesondere die Notwendigkeit der Einführung einer abstrakten Normenkontrolle von Notverordnungen. Danach werden die Verfahren zur Überführung von Notrecht in ordentliches Recht dargestellt (Ziff. 11). Auch werden die dringliche Gesetzgebung (Art. 165 BV) sowie die Notverordnungen der Bundesversammlung (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV) als Alternativen zum Notrecht (Ziff. 12) behandelt.
Abschliessend empfiehlt der Bericht Massnahmen, um bei der Anwendung von Notrecht Transparenz zu schaffen, die Rechtssicherheit zu fördern und die Resilienz zu stärken (Ziff. 13).

4 Terminologie

Die BV verwendet den Begriff «Notrecht» («droit de nécessité», «diritto di necessità») nicht. Er hat sich jedoch in Lehre und Rechtsprechung durchgesetzt. ⁷ Unter Notrecht werden gemeinhin Verordnungen und Verfügungen verstanden, die der Bundesrat gestützt auf die Artikel 185 Absatz 3 und 184 Absatz 3 BV erlässt, wenn es die Wahrung der Interessen des Landes erfordert oder um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Zum Notrecht zählen in gewissem Sinne auch die Kompetenzen der Bundesversammlung, bei ausserordentlichen Umständen Verordnungen oder einfache Bundesbeschlüsse zu erlassen (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV). Solche Verordnungen und Verfügungen werden Notverordnungen oder Notverfügungen genannt. ⁸ Eng verknüpft mit dieser verfassungsmässigen Notrechtskompetenz des Bundesrates ist die sogenannte polizeiliche Generalklausel gemäss Artikel 36 Absatz 1 Satz 3 BV. ⁹ Diese Klausel besagt, dass im Falle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr selbst bei schwerwiegenden Grundrechtseinschränkungen vom Erfordernis der gesetzlichen Grundlage abgewichen werden darf. Für den Bundesrat ist Artikel 185 Absatz 3 BV die Grundlage, um sich auf die Polizeigeneralklausel zu berufen. Die polizeiliche Generalklausel bildet damit das grundrechtliche Pendant zur bundesrätlichen Zuständigkeit im Bereich des Notrechts. Neben der genannten verfassungsrechtlichen Notrechtskompetenz des Bundesrates gibt es zunehmend auch in Bundesgesetzen Spezialbestimmungen, die für Krisenlagen geschaffen wurden, in denen das Parlament den Bundesrat zum Handeln ermächtigt. Auch diese gelten für die Zwecke dieses Berichtes als «Notrecht» im weitesten Sinne.
Das Notrecht, das sich auf die Verfassung abstützt (intrakonstitutionelles Notrecht), ist vom Notrecht ohne Verfassungsgrundlage (extrakonstitutionelles Notrecht) zu unterscheiden. 1⁰ Die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV bieten eine Grundlage für das intrakonstitutionelle Notrecht, nicht jedoch für «echtes» Notrecht im extrakonstitutionellen Sinn. 1¹ Gemäss dem Bericht der SPK-N vom 5. Februar 2010 ¹2 zur pa. Iv. SPK-N 09.402 «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen» setzt dieses einen Staatsnotstand und damit eine existenzbedrohende Notlage für das ganze Land voraus.
In Fragen zum Notrecht, zum Staatsnotstand oder zum Ausnahmezustand spitzt sich das Ringen zwischen Recht und Politik zu. Die Rolle des Rechts in der Politik und die politische Dimension des Rechts erhalten in diesen Fragen eine besondere Bedeutung. Mit dem Notrecht sind daher fundamentale verfassungsrechtliche und rechtsphilosophische Grundfragen verbunden, die in der schweizerischen Rechtswissenschaft diskutiert werden. ¹3
Urs Saxer / Florian Brunner
, Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 4. Auflage, Zürich/St. Gallen 2023 (nachstehend:
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar) zu Art. 185 BV, Rz. 61.
Saxer
/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 60.
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 71.
1⁰
Luc
Gonin
, Commentaire Romand, Constitution fédérale, Bâle 2021 (nachstehend:
Gonin
, CR Cst.), Art. 185 BV, N 11.
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 61.
¹2 BBl 2010 1563 , insbesondere 1568; siehe zudem Parlamentswörterbuch zum Begriff «Notrecht».
¹3
Ralph Trümpler
, Notrecht, Eine Taxonomie der Manifestationen und eine Analyse des intrakonstitutionellen Notrechts de lege lata und de lege ferenda, Zürich 2012;
David Rechsteiner,
Recht in besonderen und ausserordentlichen Lagen. Unter besonderer Berücksichtigung des Rechts bei Katastrophen, Zürich/St. Gallen 2016;
Caroline Lehner
, Notverordnungsrecht. Die Kompetenzen des schweizerischen Bundesrats, des spanischen Ministerrats und des französischen Staatspräsidenten, Bern 2016;
Romane Loviat
, Limites matérielles au droit d’urgence du gouvernement, Analyse et réflexions au sujet du droit fédéral et du droit cantonal, Zürich/St. Gallen 2024.

5 Analyse vergangener Notrechtsfälle

Das Postulat 23.3438 RK-N «Anwendung von Notrecht» steht zeitlich und sachlich in engem Zusammenhang mit dem Erlass von Notrecht bei der behördlich unterstützten Übernahme der CS durch die UBS im März 2023. Das Postulat wurde dabei gemeinsam mit dem Postulat 23.3439 RK-N «Prüfung einer möglichen Klage gegen die Führungsorgane der Credit Suisse» und dem Postulat 23.3440 RK-N «Faktische Anwendbarkeit der Too-Big-to-Fail-Regulierung auf internationale Grossbanken» eingereicht, diskutiert und angenommen.
Die rechtliche Auslegeordnung des Notrechts hat jedoch im grösseren Kontext vergangener Notrechtsfälle zu erfolgen. Zu nennen sind neben der behördlich unterstützten Übernahme der CS durch die UBS 2023 insbesondere die UBS-Rekapitalisierung 2008, die Bekämpfung der Covid-19-Epidemie 2020 und der Axpo-Rettungsschirm 2022. ¹4 Diesen Fällen ist gemeinsam, dass die Risiken, denen der Bundesrat mit Notrecht entgegenwirkte, hinsichtlich ihrer Auswirkungen von einer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung waren. Sie standen daher am Ursprung des parlamentarischen Vorstosses ¹5 , wurden von den Medien aufgenommen ¹6 , in der rechtswissenschaftlichen Literatur diskutiert ¹7 und bildeten Gegenstand von Petitionen ¹8 . Dieser Postulatsbericht analysiert die Notrechtstheorie vor dem Hintergrund der viel diskutierten Notrechtspraxis. Es geht dabei um folgende Fragen, welche die Darstellung der Notrechtsfälle strukturieren sollen, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen:
1.
Wann und unter welchen Umständen wurde Notrecht angewendet? ( Ausgangslage )
2.
Worauf hat sich der Bundesrat beim Erlass von Notrecht gestützt? ( Rechtsgrundlagen )
3.
Welche Massnahmen hat der Bundesrat gestützt auf Notrecht ergriffen (inhaltlich) und welche Handlungsform hat er gewählt (formell)? ( Notverordnung )
4.
Wie hat der Bundesrat den Erlass von Notrecht bzw. das Bestehen einer Notlage begründet? ( Begründung )
5.
Welche Alternativen zum Notrecht wurden geprüft und aus welchen Gründen hat man diese verworfen? ( Alternativen )
6.
Wurde das Notrecht in ordentliches Recht überführt? ( Überführung )
7.
Wie wurde auf die Anwendung von Notrecht reagiert? ( Reaktionen )
8.
Welcher Lernprozess wurde im Nachgang an die Anwendung von Notrecht vollzogen? ( Evaluation )

5.1 UBS-Rekapitalisierung (2008)

5.1.1 Ausgangslage

In der Botschaft des Bundesrats vom 5. November 2008 ¹9 zu einem Massnahmenpaket zur Stärkung des schweizerischen Finanzsystems wird die Situation, die zur Anwendung von Notrecht geführt hat, wie folgt umschrieben: «Eine seit dem Spätsommer 2007 andauernde und vom amerikanischen Immobilienmarkt ausgehende Finanzkrise akzentuierte sich Mitte September 2008 deutlich und erfasste auch Staaten, in welchen keine Überhitzungserscheinungen auf den Immobilienmärkten feststellbar waren. […] Die starken Verwerfungen auf den globalen Finanzmärkten haben sich in der Schweiz hauptsächlich auf die beiden stark auf dem amerikanischen Markt engagierten Grossbanken ausgewirkt. […] Von den Schweizer Grossbanken wurde die UBS AG trotz ihrer über dem internationalen Durchschnitt liegenden Kapitalisierung deutlich stärker getroffen als die Credit Suisse. Die Verwundbarkeit der UBS AG hatte sich gegen Ende des 3. Quartals 2008 in einer verschlechterten Liquiditätssituation, einem stark erhöhten Abfluss von Kundengeldern, einer nach wie vor unbefriedigenden Ertragsentwicklung und einer trotz Gegenmassnahmen immer noch problematisch hohen Exponierung in illiquiden Aktiven manifestiert. Es war nicht auszuschliessen, dass die Bank bei sich weiter verschlechternden Märkten in eine verschärfte Vertrauenskrise hätte geraten können. Dies hätte das schweizerische Finanzsystem und die gesamte Schweizer Volkswirtschaft massiv belastet.» Die Risiken für die Schweizer Wirtschaft waren erheblich, weil der Zusammenbruch der UBS einen verheerenden Dominoeffekt hätte auslösen können. Die Aktiven der in der Schweiz tätigen Banken betrugen zum erwähnten Zeitpunkt mit ca. 4700 Milliarden Franken das Neunfache des damaligen Bruttoinlandprodukts.
¹9 BBl 2008 8943 , 8943 f., vgl. auch 8954-56, 8958 f. und nachstehend, Ziff. 5.1.4.

5.1.2 Verfassungsgrundlagen

Für die zur Rekapitalisierung der UBS vorgesehenen finanziellen Unterstützungsmassnahmen (Beteiligung des Bundes mittels einer Pflichtwandelanleihe) benötigte der Bund eine tragfähige Rechtsgrundlage. Anders als bei der Kapitalisierung der Swiss mit dem Ziel der Beibehaltung einer schweizerischen Zivilluftfahrt in den Jahren 2001 und 2002, als sich der Bund auf entsprechende Bestimmungen des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 1948 2⁰ (LFG) stützen konnte, fehlten entsprechende Bestimmungen in der Bundesgesetzgebung, namentlich im Bankengesetz vom 8. November 1934 2¹ (BankG). 2²
Im vorliegenden Fall stützten sich die Massnahmen des Bundesrates zur Rekapitalisierung der UBS mit Mitteln des Bundes direkt auf die Artikel 184 Absatz 3 (Wahrung der Landesinteressen nach aussen) und 185 Absatz 3 BV (schwere Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit). Die Abstützung auf Artikel 184 Absatz 3 BV rechtfertigte sich gemäss Bundesrat, weil bei einem Zusammenbruch der UBS «die Reputation des schweizerischen Finanzplatzes im Ausland nachhaltig Schaden genommen hätte». Wegen der internationalen Ausrichtung der Bank «wäre ein entsprechender Vertrauensverlust mit schwerwiegenden Konsequenzen für die schweizerische Volkswirtschaft verbunden gewesen ²3 ». Zur Abstützung auf Artikel 185 Absatz 3 BV führte der Bundesrat unter Berufung auf den Kommentar von Kurt Eichenberger zu Artikel 102 Ziffer 10 der alten Bundesverfassung (aBV) ²4 aus, diese selbständige Verordnungskompetenz sei nicht nur zum Schutz von Polizeigütern anwendbar, sondern decke auch Massnahmen, «die bei katastrophalen und unvorhergesehenen Ereignissen notwendig sind, um Bedrohungen von Staat und Gesellschaft abzuwenden» ²5 .
2⁰ SR 748.0
2¹ SR 952.0
2² BBl 2008 8943 , 8967
²3 BBl 2008 8943 , 8968
²4
Kurt Eichenberger
in
Jean-François Aubert
/
Kurt Eichenberger
/
Jörg Paul Müller
/
René A. Rhinow
/
Dietrich Schindler
(Hrsg,), Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Basel/Zürich/Bern 1996, Art. 102 Ziff. 10 aBV, Rz. 169.
²5 BBl 2008 8943 , 8968

5.1.3 Notverordnung

Gestützt auf seine verfassungsmässige Notrechtskompetenz in den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV erliess der Bundesrat die Verordnung vom 15. Oktober 2008 ²6 über die Rekapitalisierung der UBS AG (UBS-Notverordnung) und setzte sie am gleichen Abend um 18.00 Uhr in Kraft. In der Lehre gab es zum Teil Diskussionen darüber, ob diese Verordnung tatsächlich als solche qualifiziert werden kann oder eher eine Verfügung im Sinne von Artikel 22 Absatz 4 ParlG darstellt. ²7 Gemäss Artikel 1 Absatz 1 der UBS-Notverordnung beteiligt sich der Bund bis zu einem Höchstbetrag von 6 Milliarden Franken an der Rekapitalisierung der UBS AG (Grundlage für die Pflichtwandelanleihe). Gemäss Artikel 2 setzt die Beteiligung des Bundes voraus, dass (a) private Rekapitalisierungsmassnahmen scheitern oder sich als unzureichend erweisen; (b) die Schweizerische Nationalbank (SNB) flankierende Liquiditätshilfe gewährt; (c) bei einer Höherbewertung der UBS AG durch den Markt eine angemessene Beteiligung des Bundes vorgesehen ist; und (d) die UBS AG sich dazu verpflichtet, die Auflagen des Bundesrates im Bereich der Corporate Governance zu erfüllen. Das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) bewirtschaftet gemäss Artikel 3 der UBS-Notverordnung die Anleihen respektive die Aktien. Gemäss Artikel 4 der UBS-Notverordnung beschliesst der Bundesrat die erforderlichen Verpflichtungs- und Voranschlagskredite im Dringlichkeitsverfahren nach den Artikeln 28 und 34 des Finanzhaushaltgesetzes vom 7. Oktober 2005 ²8 (FHG).
²6 AS 2008 4741 (aufgehoben)
²7
Andreas Kley
, Die UBS-Rettung im historischen Kontext des Notrechts, in: Z SR 2011 I, 123 ff., 134.
²8 SR 611.0

5.1.4 Begründung

Die Anwendung von Notrecht wurde mit der Stabilisierung des Schweizer Finanzsystems und der Stärkung des Vertrauens in den Schweizer Finanzmarkt begründet. ²9 Die Ausführungen in der Botschaft rechtfertigen den Erlass von Notrecht wie folgt: «Die Grossbanken sind für die Schweizer Volkswirtschaft von systemischer Bedeutung. Im inländischen Kreditmarkt halten sie zusammen einen Marktanteil von 35 %. […] Zudem entfällt ein Drittel der Verbindlichkeiten auf dem inländischen Interbankenmarkt allein auf die UBS AG. Bei einem Ausfall einer Grossbank wären Haushalte und Unternehmen infolge der Blockierung ihrer Konten und der Unterbrechung ihrer Kreditbeziehungen nicht mehr in der Lage, laufende Ausgaben und Investitionen zu tätigen. […] Der Ausfall einer Grossbank würde daher zumindest kurzfristig die Liquiditätsversorgung gefährden und das Zahlungssystem der Schweiz destabilisieren. […] Die volkswirtschaftlichen Konsequenzen wären insgesamt gravierend. Aufgrund von internationalen Studien muss davon ausgegangen werden, dass der Ausfall einer Bank von der Grösse der UBS AG kurzfristig Kosten für die Volkswirtschaft in der Höhe von 15-30 % des BIP (75-150 Mrd. Fr.) verursachen könnte. Der langfristige Wachstumsverlust wird gar auf 60 %-300 % des BIP geschätzt (300-1500 Mrd. Fr.).» 3⁰
²9 Medienmitteilung des Bundesrates vom 16.10.2008, Bundesrat beschliesst Massnahmen zur Stärkung des Finanzsystems Schweiz,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 16.10.2008 (07.02.2024).
3⁰ BBl 2008 8943 , 8944 f.

5.1.5 Alternativen

Das dringliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 165 BV) schloss der Bundesrat aus. Er argumentierte, dieses Verfahren hätte im Lichte der sich rapide verschlechternden Situation der UBS und des drohenden schweren volkswirtschaftlichen Schadens, den es zu vermeiden galt, zu wenig rasch gegriffen. 3¹
3¹ BBl 2008 8943 , 8968

5.1.6 Überführung

Die UBS-Notverordnung wurde mit Verordnung vom 20. Januar 2010 3² über die Rekapitalisierung der UBS AG rückwirkend auf den 25. August 2009 aufgehoben und nicht in ein formelles Gesetz überführt. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine sechsmonatige Befristung für Notverordnungen. Diese wurde im Anschluss im Rahmen der pa. Iv. 20.437 SPK-N «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und 20.438 SPK-N «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» eingeführt.
3² AS 2010 447

5.1.7 Reaktionen

Die notrechtliche Rettung der UBS löste folgende Reaktionen aus:
-
Bericht der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA) vom 14. September 2009 3³ «Finanzmarktkrise und Finanzmarktaufsicht» (die FINMA wurde per 1. Januar 2009 gegründet und löste die Eidgenössische Bankenkommission (EBK), das Bundesamt für Privatversicherungen sowie die Kontrollstelle für die Bekämpfung der Geldwäscherei in der EFV ab). Gemäss Artikel 5 Absatz 1 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007 ³4 (FINMAG) wurde die FINMA als öffentlich-rechtliche Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestaltet. Anders als die Vorgängerbehörden gehört die FINMA nicht zur zentralen Bundesverwaltung, sondern ist als Verwaltungseinheit der dezentralen Bundesverwaltung institutionell, funktionell und finanziell unabhängig. In ihrem Bericht kritisierte die FINMA vor allem die ihrer Ansicht nach namentlich für systemrelevante Grossbanken viel zu tiefen Eigenkapitalquoten, die zu lockeren Liquiditätsvorschriften, die Unterschätzung von Risikopositionen durch ihre Vorgängerorganisation EBK sowie die zu zahmen Interventionen der EBK bei erkannten Risiken. Die EBK habe auch eine zu geringe Durchschlagskraft gehabt. ³5
-
Bericht des Bundesrates vom 12. Mai 2010 ³6 «Verhalten der Finanzmarktaufsicht in der Finanzmarktkrise - Lehren für die Zukunft» (in Beantwortung des Postulats 08.4039 David «Klärung des Verhaltens der Finanzmarktaufsicht in der Finanzkrise» und der Motion 09.3010 Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates (WAK-N) «Funktionsfähigkeit der Finma überprüfen», insbesondere gestützt auf zwei Expertengutachten): In diesem Bericht prüfte der Bundesrat das Verhalten der FINMA und vor allem der ehemaligen Aufsichtsbehörde EBK in der Finanzmarktkrise. Er kam zum Schluss, dass die EBK zwar Risiken bei der UBS erkannte, aber mit zu wenig Nachdruck auf deren Beseitigung drängte. Auch habe die EBK sich zu stark auf Einschätzungen der UBS verlassen und die Exposition der Bank zu wenig mit denen anderer Grossbanken, namentlich der CS, verglichen ³7 .
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Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK) vom 30. Mai 2010 ³8 «Die Behörden unter dem Druck der Finanzkrise und der Herausgabe von UBS-Kundendaten an die USA»: Im ersten Teil des Berichts setzen sich die GPK beider Räte mit dem Verhalten der Behörden sowie des Bundesrats während der Finanzmarktkrise und der existenziellen Krise der UBS auseinander. Sie kamen zum Schluss, dass Risiken wie die Too-big-to-fail-Problematik zu spät erkannt und Gegenmassnahmen zu spät und zu wenig entschlossen ergriffen wurden. Namentlich habe es an Steuerung durch den Bundesrat gefehlt, der ungenügend informiert gewesen sei und viel zu spät gehandelt habe. ³9
-
Bericht der SPK-N vom 5. Oktober 2010 4⁰ über die pa Iv. 09.402 SPK-N «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen»: Die SPK konzentrierte sich auf Gesetzesänderungen, die die Rolle des Parlaments in Krisensituationen, in denen der Bundesrat von seinen Notrechtskompetenzen Gebrauch macht, stärken. Zum einen wurde die Überführung der Notverordnungen ins ordentliche Recht fristmässig eingegrenzt: Bei auf Artikel 185 Absatz 3 BV gestützten Notverordnungen hat der Bundesrat eine Frist von sechs Monaten, innert der er dem Parlament den Entwurf einer gesetzlichen Grundlage unterbreiten muss, ansonsten tritt die Verordnung ausser Kraft (Art. 7 d Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 4¹ [RVOG]). 4² Zum anderen wurden die Artikel 28 und 34 FHG, die dringliche Kreditbeschlüsse betreffen, schärfer gefasst: Die vorgängige Zustimmung der Finanzdelegation ist in solchen Fällen obligatorisch. Hat die Finanzdelegation ihre Zustimmung zu einem den Betrag von 500 Millionen Franken übersteigenden dringlichen Kredit gegeben, so kann ein Viertel der Mitglieder eines Rates die Einberufung der Bundesversammlung zu einer ausserordentlichen Session verlangen, die innerhalb von drei Wochen nach dem Begehren stattfinden muss. 4³
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Pa. Iv. 10.401 Büro Nationalrat «Finanzkrise/UBS. Einsetzung einer PUK». Der am 5. Februar 2010 vom Büro des Nationalrats eingereichten pa. Iv. wurde keine Folge gegeben.
Auch als Folge der Geschehnisse während der Finanzkrise 2008/2009 gilt seit dem 1. März 2012 in der Schweiz die sogenannte Too-big-to-fail-Regulierung im BankG gemäss den Empfehlungen des Financial Stability Board. Deren Anforderungen an systemrelevante Banken umfassen höhere Anforderungen an die Kapitalausstattung, höhere Liquiditätsanforderungen und höhere Anforderungen an die Abwicklungsfähigkeit. Wenn nötig wurden auch die diesbezüglichen Ausführungsbestimmungen geprüft und angepasst. So verabschiedete der Bundesrat in den letzten Jahren mehrere Änderungen der Bankenverordnung vom 30. April 2014 4⁴ , der Eigenmittelverordnung vom 1. Juni 2012 ⁴5 und der Liquiditätsverordnung vom 30. November 2012 ⁴6 .
3³ www.finma.ch > Dokumentation > Archiv > Aufsichtsberichte > Bericht - Finanzmarktkrise und Finanzmarktaufsicht (15.2.2024).
³4 SR 956.1
³5 www.finma.ch > Dokumentation > Archiv > Aufsichtsberichte > Bericht - Finanzmarktkrise und Finanzmarktaufsicht (15.2.2024), S. 37-41 (Ziff. 3.1).
³6 Medienmitteilung des Bundesrates vom 12.5.2010, Schlussfolgerungen aus der Finanzmarktkrise für die Finanzmarktaufsicht,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 12.05.2010 (23.10.2023).
³7 Medienmitteilung des Bundesrates vom 12.5.2010, Schlussfolgerungen aus der Finanzmarktkrise für die Finanzmarktaufsicht, S. 4 und 5 (Zusammenfassung), www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 12.05.2010 (23.10.2023).
³8 BBl 2011 3099
³9 BBl 2011 3099 , 3001 -3007 (Zusammenfassung)
4⁰ BBl 2010 1563
4¹ SR 172.010
4² BBl 2010 1563 , 1582 .
4³ BBl 2010 1563 , 1588 f.
4⁴ SR 952.02
⁴5 SR 952.03
⁴6 SR 952.06

5.1.8 Evaluation

Der Bundesrat setzte am 4. November 2009 eine Expertenkommission zum Thema «Too big to fail» ein. ⁴7 Die Expertenkommission legte am 22. April 2010 einen Zwischenbericht mit ersten Vorschlägen zur Eindämmung von Risiken im Bankensektor vor. ⁴8 Der Schlussbericht der Expertenkommission wurde am 30. September 2010 veröffentlicht. ⁴9 Dessen Vorschläge wurden weitgehend in die mit der Botschaft vom 20. April 2011 5⁰ zur Änderung des Bankengesetzes (Stärkung der Stabilität im Finanzsektor; too big to fail ) vom Bundesrat an das Parlament überwiesenen Gesetzesvorschläge für den Umgang mit Systemrisiken von Grossbanken aufgenommen.
Schliesslich setzte der Bundesrat am 4. September 2013 eine Expertengruppe unter der Leitung von Professor Aymo Brunetti ein, die sich mit der «Weiterentwicklung der Finanzmarktstrategie» und im Rahmen ihres bis Ende 2014 befristeten Mandates auch mit der Thematik der Too-big-to-fail-Regulierung befasste und dazu Empfehlungen formulierte. 5¹ Am 18. Februar 2015 verabschiedete der Bundesrat den ersten Too-big-to-fail-Bericht 5² . Die Too-big-to-fail-Regulierung wird seit 2012 regelmässig überprüft. 5³
⁴7 Expertenkommission zur Limitierung von volkswirtschaftlichen Risiken durch Grossunternehmen; Medienmitteilung des Bundesrates vom 4.11.2009, Bundesrat setzt Expertenkommission zum Thema «too-big-to-fail» ein,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 4.11.2009 (3.6.2024).
⁴8 Zwischenbericht der Expertenkommission vom 22. April 2010 zur Limitierung von volkswirtschaftlichen Risiken durch Grossunternehmen,
www.finma.ch > Suche > Zwischenbericht der Expertenkommission «Too big to fail» (3.6.2024); Medienmitteilung des Bundesrates vom 28.4.2010, Bundesrat gibt verbindliche Planung einer Gesetzesänderung zur «Too big to fail»-Problematik in Auftrag (mit Stellungnahme des Bundesrats vom 28. April 2010 zu den Vorschlägen der Expertenkommission),
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 28.4.2010 (3.6.2024).
⁴9 Medienmitteilung vom 13.10.2010, Bundesrat beschliesst weiteres Vorgehen zur Lösung der «Too big to fail»-Problematik,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 13.10.2010 (3.6.2024).
5⁰ BBl 2011 4717
5¹ Schlussbericht der Expertengruppe zur Weiterentwicklung der Finanzmarktstrategie vom 1. Dezember 2014, S. 46 ff., Anhang zur Medienmitteilung des Bundesrats vom 5.12.2014, Bundesrat nimmt Schlussbericht der Expertengruppe «Weiterentwicklung der Finanzmarktstrategie» zur Kenntnis,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 5.12.2014 (09.02.2024).
5² BBl 2015 1927
5³ BBl 2017 4847 ; 2021 1487 ; 2019 5385

5.2 Covid-19-Pandemie (2020)

5.2.1 Ausgangslage

Im Dezember 2019 wurde in China ein neuartiges Coronavirus (Sars-CoV-2) als Auslöser der Infektionskrankheit Covid-19 identifiziert. Dieses verbreitete sich rasch weltweit. Am 25. Februar 2020 wurde es erstmals in der Schweiz nachgewiesen. Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die daraus folgende Krankheit Covid-19 zur Pandemie. 5⁴
5⁴ www.who.int > WHO Director-General > Speeches > Detail > WHO Director-General’s opening remarks at the media briefing on COVID-19 - 11 March 2020; BBl 2020 6563 , 6568 .

5.2.2 Verfassungsgrundlagen

Die Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie stützten sich sowohl auf Artikel 185 Absatz 3 BV als auch auf die Artikel 6 und 7 des Epidemiengesetzes vom 28. September 2012 5⁵ (EpG). Ab Beginn der besonderen Lage (28. Februar 2020) bis zum Beginn der ausserordentlichen Lage (16. März 2020) stützten sich die notwendigen, vom Bundesrat erlassenen gesundheitspolizeilichen Primärmassnahmen - ausser jene an den Grenzen zur Einschränkung der Einreise von Personen aus Risikoländern oder -regionen - auf die im EpG vorhandenen gesetzlichen Grundlagen. Der Bundesrat stützte sich für den Erlass von Massnahmen wie zum Beispiel das Verbot von Veranstaltungen von mehr als 1000, später mehr als 100 Personen, auf Kompetenzen, die ihm Artikel 6 Absatz 2 EpG für «besondere Lagen» einräumt. Eine besondere Lage liegt vor, wenn die ordentlichen Vollzugsorgane nicht in der Lage sind, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten oder zu bekämpfen (Art. 6 Abs. 1 Bst. a EpG) und (alternativ) entweder eine erhöhte Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr droht (Art. 6 Abs. 1 Bst. a Ziff. 1 EpG) oder eine besondere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit vorliegt (Art. 6 Abs. 1 Bst. a Ziff. 2 EpG) oder schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft oder andere Lebensbereiche drohen (Art. 6 Abs. 1 Bst. a Ziff. 3 EpG). Eine besondere Lage liegt ebenfalls vor, wenn die WHO eine Notlage von internationaler Tragweite festgestellt hat, durch die in der Schweiz eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit droht (Art. 6 Abs. 1 Bst. b EpG). In solchen Fällen kann der Bundesrat nach Anhörung der Kantone Massnahmen gegenüber einzelnen Personen oder der Bevölkerung nach den Artikeln 30 bis 40 EpG anordnen, Ärztinnen und Ärzte und anderes Gesundheitspersonal verpflichten, bei der Bekämpfung der übertragenbaren Krankheit mitzuwirken und Impfungen bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen, exponierten Personen oder Personen, die besondere Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären (Art. 6 Abs. 2 EpG).
Am 16. März 2020 rief der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» gemäss Artikel 7 EpG aus und beschloss eine weitere Verschärfung der Massnahmen. Gestützt auf diese Bestimmung kann der Bundesrat, wenn erforderlich, «für das ganze Land oder einzelne Bevölkerungsgruppen die notwendigen Massnahmen anordnen». Der Bundesrat ordnete ab Mitte März 2020 unter anderem ein allgemeines Veranstaltungsverbot und die Schliessung aller Läden mit Ausnahme des Verkaufs von Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs sowie ein Verbot für Ansammlungen von mehr als fünf Personen an. In der folgenden Zeit wurden alle Massnahmen, die unter epidemiologischen Gesichtspunkten zur Verminderung der Verbreitung des Coronavirus (Covid-19) beziehungsweise zum Erhalt der medizinischen Kapazitäten zur Bewältigung der Epidemie ergriffen wurden («Primärmassnahmen»), ausschliesslich gestützt auf Artikel 7 EpG erlassen und in die Covid-19-Verordnung 2 vom 13. März 2020 ⁵6 integriert. Dies, obwohl auch in dieser Phase der oben beschriebene Artikel 6 Absatz 2 EpG weitgehend als formell-gesetzliche Grundlage für die Primärmassnahmen genügt hätte.
Gemäss der Botschaft vom 12. August 2020 ⁵7 zum Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Gesetz) wurden Massnahmen zur Bewältigung von Folgeproblemen der Covid-19-Pandemie in separaten Verordnungen erlassen. Solche «Sekundärmassnahmen», in der Form bundesrätlichen Verordnungsrechts, stützten sich soweit möglich auf formell-gesetzliche Delegationsnormen und gesetzliche Aufträge an den Bundesrat zum Erlass von Ausführungsbestimmungen. Wo solche nicht bestanden oder nicht ausreichten, stützte sich der Bundesrat auf Artikel 185 Absatz 3 BV, wenn die entsprechenden verfassungsrechtlichen Voraussetzungen (insbesondere jene der zeitlichen und sachlichen Dringlichkeit) erfüllt waren.
5⁵ SR 818.101
⁵6 AS 2020 773 , BBl 2020 6563 , 6571
⁵7 BBl 2020 6571

5.2.3 Notverordnungen

Der Bundesrat traf eine Reihe von Massnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie in gesundheitlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht.
Ab Beginn der ausserordentlichen Lage stützte er alle gesundheitspolizeilichen Massnahmen oder «Primärmassnahmen» ausschliesslich auf Artikel 7 EpG ab und integrierte sie in die Covid-19-Verordnung 2. Dies geschah aufgrund überwiegender öffentlicher Interessen und ungeachtet des Umstandes, dass sich diese gesundheitspolizeilichen Massnahmen mit wenigen Ausnahmen auf das ordentliche Recht (Art. 6 in Verbindung mit Art. 40 EpG) abstützen liessen. Mit der Rückkehr zur besonderen Lage per 22. Juni 2020 wurden diese Massnahmen wieder aufgehoben. Weiterhin notwendige Rechtsgrundlagen für «Primärmassnahmen» wurden in die Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 19. Juni 2020 ⁵8 überführt. Massnahmen, die über keine Grundlage im EpG oder in anderen Bundesgesetzen verfügten, wurden in die Covid-19-Verordnung 3 vom 19. Juni 2020 ⁵9 überführt, die sich bis zum Inkrafttreten der notwendigen gesetzlichen Grundlage im Covid-19-Gesetz vom 25. September 2020 6⁰ auf Artikel 185 Absatz 3 BV abstützte.
Gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV erliess der Bundesrat in den folgenden Verordnungen sogenannte «Sekundärmassnahmen»: Covid-19-Verordnung 2 vom 13. März 2020 6¹ , Covid-19-Verordnung vom 20. März 2020 6² über den Fristenstillstand bei eidgenössischen Volksbegehren, Covid-19-Verordnung vom 20. März 2020 6³ über den Stillstand der Fristen in Zivil- und Verwaltungsverfahren zur Aufrechterhaltung der Justiz, Covid-19-Verordnung Sport vom 20. März 2020 6⁴ , Covid-Verordnung Kultur vom 20. März 2020 6⁵ , Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall vom 20. März 2020 6⁶ , Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung vom 20. März 2020 ⁶7 , Covid-19-Verordnung Stellenmeldepflicht vom 25. März 2020 ⁶8 , Covid-19-Verordnung berufliche Vorsorge vom 25. März 2020 ⁶9 , Covid-19-Verordnung Gewährung von Krediten und Solidarbürgschaften vom 25. März 2020 7⁰ , Covid-19-Verordnung Miete und Pacht vom 27. März 2020 7¹ , Covid-19-Verordnung Asyl vom 1. April 2020 7² , Covid-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht vom 16. April 2020 7³ , Covid-19-Verordnung Insolvenzrecht vom 16. April 2020 7⁴ , Covid-19-Verordnung Entschädigung Angehörige der Armee und des Zivilschutzes vom 22. April 2020 7⁵ , Covid-19-Verordnung gymnasiale Maturitätsprüfungen vom 29. April 2020 7⁶ , Covid-19-Verordnung Printmedien vom 20. Mai 2020 7⁷ , Covid-19-VO elektronische Medien vom 20. Mai 2020 ⁷8 , Covid-19-Verordnung familienergänzende Kinderbetreuung vom 20. Mai 2020 ⁷9 , Covid-19-Verordnung 3 vom 19. Juni 2020 8⁰ .
⁵8 AS 2020 2213 (aufgehoben)
⁵9 SR 818.101.24 ; AS 2020 2195
6⁰ SR 818.102
6¹ AS 2020 773 (dies betrifft lediglich Abweichungen im Gesellschaftsrecht)
6² AS 2020 847 (aufgehoben)
6³ AS 2020 849 (aufgehoben)
6⁴ AS 2020 851 (aufgehoben)
6⁵ AS 2020 855 (aufgehoben)
6⁶ AS 2020 871 (aufgehoben)
⁶7 AS 2020 877 (aufgehoben)
⁶8 AS 2020 1071 (aufgehoben)
⁶9 AS 2020 1073 (aufgehoben)
7⁰ AS 2020 1077 (aufgehoben)
7¹ AS 2020 1099 (aufgehoben)
7² AS 2020 1125 (aufgehoben)
7³ AS 2020 1229 (aufgehoben)
7⁴ AS 2020 1233 (aufgehoben)
7⁵ AS 2020 1337 (aufgehoben)
7⁶ AS 2020 1399 (aufgehoben)
7⁷ AS 2020 1765 (aufgehoben)
⁷8 AS 2020 1769 (aufgehoben)
⁷9 AS 2020 1753 (aufgehoben)
8⁰ SR 818.101.24 ; AS 2020 2195

5.2.4 Begründung

Der Bundesrat begründete die Massnahmen im Wesentlichen wie folgt:
5.2.4.1 Gesundheitspolizeiliche Massnahmen (Primärmassnahmen)
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Besondere Gesundheitsgefährdung: Die Covid-19-Epidemie wurde als eine aussergewöhnliche Gesundheitsgefahr eingestuft (Pandemie), die eine schnelle und entschlossene Reaktion erforderte. Die rasche Ausbreitung des Virus und die hohe Ansteckungsgefahr wurden als ernsthafte Bedrohung für die Schweizer Bevölkerung angesehen.
-
Schutz der Bevölkerung: Der Bundesrat betonte, dass es seine Aufgabe sei, die Bevölkerung zu schützen und die öffentliche Gesundheit zu gewährleisten. Angesichts der schnellen Ausbreitung des Virus und der potenziell schweren gesundheitlichen Folgen für bestimmte besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen wurden sehr weitgehende Massnahmen ergriffen, um die Ausbreitung einzudämmen und die Bevölkerung zu schützen.
-
Überlastung des Gesundheitssystems: Eine weitere Begründung für den Erlass von Notrecht war die Sorge vor einer Überlastung des Gesundheitssystems. Die hohe Anzahl von Covid-19-Fällen und die Notwendigkeit intensiver medizinischer Versorgung könnten zu Engpässen bei den Ressourcen führen. Dies sollte verhindert werden, indem Massnahmen ergriffen wurden, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und das Gesundheitssystem zu entlasten.
-
Internationale Empfehlungen und Erfahrungen: Der Bundesrat verwies auch auf internationale Empfehlungen und Erfahrungen anderer Länder. Er verfolgte die Massnahmen, die andere Länder ergriffen, und berücksichtigte die daraus gewonnen Erkenntnisse bei seiner Krisenbewältigung.
In Artikel 1 Absatz 2 der COVID-19-Verordnung 2 (Fassung vom 13. März 2020 8¹ ) wurden die Zwecke der gesundheitlichen Massnahmen wie folgt umschrieben:
-
Verhinderung oder Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus (Covid-19) in der Schweiz (Bst. a);
-
Reduktion der Häufigkeit von Übertragungen; Unterbrechung von Übertragungsketten und Verhinderung oder Eindämmung lokaler Ausbrüche (Bst. b);
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Schutz besonders gefährdeter Personen (Bst. c);
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Sicherstellung der Kapazitäten der Schweiz zur Bewältigung der Epidemie, insbesondere zur Aufrechterhaltung der Bedingungen für eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Pflege und Heilmitteln (Bst. d).
8¹ AS 2020 773
5.2.4.2 Massnahmen für Wirtschaft und Gesellschaft (Sekundärmassnahmen)
Die sogenannten Sekundärmassnahmen, welche die negativen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie lindern oder kompensieren sollten, betrafen ganz unterschiedliche Bereiche, zum Beispiel:
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Erwerbsausfallentschädigung für Personen, die unter dem Verbot oder der Einschränkung von Veranstaltungen und Versammlungen litten;
-
unterstützende Massnahmen im Bereich der Kurzarbeitsentschädigung;
-
Erstreckung, Unterbrechung oder Stillstand von Fristen zum Schutz von Unternehmen und Personen, die durch Verbote und Einschränkungen von Tätigkeiten betroffen waren;
-
Erstreckung von Fristen zur Ausübung der politischen Rechte;
-
Abweichung von ordentlichen Regelungen im Gesellschaftsrecht (Gesellschaftsversammlungen);
-
Nothilfe zur Unterstützung von Einrichtungen der Familienbetreuung;
-
indirekte Unterstützung von Kulturschaffenden und kulturellen Einrichtungen via Leistungsvereinbarungen mit den Kantonen.
5.2.4.3 Solidarbürgschaftssystem im Besonderen
Beim Solidarbürgschaftssystem handelt es sich ebenfalls um eine Sekundärmassnahme. Aufgrund seiner wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bedeutung und der Überführung in ein eigenes, vom Covid-19-Gesetz unabhängiges Solidarbürgschaftsgesetz wird diese Massnahme hier gesondert behandelt. Die Besonderheit des Solidarbürgschaftssystems bestand darin, dass mit ihm keine Freiheitsbeschränkungen einhergingen, sondern dass es staatliche Leistungen ermöglichte. Im Vordergrund stand die Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten. Dementsprechend stiess das Solidarbürgschaftssystem auf breite Zustimmung.
Die Auswirkungen der Covid-19-Epidemie und die damit verbundenen behördlichen Massnahmen zum Schutz der Gesundheit (erster Lockdown im Frühjahr 2020) führten bei vielen wirtschaftlich gesunden Unternehmen mit Sitz in der Schweiz zu Liquiditätsengpässen. 8² Ganz besonders betroffen waren Selbstständigerwerbende und KMU. Um diesen rasch und unbürokratisch Zugang zu Bankkrediten zu ermöglichen, damit sie trotz der abrupten Einnahmeausfälle ihre fixen Kosten während den nächsten Monaten tragen konnten, bürgten die vier bestehenden vom Bund anerkannten Bürgschaftsorganisationen mittels Solidarbürgschaften für diese Bankkredite. Der Bund wiederum verpflichtete sich, die Bürgschaftsorganisationen für Verluste aus diesen Bürgschaften zu entschädigen. Ohne diese Solidarbürgschaften hätten viele der betroffenen Unternehmen keine ausreichenden Kredite erhalten, da sie gegenüber den Banken oftmals nicht über ausreichende Sicherheiten verfügten.
Zur Sicherstellung der Liquidität der Unternehmen erliess der Bundesrat gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV die Covid-19-Solidarbürgschaftsverordnung vom 25. März 2020 8³ (Covid-19-SBüV). Damit wollte der Bundesrat Massenentlassungen verhindern, Lohnfortzahlung bei unverschuldetem Fernbleiben vom Arbeitsplatz gewährleisten und verhindern, dass an sich gesunde Unternehmen und Selbstständigerwerbende infolge Corona-bedingter Liquiditätsengpässe in den Konkurs getrieben werden. 8⁴ Die Covid-19-SBüV regelte beispielsweise die Vergabe von durch Solidarbürgschaften gesicherten Krediten an Unternehmen; die Absicherung der vier Bürgschaftsorganisationen vor allfälligen Verlusten durch den Bund und die Möglichkeit der Banken zur Refinanzierung bei der SNB. Das Solidarbürgschaftssystem ergänzte die vom Bundesrat im ähnlichen Zeitraum beschlossenen Massnahmen im Bereich der Kurzarbeit und des Covid-19-Erwerbsausfalls, wo es ebenfalls um die Stützung des Wirtschaftsstandorts Schweiz ging. 8⁵
Zwischen dem 26. März und dem 31. Juli 2020 wurden knapp 138 000 verbürgte Kredite in der Höhe von fast 17 Milliarden Franken durch die Banken und die PostFinance AG insbesondere an KMU vergeben. 8⁶ Eine rechtliche Grundlage in einem damals geltenden Bundesgesetz (z. B. im EpG, im Landesversorgungsgesetz vom 17. Juni 2016 8⁷ [LVG] oder im Bundesgesetz über die Finanzhilfen an Bürgschaftsorganisationen für KMU vom 6. Oktober 2006 8⁸ ) gab es für das Covid-19-Kredit-Solidarbürgschaftssystem nicht. Der einzige rechtliche Weg führte über die verfassungsmässige Notrechtskompetenz des Bundesrats (Art. 185 Abs. 3 BV) und das Dringlichkeitsverfahren der Finanzdelegation (FinDel) (Art. 28 FHG, Einholen von Verpflichtungskrediten).
Die Geltungsdauer der Covid-19-SBüV musste gemäss Artikel 7 d RVOG auf sechs Monate befristet werden. Die Notverordnung wurde durch das Covid-19-Solidarbürgschaftsgesetz vom 18. Dezember 2020 ⁸9 (Covid-19-SBüG) abgelöst, das als dringliches Bundesgesetz bereits am darauffolgenden Tag in Kraft trat. Es gilt bis zum 31. Dezember 2032. Das Referendum wurde nicht ergriffen.
Es wurden verschiedene Motionen eingereicht, die einzelne Aspekte der Covid-19-SBüV ändern wollten, insbesondere die Motion 20.3857 Bregy «Schaffung eines Anreizsystems zur Rückzahlung der Covid-19-Kredite», die Motion 20.3813 Regazzi «Auch Covid-19-Kredite Plus für die gesamte Dauer der Solidarbürgschaft nicht als Fremdkapital berücksichtigen», die Motion 20.3171 Finanzkommission Ständerat «Anpassung der Solidarbürgschaftsverordnung zur Ermöglichung eines zweiten Kreditbegehrens», die Motion 20.3137 WAK-N «Covid-19-Solidarbürgschaftsverordnung. Frist zur Rückzahlung auf acht Jahre verlängern» und die Motion 20.3149 Finanzkommission Nationalrat (FK-N) «Erweiterung der Einsichtsrechte bei Bürgschaften». Diese und zum Teil ähnlich lautende Anträge während der Beratung des Covid-19-SBüG wurden vom Parlament aber grösstenteils abgelehnt, da ansonsten in das bestehende und gut funktionierende Covid-19-Kredit-Solidarbürgschaftssystem eingegriffen worden wäre. Es galt stets, Planungs- und Rechtsunsicherheiten zu vermeiden.
Es hat sich sehr bewährt, dass das Covid-19-Kredit-Solidarbürgschaftssystem wesentlich an bestehende Strukturen angeknüpft hat: Banken/PostFinance AG als Kreditgeberinnen; vier Bürgschaftsorganisationen als Solidarbürginnen; Easygov-Plattform des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung usw. Das SECO entwickelte in Zusammenarbeit mit der EFV und der Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) zeitnah ein umfangreiches Prüfkonzept für die Missbrauchsbekämpfung bei Covid-19-Krediten. Die EFK nahm zudem regelmässig Prüfungen bezüglich der Missbrauchsbekämpfung vor. 9⁰
Der Bundesrat hiess am 29. November 2023 einen Zwischenbericht zu den Covid-19-Krediten gut. 9¹ Auf der Website
covid19.easygov.swiss stellt das EFD zudem zahlreiche Auswertungen zu den Covid-19-Krediten zur Verfügung, die wöchentlich aktualisiert werden.
8² Medienmitteilung des Bundesrates vom 25.3.2020, Der Bundesrat verabschiedet Notverordnung zur Gewährung von Krediten mit Solidarbürgschaften des Bundes,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 25.3.2020 (12.2.2024).
8³ AS 2020 1077 (aufgehoben), Medienmitteilung des Bundesrates vom 25.3.2020, Der Bundesrat verabschiedet Notverordnung zur Gewährung von Krediten mit Solidarbürgschaften des Bundes, www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 25.3.2020 (12.2.2024).
8⁴ Erläuterungen vom 14. April 2020 zur Covid-19-SBüV, S. 2,
www.covid19.easygov.swiss > Covid-19-Kredite > Rechtsgrundlagen (12.2.2024).
8⁵ Medienmitteilung des Bundesrates vom 20.3.2020, Coronavirus: Massnahmenpaket zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen, www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 20.3.2020 (12.2.2004); Medienmitteilung des Bundesrates vom 25.3.2020, Coronavirus: Der Bundesrat verabschiedet Notverordnung zur Gewährung von Krediten mit Solidarbürgschaften des Bundes, www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 25.3.2020 (12.2.2024); BBl 2020 8477 , 8482 f. und 8534.
8⁶ www.covid19.easygov.swiss > Covid-19-Kredite, Tabelle «Übersicht über die Covid-19-Überbrückungskredite nach Kanton» (12.2.2024).
8⁷ SR 531
8⁸ SR 951.25
⁸9 SR 951.26 .
9⁰ Jahresbericht EFK 2022, S. 15, www.efk.admin.ch
> Jahresberichte > 2022 (12.2.2024); EFK, Covid-19-Prüfungen, Dritter Zwischenbericht vom 31. Juli 2020, S. 38 ff., www.efk.admin.ch > Publikationen > Berichte > Suchen > Covid-19 (12.2.2024).
9¹ Zwischenbericht «Covid-19-Solidarbürgschaftskredite» vom 29. November 2023, Anhang zur Medienmitteilung des Bundesrates vom 29.11.2023, Bundesrat verabschiedet Zwischenbericht zu den Covid-19-Solidarbürgschaftskrediten,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 29.11.2023 (3.6.2024).

5.2.5 Alternativen

Die Frage nach den Alternativen zum Notrecht hängt von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere den rechtlichen Rahmenbedingungen, der Dringlichkeit der Situation und der Wirksamkeit der Massnahmen. Mit Bezug auf die Pandemiebekämpfung ist zudem zu beachten, dass das EpG für die gesundheitspolizeilichen Massnahmen (abgesehen von wenigen Ausnahmen) eine ordentliche gesetzliche Grundlage bereithält.
Insbesondere in der ersten Phase der Covid-19-Pandemie wäre Dringlichkeitsrecht unter Einbezug des Parlaments (Art. 165 BV) aufgrund der notwendigen gesundheitspolizeilichen Massnahmen, die auch das Funktionieren des Parlaments einschränkten ( Social Distancing ), keine realistische Option gewesen. Das Parlament sah sich in der Frühjahrssession 2020 ausserstande, die Beratungen wie geplant zu Ende zu bringen. Am 15. März 2020 fassten die Ratsbüros auf Antrag der Verwaltungsdelegation den Beschluss, auf die Durchführung der dritten Woche der Frühjahrssession zu verzichten. 9² In späteren Phasen der Covid-19-Pandemie war das Parlament regelmässig gesetzgeberisch involviert. Der Bundesrat musste dem Parlament innert sechs Monaten einen Gesetzesentwurf zur Ablösung der auf das Notverordnungsrecht gemäss Artikel 185 Absatz 3 BV gestützten Bestimmungen unterbreiten, die nicht ausser Kraft treten sollten (vgl. dazu Ziff. 5.2.6).
9² BBl 2022 301 , Ziff. 2.2.2.1

5.2.6 Überführung

Viele der Massnahmen, die der Bundesrat gestützt auf seine Notrechtskompetenzen erlassen hat, wurden später in ordentliches Recht überführt, soweit sie sich nicht bereits auf eine bestehende gesetzliche Grundlage (wie z. B. Art. 6 Abs. 2 EpG) stützen konnten. Das wichtigste Beispiel dafür ist das Covid-19-Gesetz. Der Bundesrat hatte am 8. April 2020 beschlossen, dem Parlament zwecks Überführung der bundesrätlichen Notverordnungen den Erlass eines dringlichen Bundesgesetzes zu beantragen. Damit wurde eine formell-gesetzliche Grundlage geschaffen. Damit der Bundesrat die Geltungsdauer der Covid-Verordnungen verlängern konnte, musste er dem Parlament spätestens sechs Monate nach dem Inkrafttreten der von ihm gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV erlassenen Verordnungen im Rahmen einer Botschaft den Entwurf einer gesetzlichen Grundlage unterbreiten (Art. 7 d Abs. 2 Bst. a RVOG). Der Entwurf des Covid-19-Gesetzes beinhaltete wichtige rechtsetzende Bestimmungen, die nach Artikel 164 Abs. 1 BV in Form des Bundesgesetzes zu erlassen sind und damit gemäss Artikel 163 Abs. 1 BV in die Zuständigkeit der Bundesversammlung fallen. Die rechtswissenschaftliche Lehre bezeichnete das Covid-19-Gesetz teilweise als Blankogesetz, das im Wesentlichen nur Delegationsnormen enthält. Mit dem Covid-19-SBüG wurde eine weitere formell-gesetzliche Rechtgrundlage geschaffen, welche die Covid-19-SBüV in ordentliches Recht überführte.
Im Zusammenhang mit der Referendumsabstimmung vom 13. Juni 2021 zum Covid-19-Gesetz stellte sich die Frage, wie mit dringlich erklärten nachträglichen Änderungen an einem dringlich erklärten Grunderlass umzugehen ist. Diese Frage wird im Bericht des Bundesrats vom 15. März 2024 9³ in Erfüllung des Postulats 22.3010 SPK-N «Referenden zu dringlich erklärten Bundesgesetzen und Verhältnis zum Erneuerungsverbot gemäss Artikel 165 Absatz 4 der Bundesverfassung. Klärungsbedarf» behandelt.
Bei der Überführung von Notverordnungen in ordentliches Recht stellt sich die grundsätzliche Frage, welcher Inhalt überführt werden soll. Entscheidet sich das Parlament für eine vollständige Überführung, wird das Notrecht perpetuiert, was aus rechtsstaatlicher Sicht nicht unproblematisch ist. Entscheidet sich der Gesetzgeber hingegen im Sinne eines Kompromisses für eine bloss teilweise Überführung des Inhalts aus der Notverordnung in ein Bundesgesetz, dürfte dies dazu führen, dass im Krisenfall der Bundesrat wieder auf seine verfassungsunmittelbare Notrechtskompetenz zurückgreifen muss, um die Krise zu bewältigen, was ebenfalls aus rechtsstaatlicher Sicht unbefriedigend ist. Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von Videokonferenzen bei Verhandlungen und Einvernahmen im Zivilverfahren: Die Covid-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht vom 16. April 2020 sah die Möglichkeit vor, unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne das Einverständnis der Parteien eine Verhandlung per Videokonferenz durchzuführen. 9⁴ Die revidierte Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 9⁵ sieht in Artikel 141 a zwar die Möglichkeit von Videokonferenzen vor. Sämtliche Parteien müssen jedoch hiermit einverstanden sein. 9⁶ Auch wenn die gewählte Regelung in Bezug auf die Rechte der Parteien verhältnismässiger ausfällt, müsste die Einführung von obligatorischen Videokonferenzen im Krisenfall künftig wohl weiterhin per Notverordnung erfolgen, falls das EpG hierfür keine Grundlage bietet. Dieses Beispiel verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Antizipation, in dem sich der Gesetzgeber bei der Formulierung von spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen befindet (vgl. Ziff. 8.2.2).
9³ www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 22.3010
9⁴ AS 2020 1229 (ausser Kraft; Art. 2 der Verordnung vom 16. April 2020 über Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang mit dem Coronavirus [Covid-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht]).
9⁵ SR 272
9⁶ BBl 2023 786 , Art. 141 a . (Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Änderungen vom 17. März 2023 [noch nicht in Kraft]).

5.2.7 Reaktionen

Mit den Massnahmen zur Bekämpfung und Bewältigung der Covid-19-Pandemie griff der Bundesrat tiefer als je seit dem Zweiten Weltkrieg in das gesellschaftliche Leben ein. Zum einen hatte die Krankheit selber schwere Folgen. Zum anderen beschränkten die vom Bund und den Kantonen angeordneten primären Massnahmen zur Pandemiebekämpfung, wie sie das ordentliche Recht für die Kantone und in einer besonderen Lage für den Bundesrat bereithält, die Grundrechte teilweise sehr weitgehend ein und wirkten sich einschneidend auf die individuelle Lebensführung aus. Bund und Kantone unterstützten Einzelpersonen und Unternehmen über längere Zeit in grossem Mass. Mit Andauern der Situation wurde aber auch vermehrt Kritik laut insbesondere hinsichtlich der Begründbarkeit der Massnahmen und hinsichtlich deren Auswirkungen auf die individuellen Freiheiten und Grundrechte.
Umso wichtiger ist die Überprüfung des staatlichen Handelns während der Covid-19-Pandemie. Sie fliesst, soweit es um das vom Bundesrat angewendete Notrecht geht, aufgrund der Postulate 23.3438 RK-N «Anwendung von Notrecht» und 20.3440 Schwander «Präzisierung des Schutzbereichs in Artikel 185 Absatz 1 der Bundesverfassung» auch in den vorliegenden Bericht ein. Das Covid-Krisenmanagement des Bundesrates und der Verwaltung war überdies Gegenstand folgender Berichte:
-
Bundeskanzlei: Bericht vom 11. Dezember 2020 zur Auswertung des Krisenmanagements in der Covid-19-Pandemie (1. Phase / Februar bis August 2020) 9⁷ ;
-
Bundeskanzlei: Bericht vom 22. Juni 2022 zur Auswertung des Krisenmanagements der Bundesverwaltung in der Covid-19-Pandemie (2. Phase / August 2020 bis Oktober 2021) 9⁸ ;
-
GPK-N und GPK-S: «Krisenorganisation des Bundes für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie (Januar bis Juni 2020)». Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte vom 17. Mai 2022 9⁹ ;
-
Bundesrat: «Krisenorganisation des Bundes für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie (Januar bis Juni 2020)». Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte vom 17. Mai 2022. Stellungnahme des Bundesrats vom 23. September 2022 10⁰ ;
-
GPK-S: «Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie». Bericht der GPK-S vom 10. Oktober 2023 1⁰1 ;
-
GPK-N: «Wahrung der Grundrechte durch die Bundesbehörden bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie am Beispiel der Ausweitung des Covid-Zertifikats». Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 30. Juni 2023 1⁰2 ;
-
Bundesrat: «Wahrung der Grundrechte durch die Bundesbehörden bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie am Beispiel der Ausweitung des Covid-Zertifikats». Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 30. Juni 2023. Stellungnahme des Bundesrats vom 29. September 2023 1⁰3 .
Die Geschäftsprüfungskommissionen haben weitere Berichte zu Einzelaspekten der vom Bund ergriffenen Massnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie publiziert. 1⁰4
9⁷ www.bk.admin.ch > Dokumentation > Unterstützung der Regierung > Führungsunterstützung > Krisenmanagement > Dokumentation Krisenmanagement (12.2.2024).
9⁸ www.bk.admin.ch > Dokumentation > Unterstützung der Regierung > Führungsunterstützung > Krisenmanagement > Dokumentation Krisenmanagement (geprüft 12.2.2024).
9⁹ BBl 2022 1801
10⁰ BBl 2022 2392
1⁰1 BBl 2023 2852
1⁰2 BBl 2023 1956
1⁰3 BBl 2023 2247
1⁰4 www.parlament.ch > Kommissionen > Aufsichtskommissionen > GPK > Inspektion Covid-19-Pandemie (nach Jahren 2021-23 geordnet) (geprüft 12.2.2024).

5.2.8 Evaluation

Verbesserungspotenziale wurden identifiziert, um zukünftige Krisen besser bewältigen zu können. 1⁰5 Dies betrifft die Stärkung der Krisenvorsorge, die Verbesserung der Kommunikation und Koordination zwischen den beteiligten Akteuren oder die Entwicklung flexiblerer und effektiverer Massnahmen.
Im Zuge dieses Lernprozesses werden das EpG und der Pandemieplan einer Revision unterzogen. Die Motion 21.3963 Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit Nationalrat «Revision des Epidemiengesetzes bis Ende Juni 2023» scheiterte zwar am 1. Dezember 2022 im Ständerat. Der Grund dafür lag aber einzig in der Fristvorgabe, die der Ständerat für zu ambitiös hielt, zumal der Bundesrat zuvor schon zugesagt hatte, das EpG zu revidieren. 1⁰6
1⁰5 Bericht der Bundeskanzlei vom 11. Dezember 2020 «Auswertung des Krisenmanagements in der Covid-19-Pandemie (1. Phase / Februar bis August 2020)»; Bericht der Bundeskanzlei vom 22. Juni 2022 «Auswertung des Krisenmanagements der Bundesverwaltung in der Covid-19-Pandemie (2. Phase / August 2020 bis Oktober 2021)»; Bericht des Bundesrats vom 29. März 2023 «Verbesserte Krisenorganisation der Bundesverwaltung», mit weiteren Auswertungen und Grundlagen,
www.bk.admin.ch > Dokumentation > Führungsunterstützung > Krisenmanagement (geprüft 12.4.2024).
1⁰6 AB 2021 S. 1164 f.

5.3 Axpo-Rettungsschirm (2022)

5.3.1 Ausgangslage

Die Energiepreise stiegen im Sommer 2022 wegen des Ukrainekriegs, der Russlandsanktionen und wegen Unsicherheiten bei französischen Atomkraftwerken (AKW) sehr stark an, was unter anderem die Sicherheiten, welche die Stromversorger an der Strombörse leisten müssen, enorm in die Höhe trieb. 1⁰7 Der Bundesrat hatte die Botschaft vom 18. Mai 2022 1⁰8 zum Bundesgesetz über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft und zum Bundesbeschluss über einen Verpflichtungskredit für subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft verabschiedet. Das Parlament begann im Juni 2022 die Beratung, lehnte die vom Bundesrat gewünschte dringliche Beratung aber ab, unter anderem mit dem Argument, der Bundesrat solle notfalls Notrecht anwenden. 1⁰9 Anfang September 2022 stand das Schweizer Stromunternehmen Axpo wegen der erwähnten Sicherheitsleistungen vor einem akuten Liquiditätsengpass und es kam zum Einsatz von Notrecht. In den fraglichen Tagen halfen mehrere Länder ihren Versorgern kurzfristig mit milliardenschweren Liquiditätszusagen aus, zum Beispiel Österreich, Schweden und Finnland.
1⁰7 Medienmitteilung des Bundesrates vom 6.9.2022, Energie: Bundesrat aktiviert Rettungsschirm und gewährt Axpo einen Kreditrahmen,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 6.9.2022 (3.6.2024).
1⁰8 BBl 2022 1183
1⁰9 Medienmitteilung des Bundesrates vom 6.9.2022, Energie: Bundesrat aktiviert Rettungsschirm und gewährt Axpo einen Kreditrahmen,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 6.9.2022 (3.6.2024).

5.3.2 Verfassungsgrundlagen

Die Massnahmen zur Rettung des Energiekonzerns Axpo stützten sich auf die verfassungsmässige Notrechtskompetenz in Artikel 185 Absatz 3 BV.

5.3.3 Notverordnung

Der Bundesrat reagierte auf die sich verschärfende Lage bei der Stromversorgung mit einer Notverordnung: Er erliess die Verordnung vom 5. September 2022 11⁰ über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft (FiREVO). Zudem gewährte das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) der AXPO im Rahmen einer Verfügung einen Kreditrahmen über 4 Milliarden Franken. 11¹ Der Kreditrahmen wurde zuvor durch die FinDel genehmigt. Der Bundesrat stützte sich bei der FiREVO auf die Modalitäten, die im dringlichen, vom Parlament aber noch nicht fertig beratenen Bundesgesetz vom 30. September 2022 1¹2 über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft (FiREG) enthalten waren.
11⁰ AS 2022 492
11¹ Medienmitteilung des Bundesrates vom 6.9.2022, Energie: Bundesrat aktiviert Rettungsschirm und gewährt Axpo einen Kreditrahmen,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 6.9.2022 (3.6.2024).
1¹2 SR 734.91

5.3.4 Begründung

Die Axpo ist, vor allem als Stromproduzentin (Wasserkraft, AKW), neben Alpiq und BKW eines der systemkritischen Stromversorgungsunternehmen der Schweiz. Ihr (finanzieller) Kollaps hätte unberechenbare Folgen gehabt. So hätten Prozesse für die Energieproduktion zumindest kurzzeitig stillstehen können. Es drohte nicht nur eine Ansteckung von anderen Versorgern, die mit der Axpo verbunden sind (z. B. Tochtergesellschaften und Gegenparteien in Handelsbeziehungen), sondern auch eine Beeinträchtigung der Stabilität des gesamtschweizerischen Stromnetzes. Dieses hängt von ausgeglichenen Stromeinspeisungen und Ausspeisungen (Produktion und Verbrauch) ab. Dafür sind die grossen Stromkonzerne massgeblich verantwortlich. 1¹3 Diese Gemengelage stellte ein Risiko für die Stromversorgungssicherheit der Schweiz dar. Stromausfälle verursachen grosse, namentlich auch wirtschaftliche Schäden, da die Erbringung vieler fundamentaler Dienstleistungen vom Strom abhängt. Mit dem Kreditrahmen wollte der Bundesrat verhindern, dass die Axpo in Liquiditätsprobleme gerät, welche die Energieversorgung der Schweiz gefährden könnten. 1¹4
1¹3
Walther, RETO
, Stromversorgungssicherheit: Quelle staatlicher Legitimität und Solidarität?, Schriften zum Energierecht 29, Zürich: Dike, 2024, S. 28 f., 31.
1¹4 Medienmitteilung des Bundesrates vom 6.9.2022, Energie: Bundesrat aktiviert Rettungsschirm und gewährt Axpo einen Kreditrahmen,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 6.9.2022 (3.6.2024).

5.3.5 Alternativen

Das Bundesamt für Energie (BFE) hatte ab März 2022 mit der EFV und weiteren Stellen das FiREG vorbereitet, um rechtzeitig für den «Notfall» bereit zu sein. Das Parlament lehnte im Juni eine dringliche Beratung des FiREG ab. Somit blieb Anfang September, wenn man das beschriebene Risiko nicht in Kauf nehmen wollte, das Notrecht als einzige Lösung übrig.

5.3.6 Überführung

Das FiREG soll verhindern, dass es bei starken Preisaufschlägen im internationalen Stromhandel zu einer Kettenreaktion und schlimmstenfalls zu einem Systemkollaps kommt. Systemkritische Schweizer Stromunternehmen können im Fall von unvorhergesehenen Marktentwicklungen beim Bund Darlehen zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen beziehen. Das FiREG wurde sehr rasch fertig beraten, für dringlich erklärt (Art. 165 Abs. 1 BV) und trat am 1. Oktober 2022 in Kraft, zum Teil - vor dem Hintergrund des Axpo-Falls - mit Verschärfungen (Bonusverbot). Das FiREG unterstand als dringliches Bundesgesetz dem fakultativen Referendum (Art. 141 Abs. 1 Bst. b BV) und gilt gemäss Artikel 28 FiREG befristet bis zum 31. Dezember 2026 (Art. 165 Abs. 1 BV).
Das UVEK hat die auf die FiREVO gestützte Verfügung am 5. Dezember 2022 an das FiREG angepasst. Am 1. Dezember 2023 konnte diese Verfügung wieder aufgehoben werden, weil die Axpo belegen konnte, dass sie auf den Kreditrahmen nicht mehr angewiesen war. Die Axpo zog in der ganzen Zeit, sowohl unter der auf die FiREVO gestützten Verfügung als auch unter jener, die sich auf das FiREG stützte, keine Kreditlinie. Es floss somit kein Geld an die Axpo.

5.3.7 Reaktionen

Die Intervention des Bundes im Hinblick auf die rasche Stabilisierung der Energieversorgung wurde begrüsst. Kritisiert wurde, dass mit der getroffenen Regelung falsche Anreize gesetzt würden. Skeptisch betrachtet wurde auch die passive Rolle der Eignerkantone (v. a. Zürich und Aargau) und der Umstand, dass der Bund an ihrer Stelle intervenieren musste. Die kritisierten Punkte sind jedoch im FiREG nicht nennenswert anders geregelt. 1¹5
1¹5
Walther, RETO
, Stromversorgungssicherheit: Quelle staatlicher Legitimität und Solidarität?, Schriften zum Energierecht 29, Zürich: Dike, 2024, S. 20, 40 f.

5.3.8 Evaluation

Das BFE gleiste das FiREG rechtzeitig auf. Im Nachgang konzentrierte es sich vor allem darauf, die in der FiREVO und im FiREG vorgesehene Überwachung vorzunehmen, damit sich die Risiken des Bundes mit dem Darlehen nicht materialisieren. Mehrere Kantone, die direkt oder indirekt grosse Aktionäre der Axpo sind, beschlossen überdies, eine Analyse vorzunehmen. Sie gaben bei einem externen und unabhängigen Wirtschaftsprüfungsunternehmen eine Geschäftsführungsprüfung in Auftrag. Diese Prüfung wurde abgeschlossen. Der entsprechende Bericht stellte bei der Axpo keine wesentlichen Mängel fest. 1¹6
Zum anderen laufen Arbeiten auf Bundesebene. So ist die Motion 22.4132 Herzog «Eingrenzung der volkswirtschaftlichen Risiken von systemkritischen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft» hängig. Parallel dazu erarbeitet die Verwaltung bereits konkrete Vorlagen. Eine solche Vorlage enthält Regeln zu Governance, Liquidität und Eigenkapital. Sie soll nach dem 31. Dezember 2026 das befristete FiREG ablösen. Die Botschaft dazu soll im Februar 2025 vorliegen. Einige Monate später wird eine weitere Vorlage präsentiert werden, die ein unterbruchfreies Funktionieren wichtiger Funktionen wie der Stromproduktion auch im Konkurs oder in einem Nachlassverfahren sicherstellen soll («Business Continuity Management»).
1¹6 Deloitte, Bericht zur Geschäftsführungsprüfung der Axpo,
www.axpo.com > Suche > Geschäftsführungsprüfung (3.6.2024).

5.4 CS-Übernahme (2023)

5.4.1 Ausgangslage

Mitte März 2023 verschärfte sich in einer angespannten Lage der Finanzmärkte ein seit längerer Zeit bestehender Vertrauensverlust in Bezug auf die CS derart, dass sie ohne einschneidende Massnahmen ihre Geschäftstätigkeit nicht mehr hätte weiterführen können. Dies führte der Bundesrat in seiner Botschaft vom 6. September 2023 1¹7 zur Änderung des Bankengesetzes aus. Der Bundesrat unterstützte daraufhin die Übernahme der CS durch die UBS mit einem Massnahmenpaket. Die Unterstützung diente dazu, eine erfolgreiche Umsetzung der Übernahme zu gewährleisten und damit verbunden die Stabilität des Finanzsystems zu schützen. 1¹8
1¹7 BBl 2023 2165 , 2167
1¹8 Medienmitteilung des Bundesrates vom 19.3.2023, Sicherung der Finanzmarktstabilität: Der Bundesrat begrüsst und unterstützt die Übernahme der Crédit Suisse durch die UBS,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 19.3.2023 (12.2.2024).

5.4.2 Verfassungsgrundlagen

Im vorliegenden Fall stützten sich die Massnahmen des Bundesrates auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen in den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV, weil die notwendigen Massnahmen teilweise noch keine Rechtsgrundlage im ordentlichen Recht gehabt hätten, namentlich auch nicht im BankG, wobei eine Vorlage zur Schaffung einer staatlichen Liquiditätssicherung ( Public Liquidity Backstop , PLB) schon im März 2022 vom Bundesrat angekündigt worden war. 1¹9
1¹9 Medienmitteilung des Bundesrates vom 11.3.2022, Bundesrat will neues Instrument zur Stärkung der Stabilität des Finanzsektors einführen,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 11.3.2022 (12.2.2024).

5.4.3 Notverordnung

Der Bundesrat erliess gestützt auf die genannten Verfassungsgrundlagen die Verordnung vom 16. März 2023 12⁰ über zusätzliche Liquiditätshilfe-Darlehen und die Gewährung von Ausfallgarantien des Bundes für Liquiditätshilfe-Darlehen der Schweizerischen Nationalbank an systemrelevante Banken (CS-Notverordnung). Um die Fortführung der Geschäftstätigkeit der CS sicherzustellen und die am 19. März 2023 angekündigte Übernahme der CS durch die UBS zu unterstützen, schaffte die CS-Notverordnung die rechtlichen Grundlagen für insbesondere folgende Massnahmen:
-
100 Milliarden Franken zusätzliche Liquiditätshilfe-Darlehen: Liquiditätshilfe-Darlehen der SNB für die CS und UBS, abgesichert mit dem Konkursprivileg zugunsten der SNB, aber ohne staatliche Garantie des Bundes (sogenannte zusätzliche Emergency Liquidity Assistance [ELA+]).
-
100 Milliarden Franken Liquiditätshilfe-Darlehen mit Ausfallgarantie: Liquiditätshilfe-Darlehen der SNB, abgesichert mit dem Konkursprivileg zugunsten der SNB, geknüpft an strenge Voraussetzungen, und zudem mittels staatlicher Garantie des Bundes abgesichert (Public Liquidity Backstop [PLB]). Das Konkursprivileg und die strengen Voraussetzungen reduzierten das Risiko für den Bund deutlich. Der Darlehensvertrag zwischen der SNB und der CS zum PLB wurde per 11. August 2023 beendet.
-
Maximal 9 Milliarden Franken staatliche Garantie an die UBS zur Absicherung von allfälligen Verlusten beim Verkauf von bestimmten Aktiven der CS. Es handelte sich um Aktiven, die nicht zur Strategie der UBS passen, die aber von der UBS im Zuge der Gesamtlösung mittels Absorptionsfusion von der CS übernommen werden mussten. Die ersten 5 Milliarden Franken an allfälligen Verlusten auf diesen Positionen wären in jedem Fall zu Lasten der UBS gegangen. Der Garantievertrag zwischen dem Bund und der UBS zur Verlustübernahme wurde per 11. August 2023 beendet.
Die FINMA spricht in ihrem Bericht vom 19. Dezember 2023 12¹ «Lessons Learned aus der CS-Krise» insgesamt von Liquiditätshilfen in der maximalen Höhe von bis zu 250 Milliarden Franken. Davon wurden 200 Milliarden Franken gestützt auf Notrecht zur Verfügung gestellt.
Einhergehend mit diesen Massnahmen wurden zwei dringliche Verpflichtungskredite beantragt und von der FinDel bewilligt.
12⁰ SR 952.3
12¹ S. 40 des Berichts, www.finma.ch > News > FINMA veröffentlicht Bericht und Lehren zur Credit-Suisse-Krise (geprüft: 17.3.2024).

5.4.4 Begründung

Der Bundesrat, die SNB und die FINMA mussten sehr kurzfristig intervenieren, um die Schweizerische Volkswirtschaft zu schützen und Schäden für das Land abzuwenden. ¹22 Die getroffenen Massnahmen bezweckten, die Stabilität der schweizerischen Volkswirtschaft und des schweizerischen Finanzsystems zu sichern. ¹23 Ein ungeordneter Ausfall einer grossen Bank wie der CS hätte für die Schweiz dramatische Folgen mit ausserordentlich hohen Kosten für die Schweizer Volkswirtschaft gehabt. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang von systemrelevanten Banken. Der Konkurs einer solchen systemrelevanten Bank kann die Stabilität der Schweizer Volkswirtschaft und des schweizerischen Finanzsystems erheblich schädigen. Wenn es sich um eine grosse, global tätige Bank handelt, kommt verschärfend ein erhöhtes Ansteckungsrisiko für die globalen Finanzmärkte dazu.
¹22 www.efd.admin.ch > Finanzplatz > Übernahme der Credit Suisse durch die UBS.
¹23 www.efd.admin.ch > Bundesrat > EFD > Finanzplatz > Übernahme der Credit Suisse durch die UBS > FAQ Credit Suisse vom 9. Februar 2024 (aktualisierte Version), S. 5.

5.4.5 Alternativen

Der Bundesrat führte in seiner Botschaft vom 29. März 2023 ¹24 über den Nachtrag IA zum Voranschlag 2023 aus, dass wegen der raschen Entwicklungen in der Woche vom 13. März 2023 und der damit verbundenen zeitlichen Dringlichkeit weder ein dringliches Bundesgesetz noch eine Notverordnung des Parlaments eine in zeitlicher Hinsicht adäquate Alternative waren, um den Schutz der Schweizer Volkswirtschaft und des Schweizer Finanzsystems zu gewährleisten. Ohne entsprechende Massnahmen hätte eine Zahlungsunfähigkeit der CS in der Woche vom 20. März 2023 gedroht.
Am 19. März 2023 standen zur Lösung der akuten Probleme der CS verschiedene Optionen offen, wobei sich aber eine Übernahme der CS durch die UBS für den Bundesrat als die beste Gesamtlösung für die Finanzstabilität und die Schweizer Volkswirtschaft erwies. ¹25 Theoretisch hätten folgende Optionen bestanden: ¹26
-
Einleitung eines Sanierungsverfahrens;
-
Konkursliquidation der Finanzgruppe und Aktivierung des Schweizer Notfallplans;
-
vorübergehende Übernahme durch den Staat ( Temporary Public Ownership ).
Die beiden erstgenannten Alternativen hätten gestützt auf das bestehende BankG-Instrumentarium/Too-big-to-fail-Regime umgesetzt werden können. Aus Sicht des Bundesrats waren diese Alternativen klar weniger geeignet, um die Situation zu stabilisieren, während eine Temporary Public Ownership ebenfalls den Erlass von Notrecht vorausgesetzt und gewichtige Nachteile mit sich gebracht hätte. ¹27
Zu beachten ist, dass bei allen Alternativen auf Notrecht basierende staatliche Liquiditätshilfen hätten bereitgestellt werden müssen, ähnlich den getroffenen Liquiditätsmassnahmen (vgl. Kap. 5.4.3).
¹24 Botschaft vom 29. März 2023 über den Nachtrag IA zum Voranschlag 2023, S. 11,
www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Nachtragskredite (13.2.2024).
¹25 Botschaft vom 29. März 2023 über den Nachtrag IA zum Voranschlag 2023, S. 17 f.,
www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Nachtragskredite (13.2.2024).
¹26 www.efd.admin.ch > Bundesrat > EFD > Finanzplatz > Übernahme der Credit Suisse durch die UBS, FAQ zur Credit Suisse vom 9. Februar 2024 (aktualisierte Version), S. 6 f. (13.2.2024).
¹27 Botschaft vom 29. März 2023 über den Nachtrag IA zum Voranschlag 2023, S. 17 f.,
www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Nachtragskredite (geprüft 13.2.2024).

5.4.6 Überführung

Die Überführung des Notrechts in ordentliches Recht mittels einer Änderung des BankG ist im Gang. Der Bundesrat überwies die Botschaft vom 6. September 2023 ¹28 zur Änderung des Bankengesetzes an das Parlament. Aufgrund der Beendigung sämtlicher Garantien des Bundes für die CS/UBS am 11. August 2023 wurde die Überführung in Gesetzesrecht materiell reduziert, da einzelne notrechtliche Elemente nicht mehr notwendig sind.
¹28 BBl 2023 2165

5.4.7 Reaktionen

Als Folge der Übernahme der CS durch die UBS entschied das Parlament mit Bundesbeschluss vom 8. Juni 2023 über die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission zur Untersuchung der Geschäftsführung der Behörden im Zusammenhang mit der Notfusion der CS mit der UBS, eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) einzusetzen. ¹29 Gegenstand der parlamentarischen Untersuchung wird die Geschäftsführung der letzten Jahre des Bundesrates, der Bundesverwaltung und anderer Träger von Aufgaben des Bundes im Zusammenhang mit der Notfusion der CS mit der UBS sein, soweit sie der parlamentarischen Oberaufsicht unterliegen. Dabei werden die Rechtmässigkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit der genannten Tätigkeiten oder der Behörden und Organe sowie deren Zusammenwirken untereinander und mit Dritten untersucht werden.
¹29 BBl 2023 1369

5.4.8 Evaluation

Unter Berücksichtigung der öffentlichen Reaktionen 13⁰ entschied der Bundesrat Ende März 2023, die Übernahme der CS durch die UBS aufzuarbeiten und das Too-big-to-fail-Regelwerk zu evaluieren. Er tut dies gestützt auf Artikel 52 BankG, der den Bundesrat zu regelmässiger Berichterstattung zu systemrelevanten Banken verpflichtet. 13¹ Am 10. April 2024 veröffentlichte der Bundesrat seinen bisher letzten Bericht ¹32 zur Bankenstabilität. Dieser befasst sich ausführlich mit der Aufarbeitung der Krise der CS. Er identifiziert den Handlungsbedarf, wobei es das Ziel ist, die Resilienz und Stabilität der systemrelevanten Banken und des Schweizer Finanzplatzes zu stärken, um die Risiken für die Volkswirtschaft und die Steuerzahlenden zu minimieren. ¹33
13⁰ Ziff. 5.4.7
13¹ Medienmitteilung vom 29.3.2023, Bundesrat verabschiedet Sonderbotschaft zu Verpflichtungskrediten für die Schweizerische Nationalbank und die UBS,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 29.3.2023 (15.2.2024).
¹32 www.efd.admin.ch > Finanzplatz > Bericht des Bundesrats zur Bankenstabilität
¹33 www.efd.admin.ch > Finanzplatz > Bericht des Bundesrats zur Bankenstabilität, Zusammenfassung des Berichts, S. 2.

5.5 Notrechtsfälle mit spezifischem Bezug zur Aussenpolitik

5.5.1 Sanktionen im Allgemeinen

Notrecht wurde auch in der Schweizer Aussenpolitik angewendet. Insbesondere vor dem Erlass des Embargogesetzes vom 22. März 2002 ¹34 (EmbG), das am 1. Januar 2003 in Kraft trat, wurde die Durchsetzung internationaler Sanktionen direkt auf die BV gestützt (Art. 184 Abs. 3 BV oder die Vorläuferbestimmung in Art. 102 Ziff. 8 aBV). Doch auch heute kann Notrecht im Zusammenhang mit Embargomassnahmen zur Anwendung kommen. So hält Artikel 1 Absatz 2 EmbG explizit fest, dass Massnahmen des Bundesrates zur Wahrung der Interessen des Landes nach Artikel 184 Absatz 3 der Bundesverfassung vorbehalten bleiben. Das EmbG hindert den Bundesrat somit nicht daran, nötigenfalls auch gestützt auf Artikel 184 Absatz 3 BV Sanktionen zu erlassen, ohne dass diese zuvor auf internationaler Ebene beschlossen wurden (unilaterale Massnahmen), zumal derartige Massnahmen nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts grundsätzlich erlaubt sind, wie der Bundesrat in der Botschaft vom 20. Dezember 2000 ¹35 zum Bundesgesetz über die Durchsetzung von internationalen Sanktionen ausführt. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Übernahme von internationalen Sanktionen nicht vom Anwendungsbereich des EmbG gedeckt ist oder wenn aufgrund des Neutralitätsrechts im militärischen Bereich gewisse Beschränkungen im Sinne des Gleichbehandlungsgebotes auf beide Konfliktparteien ausgeweitet werden.
¹34 SR 946.231
¹35 BBl 2010 1433 , 1452

5.5.2 Sperrung von Vermögenswerten

Die Sperrung mutmasslich unrechtmässig erworbener Vermögenswerte ausländischer politisch exponierter Personen (PEP) erfolgte vor dem Erlass des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 2015 ¹36 über die Sperrung und die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte ausländischer politisch exponierter Personen (SRVG) ebenfalls gestützt auf die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz des Bundesrates in Artikel 184 Absatz 3 BV (oder Art. 102 Ziff. 8 aBV). ¹37 So reagierte der Bundesrat Anfang 2011 umgehend auf den politischen Umbruch in Nordafrika und sperrte die in der Schweiz gelegenen Gelder der gestürzten Präsidenten Ben Ali (Tunesien), Mubarak (Ägypten) und Gaddafi (Libyen) gestützt auf seine in Artikel 184 Absatz 3 BV verankerten Befugnisse. ¹38 Eine Sperrung von Vermögenswerten erfolgte unter anderem bereits beim Sturz von Ferdinand Marcos auf den Philippinen im Jahr 1986 unter der alten BV ¹39 sowie in den Fällen Mobutu aus Kongo und Duvalier aus Haiti. Gleiches gilt für die im Februar 2014 im Zusammenhang mit der Entmachtung von Präsident Janukowitsch angeordnete vorsorgliche Sperrung gegenüber gewissen Personen aus der Ukraine, die mangels einer formell-gesetzlichen Grundlage, die ein derartiges Vorgehen erlaubt hätte, erneut unmittelbar auf der Bundesverfassung beruhte. 14⁰ Die umgehende Sperrung von Vermögenswerten zweifelhafter Herkunft soll verhindern, dass diese aus der Schweiz abgezogen und in ein anderes Land überwiesen werden, bevor deren Ursprung geklärt werden kann. Durch die Sperrung der Vermögenswerte wird dem Herkunftsstaat die Möglichkeit gegeben, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, die im Zusammenhang mit den in der Schweiz liegenden Vermögenswerten stehen, und entsprechende Rechtshilfeersuchen an die Schweiz zu stellen. 14¹
Dieses notrechtliche Vorgehen wurde mit Blick auf rechtsstaatliche Kriterien und die demokratische Legitimation der Massnahmen als unbefriedigend erachtet. ¹42 Die Bundesversammlung beauftragte deshalb den Bundesrat in der Motion 11.3151 Leutenegger Oberholzer «Blockierung von Geldern gestürzter Potentaten», eine formell-gesetzliche Grundlage für die Sperrung von PEP-Geldern auszuarbeiten. ¹43 Mit dem SRVG wurden Teilaspekte der Sperrung, Einziehung und Rückerstattung von unrechtmässig erworbenen Vermögenswerten von PEP auf eine formell-gesetzliche Grundlage gestellt und damit die Transparenz und Rechtssicherheit gestärkt.
Weil das SRVG nur in ausserordentlichen Situationen und nur unter spezifischen Voraussetzungen anwendbar ist, bleibt eine Vermögenssperrung gestützt auf Artikel 184 Absatz 3 BV auch weiterhin möglich, wenn dies zur Wahrung und zum Schutz der Schweizer Interessen erforderlich ist. Diese Möglichkeit ist im Einzelfall zu prüfen.
¹36 SR 196.1
¹37 BBl 2014 5265 , 5278
¹38 BBl 2014 5265 , 5274 und 5300
¹39 BBl 2014 5265 , 5297
14⁰ BBl 2014 5265 , 5278
14¹ BBl 2014 5265 , 5297
¹42 BBl 2014 5265 , 5266 ; AB 2015 N 994
¹43 BBl 2014 5265 , 5266 .

5.5.3 Verbot terroristischer Gruppierungen

Gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV erliess der Bundesrat die Verordnung vom 7. November 2001 ¹44 über das Verbot der Gruppierung «Al-Qaïda» und verwandter Organisationen. Nach dreimaliger Verlängerung in den Jahren 2003, 2005 und 2008 wurde die Verordnung per 1. Januar 2012 in die auf drei Jahre befristete Verordnung der Bundesversammlung vom 23. Dezember 2011 ¹45 über das Verbot der Gruppierung Al-Qaïda und verwandter Organisationen überführt, die am 31. Dezember 2014 auslief. ¹46 Daraufhin wurde die Parlamentsverordnung weitegehend unverändert in das Bundesgesetz vom 12. Dezember 2014 ¹47 über das Verbot der Gruppierungen «Al-Qaïda» und «Islamischer Staat» sowie verwandter Organisationen überführt. ¹48 Dieses dringliche Bundesgesetz galt bis zum 31. Dezember 2018 und wurde vom Parlament bis zum 31. Dezember 2022 verlängert. ¹49 Aufgrund der angepassten Bestimmungen in den Artikeln 74 des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 15⁰ (NDG) und 260ter des Strafgesetzbuchs 15¹ (StGB) erübrigte sich das dringliche Bundesgesetz. ¹52 Gemäss Artikel 74 Absatz 1 NDG kann der Bundesrat eine Organisation oder Gruppierung verbieten, welche mittelbar oder unmittelbar terroristische oder gewalttätig-extremistische Aktivitäten propagiert, unterstützt oder in anderer Weise fördert und damit die innere oder äussere Sicherheit konkret bedroht. Von dieser Möglichkeit hat der Bundesrat Gebrauch gemacht. ¹53 Das NDG setzt jedoch einen betreffenden Verbots- oder Sanktionsbeschluss der Vereinten Nationen voraus (Art. 74 Abs. 2 NDG). Liegt ein solcher Verbots- oder Sanktionsbeschluss nicht vor, könnte der Bundesrat in eng begrenzten Ausnahmefällen weiterhin unmittelbar gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV ein Verbot erlassen, wenn die diesbezüglichen zeitlichen und inhaltlichen Dringlichkeitsanforderungen gegeben sind.
¹44 AS 2001 3040 (ausser Kraft)
¹45 AS 2012 1 (ausser Kraft)
¹46 BBl 2014 8925 , 8927
¹47 AS 2014 4565 (ausser Kraft)
¹48 BBl 2014 8925 , 8926
¹49 BBl 2018 6427 , 6518
15⁰ SR 121
15¹ SR 311.0
¹52 BBl 2018 6427 , 6518
¹53 BBl 2022 2548

5.5.4 Schutzmassnahmen gegenüber ausländischen Beschlüssen

Ein weiteres Beispiel für die Anwendung von Notrecht als Instrument der Schweizer Aussenpolitik ist die Börsenschutzmassnahme des Bundesrates im Jahre 2019. Mit der Börsenschutzmassnahme reagierte der Bundesrat auf einen Beschluss der Europäischen Union (EU). Die EU hatte die Äquivalenz im Börsenbereich Ende Juni 2019 auslaufen lassen. Aufgrund dessen musste das EFD per 1. Juli 2019 diese Massnahme zum Schutz der Schweizer Börseninfrastruktur aktivieren. Der Bundesrat sah diese Massnahme in der Verordnung vom 30. November 2018 ¹54 über die Anerkennung ausländischer Handelsplätze für den Handel mit Beteiligungspapieren von Gesellschaften mit Sitz in der Schweiz vor. Die Verordnung basiert auf Artikel 184 Absatz 3 BV. Die Überführung der bundesrätlichen Verordnung in das Finanzmarktinfrastrukturgesetz vom 19. Juni 2015 ¹55 (FinfraG) wurde anschliessend vom Parlament behandelt. Beide Kammern stimmten der Überführung der Massnahme in ordentliches Recht einstimmig (und ohne Enthaltungen) zu. Die Referendumsfrist verstrich im Juli 2023 ungenutzt. Die öffentliche Reaktion und Beurteilung dieser Massnahme fielen insgesamt positiv aus, die Massnahme traf weder auf Unverständnis noch auf Widerstand. Auch in der Lehre stiess sie mit Blick auf die Anwendung von Artikel 184 Absatz 3 BV nicht auf Kritik.
¹54 SR 958.2
¹55 SR 958.1

5.5.5 Notrecht zum Schutz des Völkerrechts

Auch im aussenpolitischen Kontext erlässt der Bundesrat Notrecht, um zu verhindern, dass die Schweiz internationales Recht verletzt. ¹56 Ein Beispiel hierfür ist der Fall zum Puschkin-Museum aus dem Jahre 2005. ¹57 Der Bundesrat verfügte gestützt auf Artikel 184 Absatz 3 BV, dass die Kulturgüter aus der Kunstsammlung des russischen Nationalmuseums Puschkin in Moskau, die von den Behörden des Kantons Wallis beschlagnahmt worden waren, die Schweiz verlassen dürfen. Der Bundesrat argumentierte damit, dass staatliche Kulturgüter völkerrechtlich als öffentliches Eigentum gelten, das grundsätzlich nicht beschlagnahmt werden darf. Damit bringt der Bundesrat zum Ausdruck, dass der Schutz des Völkerrechts im aussenpolitischen Interesse der Schweiz liegt und gegebenenfalls auch notrechtlich durchgesetzt wird.
¹56 Das Gegenstück zum Schutz des Völkerrechts durch Notrecht bildet die unter Ziff. 9.1.3 erläuterte Fallkonstellation, wo es um die Zulässigkeit von Notverordnungen geht, die gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstossen ( contra ius gentium ).
¹57 Medienmitteilung vom 16.11.2005 inkl. entsprechende bundesrätliche Verfügung vom 16.11.2005, Sammlung Puschkin: Bundesrat hebt Beschlagnahmung der Kulturgüter auf,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 16.11.2005 (3.6.2024).

5.5.6 Polizeiliche Generalklausel

Von den Fällen, in denen formell gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV Notrecht erlassen wurde, sind diejenigen Fälle zu unterscheiden, in denen die polizeiliche Generalklausel gemäss Artikel 36 Absatz 1 Satz 3 BV angewendet wurde. Eine solche Konstellation lag in dem vom Bundesgericht in seinem Entscheid 137 II 431 behandelten Fall vor, wo es um die Frage der Zulässigkeit der Übermittlung von Bankkundendaten an die USA ging. Der Bundesrat war wie die FINMA davon ausgegangen, dass mit den Artikeln 25 und 26 BankG, welche die Voraussetzungen eines Eingriffs der FINMA bei ernsthaften Problemen einer Bank (Art. 25 BankG) und die durch sie verfügbaren Schutzmassnahmen (Art. 26 BankG) festhalten, eine genügende gesetzliche Grundlage vorlag. ¹58 Der Bundesrat erachtete es daher als nicht notwendig, von seiner verfassungsmässigen Notrechtskompetenz Gebrauch zu machen. In der Folge ordnete die FINMA mit Verfügung vom 18. Februar 2009 ¹59 an, dass die UBS dem amerikanischen Justizdepartement und allenfalls weiteren für die Verfolgung von Straftatbeständen zuständigen US-Behörden bestimmte Kundendaten sofort herausgeben müsse, wobei der Transfer via FINMA als finanzmarktrechtliche Aufsichtsbehörde erfolgen sollte. 16⁰
Im Rahmen seiner aufgrund einer Beschwerde erfolgten Überprüfung der Rechtmässigkeit der Datenherausgabe hielt das Bundesgericht fest, dass sich der Bundesrat und die FINMA zwar zu Unrecht auf eine Grundlage im BankG beriefen. Eine (nachträgliche) Abstützung der Massnahme auf die polizeiliche Generalklausel sei aber durch die irrtümliche Annahme des Bundesrats, im Rahmen des ordentlichen Rechts handeln zu können, nicht ausgeschlossen. Die Regierung, so das Bundesgericht, habe der FINMA gegenüber am 18. Dezember 2008 und somit im Vorfeld der umstrittenen Verfügung bestätigt, dass sie die Aufsichtsbehörde einlade, alle notwendigen Massnahmen zu treffen, um eine Anklageerhebung gegen die UBS «im Interesse der Stabilität sowohl des schweizerischen als auch des globalen Finanzsystems» zu verhindern. 16¹ Der Beschluss des Bundesrats habe «nötigenfalls auch einen Eingriff in das Bankkundengeheimnis gestützt auf die polizeiliche Generalklausel im Rahmen von Art. 36 BV» ¹62 umfasst.
¹58 BGE 137 II 431, 443 , Ziff. 3.2.2
¹59 Medienmitteilung vom 18.2.2009, FINMA ermöglicht den Vergleich zwischen UBS und US-Behörden und gibt das Ergebnis der eigenen Untersuchung bekannt,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 18.2.2009 (17.3.2024).
16⁰ BGE 137 II 431, 434 f., Bst. C.b
16¹ BGE 137 II 431, 443 , E. 3.2.2.
¹62 BGE 137 II 431, 443 , E. 3.2.2.
¹4 Zur Übernahme der CS kritisch:
Giovanni Biaggini
, Die CS-Übernahme und der «Fluch des Notrechts», in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, ZBl 124/2023, S. 309.
¹5 AB 2023 N 698 (Votum von Nationalrat Vincent Maitre).
¹6 SRF, Nach CS-Übernahme durch UBS - Schädigt das Notrecht die Demokratie? Gespräch mit Prof. Andreas Glaser, 24.03.2023,
www.srf.ch > News > Schweiz (07.02.2024).
¹7
Giovanni Biaggini
, Die CS-Übernahme und der «Fluch des Notrechts», in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, ZBl 124/2023, S. 309;
Paul Richli / Andreas Stöckli
, Streitgespräch: «Es ist umstritten, ob Notrecht zulässig war», Plädoyer 3/20, S. 10.
¹8 Petition 23.2018 Verein Notrechtsinitiative «Gerichtliche Kontrolle von Notrecht stärken»,
www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 23.2018.

6 Typologisierung von Krisen

Das Notrecht findet in sehr unterschiedlichen Krisensituationen Anwendung. Eine Typologisierung von Krisen ist schwierig. Dies liegt in der Natur von Krisen, die sich nur schwer mittels bereits bekannter Muster erfassen lassen (erkenntnistheoretische Herausforderung) und nicht oder nur ungenügend mit Rückgriff auf ordentliche Instrumente gelöst werden können (handlungstheoretische Herausforderung). Eine Krise liegt vor, wenn eine unmittelbare und schwere Gefahr für individuelle und kollektive Rechtsgüter von grundlegender Bedeutung für Staat, Gesellschaft oder Wirtschaft droht, die mit den ordentlichen Instrumenten nicht bewältigt werden kann.
Um die Herausforderungen von Krisen aus Sicht der Rechtsetzung zu verstehen, ¹63 soll gestützt auf die dargestellten Notrechtsfälle eine Typologisierung von Krisen entwickelt werden. Die dargestellten Notrechtsfälle sollen anhand der Parameter der Eskalation (1), der Dauer (2), der Breite (3), der Intensität (4) und der Wahrscheinlichkeit (5) unterschieden werden.

6.1 Eskalation

Die Eskalations- und Deeskalationskurve unterscheidet sich je nach Krise stark. Typischerweise handelt es sich bei Krisen, auf die mit Notrecht reagiert wird, um schnell eskalierende Notlagen, deren rasche Entwicklung einen Rückgriff auf ordentliches Recht verunmöglicht. Wichtig ist jedoch zu sehen, dass es sich um eine Eskalations kurve handelt. Das Recht versucht aus dieser natürlichen Eskalations kurve verschiedene Eskalations stufen zu konstruieren, um eine gewisse Vorhersehbarkeit zu schaffen. Wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat, ist der Übergang zwischen einer normalen, einer besonderen und einer ausserordentlichen Lage fliessend und nicht klar zu bestimmen. Daher ist die Unterscheidung zwischen ordentlichem und ausserordentlichem Recht auch nicht binär, sondern graduell zu verstehen. Klare Trigger- sowie Exit-Kriterien für die Anwendung von Notrecht sind daher zwar entscheidend, um das ordentliche vom ausserordentlichen Regelungsregime abzugrenzen, aber schwierig unabhängig vom Einzelfall generell-abstrakt festzulegen.

6.2 Dauer

Krisen unterscheiden sich stark hinsichtlich ihrer Zeitspanne. Die als sogenannte Dauerkrise wahrgenommene Covid-19-Pandemie ist hinsichtlich ihrer zeitlichen Komponente nur schwer mit einer sogenannten Einzelfallkrise wie die Rettung der UBS 2008 oder die unterstützte Übernahme der CS 2023 vergleichbar. Die Dauer der Krise hat erhebliche Auswirkungen auf die Mitwirkungs- und Kontrollmechanismen. Je länger eine Krise dauert, desto stärker fallen die Abweichungen vom ordentlichen Recht ins Gewicht und desto eher lassen sich Krisenmassnahmen auf dem ordentlichen Weg der Rechtsetzung beschliessen. Verfassungsrechtlich dürfen Notverordnungen höchstens so lange gelten, wie die schwere Störung respektive die Bedrohung andauert, und maximal, bis das Parlament eine gesetzliche Grundlage erarbeiten kann. ¹64
¹64
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 43 f.

6.3 Breite

Krisen können im Wesentlichen nur einen Sektor betreffen oder sektorenübergreifend sein. Auch wenn die Krise ursprünglich von einem Sektor ausgeht (Gesundheit, Energie, Finanzen), werden durch eine Krise regelmässig andere Sektoren in Mitleidenschaft gezogen. Nicht nur thematisch können sich Krisen hinsichtlich ihrer Querschnittsdimension unterscheiden, sondern auch geographisch. Eine Krise kann sich räumlich zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedlich stark auswirken. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und der zwischenstaatlichen Verflechtungen bekommen Krisen aufgrund von wechselseitigen Abhängigkeiten und Kettenreaktionen schnell eine internationale Dimension. Dies hat ebenfalls Folgen für den Erlass von Notrecht, gerade im Hinblick auf Koordinations- und Kooperationsbemühungen.

6.4 Intensität

Krisen wirken sich im Hinblick auf Personengruppen und ihre Rechte unterschiedlich stark aus. Einige Krisen können schwerwiegende direkte Auswirkungen auf die Gesundheit oder das Leben der Bürgerinnen und Bürger haben und erfordern daher Massnahmen, die Freiheitsrechte einschränken. Bei anderen Krisen geht es um wirtschaftliche oder politische Interessen, die zumindest keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Grundrechte haben. Es ist jedoch auch denkbar, dass insbesondere wirtschaftliche Krisen, die zwar nur mittelbar grundrechtsrelevant sind, aus grundrechtlicher Perspektive trotzdem mindestens so schwerwiegend sein können wie andere Krisen. Verfassungsrechtlich darf der Bundesrat keine Massnahmen anordnen, die politisch zwar «nice to have» wären und einen Missstand bekämpfen, der die geforderte Intensität nicht erreicht. ¹65 Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass je schwerer ein Freiheitseingriff ausfällt, desto eher der Staat verpflichtet ist, entsprechende Nachteile für die Betroffenen auszugleichen (flankierende Massnahmen), sofern er hierfür eine Schutzpflicht hat.
¹65
Brunner/Wilhelm/Uhlmann
, Das Coronavirus und die Grenzen des Notrechts - Überlegungen zu einer ausserordentlichen Lage, AJP 2020, 685 -701, S. 695;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 115.

6.5 Wahrscheinlichkeit

Krisen lassen sich auch nach der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens unterscheiden. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pandemie oder eine Wirtschaftskrise in mehr oder weniger regelmässigen Abständen auftritt, eine Tatsache, die man berücksichtigen kann und muss. Andere Krisensituationen sind nicht oder nur schwer vorhersehbar. Verfassungsrechtlich erforderlich für den Erlass von Notrecht ist eine Situation, die bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an fundamentalen Rechtsgütern führt. ¹66
¹66
Andreas Zünd / Christoph Errass
, Die polizeiliche Generalklausel in der Schweiz, ZBJV 2011, S. 261 ff., 292;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 116.

6.6 Zwischenergebnis

Die Typologisierung von Krisen entlang ihrer Eskalation, Dauer, Breite, Intensität und Wahrscheinlichkeit kann Aufschluss über mögliche Ansatzpunkte im Umgang mit dem Notrecht geben:
-
Abhängig von der Eskalations- und Deeskalationskurve einer Krise bestimmt sich, ab und bis wann Notrecht gilt.
-
Die Dauer der Krise kann für die einzusetzenden Mitwirkungs- und Kontrollmechanismen beim Erlass von Notrecht eine Rolle spielen.
-
Die Breite der Krise bestimmt, welche verantwortlichen staatlichen und privaten Akteurinnen und Akteure zusammenarbeiten müssen, um die Krise zu bewältigen.
-
Die Intensität von Krisen in einem bestimmten Bereich muss im Rahmen des Risiko- und Business Continuity Managements berücksichtigt werden und kann die Durchführung von summarischen Folgenabschätzungen verlangen.
-
Die Wahrscheinlichkeit von Krisen spielt vor allem in Bezug auf die Frage eine Rolle, ob die Krise antizipiert werden kann und sollte, indem die gesetzlichen Grundlagen für die Verhinderung oder die Bewältigung einer Krise geschaffen werden, wie es beispielsweise im EpG, im FiREG oder im Rahmen des Too-big-to-fail-Dispositivs geschehen ist. So kann von der Inanspruchnahme von Notrecht abgesehen werden.
¹63
Irina Lehner
/
Caroline Rausch
/
Lea Ina Schneider
/
Anna Elisa Stauffer
(Hrsg.), Recht in der Krise, sui generis Verlag, Zürich 2022.

7 Spannungsverhältnis zwischen Effektivität und Legitimation

Das Spannungsverhältnis zwischen Effektivität und Legitimation staatlichen Handelns bildet den Rahmen, vor dem die Grundlagen und Grenzen des Notrechts zu verstehen sind, die in den Ziffern 8 und 9 behandelt werden. Die staatspolitische Herausforderung bei der Anwendung von Notrecht besteht darin, die richtige Balance zwischen der Wahrung der staatlichen Handlungsfähigkeit in Krisenlagen und der Legitimation staatlichen Handelns zu finden. Der Bundesrat muss einerseits auf Notlagen effektiv reagieren können und dabei andererseits die rechtsstaatlichen Grundsätze beachten. Beides ist wichtig für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Massnahmen in Krisenlagen.
Damit der Rechtsstaat nicht ausgehöhlt wird, ist darauf zu bestehen, dass sich der Bundesrat nur in Ausnahmefällen direkt auf die Verfassung abstützt. Gleichzeitig ist zu verhindern, dass eine zu strikte Auslegung der Notrechtskompetenz sich derart handlungshemmend auswirkt, dass der Bundesrat seine Pflicht, fundamentale Rechtsgüter der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, nicht mehr angemessen wahrnehmen kann. Der Bundesrat muss gerade in Krisenlagen über Handlungsinstrumente verfügen, um seinen grundrechtlichen und staatlichen Schutzpflichten, wie sie sich aus der Bundesverfassung ergeben, nachzukommen. Gewisse Eingriffe in die Freiheitsrechte können die Schutzpflichten verstärken. So können zum Beispiel Betriebsschliessungen als Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit vereinfachte Kurzarbeits-, Erwerbsersatz- oder Kreditmassnahmen als eine Art Entschädigung für diesen Eingriff rechtfertigen. Dies ist sowohl für die Effektivität wie auch die Legitimation seines Handelns entscheidend.

7.1 Effektivität

Beim Erlass und bei der Anwendung des Notrechts in Krisensituationen stellen sich aus Sicht des Bundesrates verschiedene Herausforderungen im Zusammenhang mit der Wahrung seiner Handlungsfähigkeit und der Effektivität seiner Massnahmen. Diese Herausforderungen machen eine entsprechende Sensibilisierung, Vorbereitung und Schulung der Mitarbeitenden notwendig:
-
Informationsherausforderung: Die Informationsbeschaffung vor der Krise ist entscheidend, um die notwendigen Präventionsmassnahmen einzuleiten und abzuschätzen, ob und wann auf notrechtliche Instrumente zurückgegriffen werden soll. Die Informationsbeschaffung während der Notlage ist zentral, um über eine gute Entscheidungsgrundlage für die Wahl der Notrechtsmassnahmen zu verfügen. Für die Informationsbeschaffung insbesondere während der Krise ist es zudem entscheidend, dass verschiedene Informationsquellen miteinander verbunden werden können. Die Informationsbeschaffung nach der Krise ist zudem erforderlich, um die Anwendung von Notrecht aufzuarbeiten und einen angemessenen Lernprozess einzuleiten.
Informationsbeschaffung ist nicht nur auf der Zeitachse vor, während und nach der Krise entscheidend. Vielmehr geht es darum, dass die Informationen zur richtigen Zeit auch am richtigen Ort sind, damit die betroffenen Akteure - sei dies der Bundesrat, das Parlament, die Kantone, die Wissenschaft die Wirtschaft oder die Zivilgesellschaft - über die notwendigen Informationen für ihre Aufgabenerfüllung und das Verständnis der Massnahmen verfügen. Dabei sind nicht so sehr die Quantität, sondern vielmehr die Qualität und Verlässlichkeit von Informationen im Zeitalter sozialer Medien und vor dem Hintergrund des Einsatzes künstlicher Intelligenz eine grosse Herausforderung.
-
Koordinationsherausforderung: Krisen haben regelmässig Auswirkungen über die Grenzen des eigenen Bereichs hinaus und können nur durch Kooperation gelöst werden. Dies erfordert sowohl eine Koordination der notrechtlichen Massnahmen über Amts- und Departementsgrenzen hinaus als auch eine sorgfältige Abstimmung mit den Kantonen und dem Parlament. Wenn die Krise in einem internationalen Kontext steht, ist die Koordination mit ausländischen Behörden ebenfalls einzuplanen.
-
Zeit- und Ressourcenherausforderung: Im Rahmen des Krisenmanagements müssen genügend finanzielle und personelle Ressourcen für die erwähnten Notlagen mobilisiert werden können, um unter Zeitdruck innert kürzester Fristen Entscheidungen fällen und umsetzen zu können. Die notwendigen Ressourcen müssen auf der Ebene der Bundesverwaltung sowohl in den Fachämtern als auch in der begleitenden Rechtsetzung bereitstehen. Besonders bewährt hat sich in bisherigen Krisen die Nutzung bereits vorhandener Strukturen und Abläufe.
-
Kommunikationsherausforderung: Damit die Öffentlichkeit Krisenmassnahmen nachvollziehen kann, sie als glaubwürdig einschätzt und sie letztlich befolgt und mitträgt, müssen sie seitens des Krisenmanagements klar, einheitlich und konsistent vermittelt werden. ¹67 Das zeigte namentlich die Covid-19-Pandemie. ¹68 Diesem Informations- und Transparenzbedürfnis von aussen (z B. proaktive Kommunikation mit der Öffentlichkeit und dem Parlament, Gesuche gemäss Öffentlichkeitsgesetz vom 17. Dezember 2004 ¹69 [BGÖ]) muss in angemessener Weise Rechnung getragen werden, ohne dass dadurch die zur Krisenbewältigung erforderlichen Ressourcen leiden. Gleichzeitig kann je nach Krise im Vorfeld einer Massnahme die Geheimhaltung unabdingbar sein, damit durch das Eingreifen des Staates nicht eine eskalierende Wirkung erzeugt wird (vgl. CS-Übernahme).
Die genannten Herausforderungen betreffen den Erlass von Notrecht aus Sicht der Bundesverwaltung zur Wahrung der Handlungsfähigkeit des Bundesrates und der Effektivität seiner Massnahmen. Das Notrecht bringt jedoch aus Sicht der betroffenen Bevölkerung Herausforderungen für die Legitimität staatlichen Handelns mit sich, die nachfolgend dargestellt werden sollen.
¹67
Stefan Höfler
, Notrecht als Krisenkommunikation? AJP 2020, 702 -709.
¹68
Helen Keller / Reto Walther
, 20 Jahre neue Bundesverfassung: Plus ça change, plus c’est la même chose?, Z SR 140 (2021), S. 259 ff., S. 273 f.
¹69 SR 152.3

7.2 Legitimation

Bei der Anwendung von Notrecht stellen sich Herausforderungen im Zusammenhang mit der Einhaltung fundamentaler Verfassungsprinzipien. Das Notrecht stellt Demokratie, Föderalismus, Menschenrechte und Rechtsstaat auf die Probe - und zwar auf mehreren Ebenen:
-
Mitwirkungsrechte des Parlaments;
-
Kompetenzen der Kantone;
-
Rechtsschutz.
Ein effizientes Krisenmanagement darf die Rechtsstaatlichkeit nicht untergraben. Risiken einer wenn auch nur vorübergehenden Verschiebung des institutionellen Machtgefüges sind ernst zu nehmen.
Konkret kann es auf der institutionellen Ebene zu einer temporären Machtverschiebung zugunsten des Bundes und dort zugunsten des Bundesrats kommen. 17⁰ Das vom Bundesrat erlassene Notrecht kann vorübergehend in den Handlungsspielraum der Kantone (vertikale Ebene) und des Parlaments (horizontale Ebene) eingreifen, um eine unmittelbar drohende Gefahr abzuwenden.
Fragen zur horizontalen Kompetenzverteilung zwischen Bundesrat und Bundesversammlung in Krisenzeiten wurden im Rahmen der Revision im Nachgang an die pa. Iv. 20.437 SPK-N «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» behandelt. Konkret ging es um die Einberufung und den Abbruch von ordentlichen und ausserordentlichen Sessionen, die Durchführung von Ratssitzungen extra muros und ausserhalb von Bern (allenfalls auch digital), die Nutzung parlamentarischer Instrumente während Krisenzeiten (insb. Fristen) und die Durchführung von digitalen Kommissionssitzungen. Es kann folglich im Wesentlichen auf den einschlägigen Bericht der SPK-N vom 27. Januar 2022 17¹ zu den pa. Iv. 20.437 «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und 20.438 «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» und auf die Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Februar 2022 ¹72 zum genannten Bericht der SPK-N verwiesen werden.
Fragen zur vertikalen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen stellten sich insbesondere bei der Bewältigung der Covid-19-Epidemie. ¹73 Die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf den Föderalismus behandelte der Bundesrat in seinem Bericht vom 15. Dezember 2023 ¹74 in Erfüllung des Postulates 20.4522 Cottier «Föderalismus im Krisentest: Die Lehren aus der Covid-19-Krise ziehen». Das Postulat beauftragte den Bundesrat darzulegen, wie die föderalistischen Strukturen und Verfahren in der Covid-19-Krise funktionierten und welche Vor- und Nachteile das föderalistische System in Krisen bietet. Dabei sollte der Bundesrat institutionelle und organisatorische Verbesserungsmöglichkeiten für die föderale Zusammenarbeit in der Bewältigung von (Gesundheits-)Krisen erarbeiten. Aus den bestehenden Auswertungsberichten identifizierte der Bundesrat in seinem Bericht die nachfolgenden sechs Themenbereiche, welche die zentralen Aspekte der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Kantonen wiedergeben: die Krisenorganisation, die Koordination, die finanzielle Verantwortung, die Information und Konsultation, die Kommunikation sowie die Ausbildungen und Übungen. ¹75 In allen sechs Themenbereichen wurden bereits Verbesserungsmassnahmen eingeleitet. ¹76
Neben der verfassungsrechtlichen Kompetenz des Bundesrates zum Erlass von Notverordnungen enthält auch das kantonale Recht Notklauseln zur Bewältigung von Krisenlagen, von denen die Kantonsregierungen Gebrauch machen können. ¹77 Grundsätzlich finden die allgemeinen Regeln zur Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen Anwendung. Der Erlass von Notverordnungen durch den Bundesrat bedeutet nicht automatisch, dass der Bund generell für jeden Regelungsbereich zuständig ist und die Kantone - die in normalen Zeiten über die Polizeihoheit verfügen - nicht auch (punktuell) weiterhin über die Handlungs- und Regelungsbefugnis verfügen. ¹78 Eine enge Koordination und Kooperation bei der Anwendung von parallelem Notrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene ist für die Krisenbewältigung entscheidend.
Die Wahrung von wechselseitigen Kontrollen und institutionellen Gegengewichten («checks and balances») im Verhältnis Bundesrat-Bundesversammlung (horizontal) sowie im Verhältnis Bund-Kantone (vertikal) ist entscheidend für das Vertrauen der Bevölkerung in die Notrechtsmassnahmen des Bundesrates. Das Verhältnis zwischen Bundesrat und Bundesversammlung sowie zwischen Bund und Kantonen ist jedoch gerade in Krisenzeiten nicht ausschliesslich vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung und der wechselseitigen Kontrollen zu sehen, sondern auch als Kooperation zu verstehen. Dies zeigt sich beispielsweise in den Analysen und Appellen zur kooperativen Gewaltenteilung ¹79 und zum kooperativen Föderalismus 18⁰ , wobei die Begriffe, sowie Inhalt und Tragweite dieser Konzepte nicht unbestritten sind.
Gleichzeitig ist die Anwendung von Notrecht auf individueller Ebene regelmässig mit Grund- und Menschenrechtseinschränkungen und beschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten verbunden. 18¹ Vor diesem Hintergrund ist eine Grundskepsis gegenüber der Anwendung von Notrecht, die ein kritisches Hinsehen fordert, berechtigt. Diese Grundskepsis führt zu einem erhöhten Transparenzbedürfnis, dessen Befriedigung dazu beitragen kann, Vertrauen zu fördern und die Legitimation von Notrecht zu erhöhen.
Krisensituationen stellen in doppelter Hinsicht eine Gefahr für den Menschenrechtsschutz dar. Einerseits geht von der Krise selbst ein erhöhtes Risiko von Menschenrechtsverletzungen aus, weil der Staat nicht oder nur schwer in der Lage ist, seine grundrechtlichen Schutzpflichten wahrzunehmen. Andererseits können Menschenrechtsverletzungen auch als Folge der Massnahmen auftreten, die zur Bewältigung solcher Situationen ergriffen werden. Vor diesem Hintergrund betont der Europarat die Notwendigkeit, bei der Reaktion auf eine Krise einen menschenrechtsbasierten Ansatz zu verfolgen. Er hat dem Ministerkomitee zu diesem Zwecke einen Entwurf einer Empfehlung über den wirksamen Schutz der Menschenrechte in Krisensituationen vorgelegt. ¹82 Das Verhältnismässigkeitsprinzip gebietet, bei schweren Freiheitseingriffen ausgleichende Schutzmassnahmen vorzusehen. Damit wird dem Präventionsgedanken Rechnung getragen.
17⁰
Andreas Stöckli / Eva Maria Belser / Bernhard Waldmann
, Gewaltenteilung in Pandemiezeiten, NZZ vom 26. Mai 2020, S. 8;
Andreas Stöckli
, Regierung und Parlament in Pandemiezeiten, ZSR Sondernummer 2020, Pandemie und Recht: Beitrag des Rechts zur Bewältigung einer globalen Krise, S. 9 ff.
17¹ BBl 2022 301
¹72 BBl 2022 433
¹73
Eva Maria Belser
, Managing the Coronavirus Pandemic in Switzerland, How federalism went into emergency mode and struggled to get out of it, in: Comparative Federalism and Covid-19, 2021 .
¹74 www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista (16.2.2024).
¹75 www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista (16.2.2024), S. 2.
¹76 www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista (16.2.2024), S. 2.
¹77
Stefanie Rusch / Bernhard Waldmann
, Kantonale Notrechtssysteme, in: Jusletter 3. Juni 2024;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 79.
¹78
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 79;
Ralph Trümpler / Felix Uhlmann
, Problemstellungen und Lehren aus der Corona-Krise aus staats- und verwaltungsrechtlicher Sicht, in: COVID-19, Ein Panorama der Rechtsfragen zur Corona-Krise, Basel 2020, S. 567 ff., Rz. 28 f.
¹79
Christoph Errass
, Kooperative Rechtssetzung, Zürich/St. Gallen 2010.
18⁰
Tobias Jaag
, Kooperativer Föderalismus - Verstärkte Zusammenarbeit im Bundesstaat, in: AJP 2013 S. 774 ff.
18¹
Daniel Möckli
, Grundrechte in Zeiten von Corona, ZBl 121 (2020), S. 237 f.
¹82 Draft Recommendation of the Committee of Ministers on the effective protection of human rights in situations of crisis,
www.coe.int > Search > CDDH-SCR(2024)01 (16.2.2024).

7.3 Zwischenergebnis

Bundesrat und Bundesverwaltung müssen damit rechnen, dass die Schweiz auch in Zukunft mit Krisen konfrontiert sein wird. Ein effektives Krisenmanagement ist daher entscheidend. Dieses muss auch die Anwendung von Notrecht mitberücksichtigen. Notrecht soll einen integrativen Bestandteil des Risikomanagements der Ämter ausmachen und in das Business Continuity Management einfliessen. Die Anwendung von Notrecht sollte im Rahmen des Risikomanagements als Risiko für den Rechtsstaat mit möglichen Auswirkungen auf das Vertrauen der Bevölkerung und/oder von ausländischen Partnern in staatliche Institutionen (immaterieller Reputationsschaden) behandelt werden. Dass Notverordnungen gerade auch im Falle eines Ausfalls von Personal, Gebäude und Informationstechnologien erlassen werden können, ist im Rahmen des betrieblichen Kontinuitätsmanagements sicherzustellen. Dabei ist zu beachten, dass die Anwendung von Notrecht das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen beeinflussen kann, was bei der Bewertung des Risikos berücksichtigt werden muss. Es gilt auf die Herausforderungen beim Erlass von Notrecht hinzuweisen: Informations-, Koordinations-, Zeit-, Ressourcen- und Kommunikationsherausforderungen (siehe hierzu Kap. 7.1). Von Bedeutung sind ein reibungsloser Informationsfluss und klare Zuständigkeiten in Krisenlagen. Ebenfalls ein zentraler Teil des Krisenmanagements ist die Information der Öffentlichkeit, um die Legitimität und Wirksamkeit der Notmassnahmen zu erhöhen.
In seiner Stellungnahme vom 29. September 2023 ¹83 zum Bericht der GPK-N vom 30. Juni 2023 betreffend «Wahrung der Grundrechte durch die Bundesbehörden bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie am Beispiel der Ausweitung des Covid-Zertifikats» betont der Bundesrat die Notwendigkeit eines Krisenmanagements für die Rechtsetzung in Krisenzeiten. Die Strukturen und Prozesse der Ämter, die in Krisenzeiten mit der Ausarbeitung von Regelungsentwürfen betraut sind, sollen überprüft werden. ¹84 Insbesondere der Informationsfluss zwischen allen involvierten Bundesstellen und der Zugang zu relevanten Informationen für die juristische Beurteilung der Lage soll gewährleistet werden. ¹85 Weiter sollen die für die Regelungsentwürfe zuständigen Ämter selber auf die in Krisenzeiten notwendigen Ressourcen von erfahrenen Juristinnen und Juristen zurückgreifen können. ¹86 Schliesslich sei gemäss der Auffassung des Bundesrates darauf zu achten, dass die rechtlichen Fragen bereits bei der Konzipierung der Massnahmen berücksichtigt werden. Damit wird deutlich, dass der Erlass von Notrecht im Rahmen des Risiko- und Business Continuity Managements zu berücksichtigen ist.
¹83 BBl 2023 2247
¹84 BBl 2023 2247
¹85 BBl 2023 2247
¹86 BBl 2023 2247

8 Rechtliche Grundlagen des Notrechts

Der Bundesrat kann sich beim Erlass von Notrecht direkt auf Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 BV abstützen (selbstständiges Verordnungsrecht) oder sich auf eine vom Gesetzgeber erlassene spezialgesetzliche Ermächtigungsnorm berufen (unselbstständiges Verordnungsrecht). Der erste Fall bezeichnet verfassungsunmittelbares Notrecht; der zweite Fall betrifft sogenannte spezialgesetzliche Krisenbestimmungen, die den Bundesrat in ausserordentlichen Lagen zum Erlass von Verordnungen ermächtigen. Streng genommen handelt es sich im zweiten Fall gar nicht um Notrecht im eigentlichen Sinne. Von diesen beiden Konstellationen ist Notrecht zu unterscheiden, das ohne Verfassungsgrundlage im Falle eines Staatsnotstandes erlassen werden kann. ¹87 Dieses sogenannte extrakonstitutionelle Notrecht soll hier nicht weiter thematisiert werden.
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Extrakonstitutionelles Notrecht Intrakonstitutionelles Notrecht Spezialgesetzliches Notrecht
«Echtes» Notrecht, das ohne Verfassungsgrundlage im Falle eines Staatsnotstandes oder einer existenzbedrohenden Lage für die Nation erlassen werden kann. Notverordnungen, die sich auf Art. 184 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung stützen. Verordnungen, die der Bundesrat gestützt auf spezialgesetzliche Bestimmungen zur Krisenbewältigung erlassen kann.

8.1 Bundesverfassung

Damit der Bundesrat von dieser Kompetenz gemäss Artikel 184 Absatz 3 oder 185 Absatz 3 BV Gebrauch machen kann, muss eine Notrechtslage vorliegen. Diese setzt im Einzelfall ein relevantes Schutzgut, Dringlichkeit in sachlicher und zeitlicher Hinsicht sowie Subsidiarität zum geltenden Recht voraus. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss ein fundamentales Rechtsgut konkret, schwerwiegend und unmittelbar gefährdet sein. ¹88 Als fundamental gelten Rechtsgüter, die für eine hinreichende Zahl Privater oder für den Staat von existentieller Bedeutung sind. Im Fall eines öffentlichen Notstandes erlauben auch Artikel 15 der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 ¹89 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) oder Artikel 4 des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 1966 19⁰ über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) Abweichungen von ihren Gewährleistungen. Ausgenommen sind lediglich ausdrücklich aufgezählte Kerngarantien.

8.1.1 Schutzgut

Während für den aussenpolitischen Bereich die Formulierung von Artikel 184 Absatz 3 BV für die zu wahrenden Interessen des Landes recht allgemein formuliert ist und dem Bundesrat damit einen weiten Handlungsspielraum lässt, setzt die Anwendung von Artikel 185 Absatz 3 BV voraus, dass spezifischere Interessen betroffen sind
-
Artikel 184 Absatz 3 BV setzt voraus, dass die «Beziehungen zum Ausland» betroffen sind und «die Wahrung der Interessen des Landes» ein Handeln des Bundesrates erfordern.
-
Artikel 185 Absatz 3 BV verlangt für notrechtliches Handeln eine eingetretene oder unmittelbar drohende schwere «Störung der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit».
Die Voraussetzungen von Artikel 185 Absatz 3 BV sollen im Folgenden näher erläutert werden, da diese im Vergleich zum Artikel 184 Absatz 3 BV enger gefasst sind. 19¹ Unbestritten ist, dass von den Begriffen der «öffentlichen Ordnung» und der «inneren und äusseren Sicherheit» die klassischen Polizeigüter erfasst sind. Dazu gehören insbesondere Leib, Leben, Gesundheit, öffentliche Sittlichkeit sowie Treu und Glauben im Geschäftsverkehr. In der Rechtslehre bestehen unterschiedliche Auffassungen zur Frage, inwiefern und inwieweit über den Polizeigüterschutz hinaus auch weitere Rechtsgüter und Interessen ein notrechtliches Handeln des Bundesrates zu rechtfertigen vermögen. ¹92 Schematisch lassen sich hierbei folgende drei Positionen unterscheiden:
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Nur Polizeigüterschutz? Auch andere Rechtsgüter? Weitere gesellschaftspolitische Interessen?
Notrecht darf nur zum Schutz von Polizeigütern wie Leib, Leben, Freiheit, Eigentum, öffentliche Gesundheit, Ruhe und Sittlichkeit sowie Treu und Glauben im Geschäftsverkehr eingesetzt werden. Notrecht darf darüber hinaus auch zum Schutz von anderen individuellen sowie kollektiven Rechtsgütern erlassen werden (z. B. Geheim- und Privatbereich, Familie, öffentlicher Friede, öffentliche Gewalt, Volkswille, Rechtspflege). Notrecht soll immer dann genutzt werden, wenn seine Nichtanwendung gesamtgesellschaftlich unverantwortlich erscheint.
Infolge der Massnahmen des Bundesrates zur Rettung der UBS im Jahr 2008 haben Bundesrat, Rechtsprechung und Lehre ihr Verständnis des zulässigen Schutzbereichs über den Polizeigüterschutz hinaus ausgelegt:
-
In der Botschaft vom 5. November 2008 ¹93 zu einem Massnahmenpaket zur Stärkung des schweizerischen Finanzsystems wertete der Bundesrat im Zusammenhang mit der Rekapitalisierung der UBS die «gravierenden volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines Ausfalls einer Grossbank» als notrechtsrelevante Bedrohung für Staat und Gesellschaft. Der Ausfall einer systemrelevanten Bank verfüge hinsichtlich der betroffenen Polizeigüter über ein Störungs- und Schädigungspotential, das mit anderen ausserordentlichen Lagen wie schweren Unruhen, militärischen Bedrohungen, Naturkatastrophen und Epidemien zumindest vergleichbar sei. ¹94
-
Das Bundesgericht hält fest, dass ein fundamentales Rechtsgut konkret, schwerwiegend und unmittelbar gefährdet sein muss. ¹95 Als fundamental gelten Rechtsgüter, die für eine hinreichende Zahl Privater oder für den Staat von existentieller Bedeutung sind. Das Bundesgericht hat anerkannt, dass in Ausnahmesituationen «auch die ökonomische Stabilität und der Schutz des Finanzmarkts ein entsprechend schützenswertes polizeiliches Gut darstellen (können), da beide klassische Polizeigüter wie das Eigentum oder Treu und Glauben im Geschäftsverkehr umfassen, welche bei einem Zusammenbruch des Finanzsystems massiv beeinträchtigt würden». ¹96
-
In der Rechtslehre hat sich seit dem Fall UBS zu einem grossen Teil ebenfalls die Meinung durchgesetzt, dass die bundesrätlichen Notverordnungskompetenzen über den Schutzbereich von Polizeigütern hinausgehen müssen. Diskutiert wird aber auch heute noch, wie weit die Begriffe der inneren und äusseren Sicherheit und der öffentlichen Ordnung darüber hinaus ausgelegt werden können. Dies könnte dann gelten, wenn ein Nichthandeln als gesamtgesellschaftlich und politisch unverantwortlich erschiene. ¹97
Die dargestellte Konkretisierung des Polizeigüterschutzes in den vergangenen Notrechtsfällen legt nahe, von der grundsätzlichen Variabilität des Polizeigüterbegriffs auszugehen. Das Verständnis, was zum Polizeigüterschutz gehört, ist folglich wandelbar und orts- sowie zeitabhängig. Zweifellos trifft es zu, dass neue Gefahren nicht automatisch neue Polizeigüter hervorbringen. Sofern sich aber ein entsprechender gesellschaftlicher Konsens gebildet hat, kann ein Gut durchaus in den Rang eines schützenswerten Rechtsguts aufsteigen. ¹98
Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass sein notrechtliches Handeln gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV nicht zwingend an den Schutz von Polizeigütern gebunden ist. Damit erübrigen sich die argumentativen Bemühungen um eine evolutive und extensive Auslegung des Polizeigüterbegriffs bei der Frage, ob Notrecht erlassen werden darf. Bei der Prüfung, welche Massnahmen im konkreten Fall geeignet, notwendig und verhältnismässig sind, spielt die Art der betroffenen Rechtsgüter eine Rolle. So wird in der herrschenden Lehre die Auffassung vertreten, dass öffentliche Interessen, denen systemische Relevanz zukommt, den Bundesrat zu notrechtlichem Handeln ermächtigen. ¹99 Dementsprechend sind auch nicht polizeiliche Schutzgüter von den Begriffen der inneren und äusseren Sicherheit sowie der öffentlichen Ordnung nach Artikel 185 Absatz 3 BV erfasst, sofern sie von fundamentaler Bedeutung sind. 20⁰ Eine zu extensive Auslegung der relevanten Schutzgüter würde jedoch dazu führen, dass dem Begriff der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit keine Begrenzungsfunktion mehr zukommt. Dies gilt es zu vermeiden. Gleichzeitig gilt es zu verstehen, dass das relevante Schutzgut gemäss Artikel 185 Absatz 3 BV nicht so sehr thematisch begrenzt ist, sondern vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben muss. Die systemische Relevanz des Schutzgutes ist daher entscheidender als ihre inhaltliche Beschaffenheit. So knüpft auch die Too-Big-to-Fail-Regulierung an den Begriff der Systemrelevanz der Bank an. Von der staatlichen Schutzpflicht erfasst sind nicht alle gesellschaftspolitisch relevanten Interessen, sondern nur diejenigen Interessen, die von der Rechtsordnung, das heisst rechtlich geschützt sind.
19¹ www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 09.3729; BBl 2009 5063 , 5066 f.
¹92 Für einen restriktiven Ansatz siehe
Biaggini
, «Notrecht» in Zeiten des Coronavirus - Eine Kritik der jüngsten Praxis des Bundesrats zu Art. 185 Abs. 3 BV, ZBl 2020, 239 -267, S. 257. Für einen breiteren Ansatz siehe
Brunner/Wilhelm/Uhlmann
, Das Coronavirus und die Grenzen des Notrechts - Überlegungen zu einer ausserordentlichen Lage, AJP 2020, 685 -701, S. 694. Für eine Synthese siehe CR Cst.
Gonin
Art. 185 BV N 119, der mehr in Richtung des restriktiven Ansatzes tendiert.
¹93 BBl 2008 8943
¹94 BBl 2008 8943 , Ziff. 2.3.6.2 i.V.m. Ziff. 1.2.
¹95 BGE 137 II 431 E. 3.3.2
¹96 BGE 137 II 431 E. 4.1
¹97
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 108.
¹98
Andreas Zünd / Christoph Errass
, Die polizeiliche Generalklausel in der Schweiz, ZBJV 2011, S. 261 ff., 267.
¹99
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 108.
20⁰
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 113 inkl. dort angeführte Literatur.

8.1.2 Dringlichkeit

Die sachliche Dringlichkeit der Massnahmen wird bejaht, wenn es ohne den notrechtlichen Eingriff «mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an fundamentalen Rechtsgütern» kommen würde. 2⁰1 Rein abstrakt-präventive Massnahmen, um theoretisch denkbare oder befürchtete Kettenreaktionen abzuwenden, sind nicht zulässig. Die Gefahr für das relevante Schutzgut muss konkret vorliegen. Das Bundesgericht billigt dem notrechtlich handelnden Bundesrat eine ex-ante -Perspektive zu, in der es naturgemäss zu gewissen Fehleinschätzungen oder zu Überschätzungen der abzuwendenden Gefahr kommen kann. 2⁰2
Eine der grössten Herausforderungen bei der ex-ante Beurteilung der sachlichen Dringlichkeit ist die korrekte Erfassung der Faktenlage. Die Erfassung der Sachlage setzt das dazugehörige Fachwissen voraus. Auch wenn es sich bei der Frage nach der sachlichen Dringlichkeit folglich um eine normative Frage handelt, ist diese sehr stark von den zur Verfügung stehenden Informationen, ihrer Aufbereitung und Präsentation sowie ihrer Interpretation abhängig. Um die Notwendigkeit eines effizienten und koordinierten Handelns darzulegen, wird dabei regelmässig ein Krisennarrativ bemüht. Dieses Krisennarrativ muss dabei evidenzbasiert und sachlich bleiben, auch wenn das «credible Worst-Case-Szenario» aus der Sicht des Risikomanagements immer im Blick zu behalten ist. 2⁰3
Massnahmen müssen zeitlich dringend erforderlich sein. Zeitliche Dringlichkeit bedeutet, dass Abwehrmassnahmen erforderlich sind, weil die drohende Schädigung imminent ist. Dies ist unter anderem dann zu bejahen, wenn der Erlass gesetzlicher Normen auf dem Weg der ordentlichen Rechtsetzung als Abwehrmassnahme wegen dessen Langsamkeit versagen würde. 2⁰4 Die Dauer des Gesetzgebungsverfahrens ist hierbei entscheidend. 2⁰5 Bei diesem Kriterium gibt es Überschneidungen zum Kriterium der Subsidiarität. Da das Recht in erster Linie ein reaktives Problembewältigungsinstrument bleibt, kommt es in einer sich schnell verändernden Welt an seine Grenzen. So birgt proaktive Rechtsetzung, die sich in spekulativen Zukunftsszenarien verliert, ebenfalls nicht zu unterschätzende Risiken für den Schutz von individuellen Freiheiten und die Rechtssicherheit.
Die zunehmende Globalisierung und die daraus resultierenden verstärkten Interdependenzen führen zu einer Beschleunigung von Gefahren und Wirkungsabläufen mit Auswirkungen auf die Beurteilung der sachlichen und zeitlichen Dringlichkeit. 2⁰6
2⁰1
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 116.
2⁰2 BGE 137 II 431 E. 4.3.2
2⁰3
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 66.
2⁰4 BGE 57 I 266, 275 ;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 120.
2⁰5
Florian Brunner / Martin Wilhelm / Felix Uhlmann
, Das Coronavirus und die Grenzen des Notrechts, Überlegungen zu einer ausserordentlichen Lage, AJP 2020, 685 ff., 689 f.
2⁰6
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 66.

8.1.3 Subsidiarität

Das Erfordernis der Subsidiarität von Notrecht bedeutet, dass der Bundesrat nur dann notrechtliche Massnahmen erlassen darf, wenn das geltende (ordentliche) Recht keine Massnahmen vorsieht, die geeignet und ausreichend sind, um eine Gefährdung oder Störung des fraglichen Schutzguts abzuwenden. Es dürfen folglich keine anderweitigen Massnahmen gestützt auf das ordentliche Recht zur Verfügung stehen, um die ausserordentliche Lage zu bewältigen. 2⁰7 Diese Voraussetzung soll im Wesentlichen verhindern, dass sich der Bundesrat auf seine verfassungsmässigen Notrechtskompetenzen stützt, obwohl der Gesetzgeber die fragliche Krisensituation bereits abschliessend und unmissverständlich geregelt hat.
Grundsätzlich ist der Erlass von Notrecht auf unvorhersehbare Notlagen beschränkt. Vorhersehbare Situationen sollen durch den Gesetzgeber geregelt werden. Die Unvorhersehbarkeit der Gefahr für den Gesetzgeber wird jedoch gemäss herrschender Lehre und Rechtsprechung als eigenständige Voraussetzung für notrechtliches Handeln nicht mehr verlangt. 2⁰8 Die Frage, ob die Krise für den Gesetzgeber vorhersehbar war, bleibt jedoch ein Element, das es im Rahmen der Interessensabwägung zu berücksichtigen gilt. 2⁰9 Zum Schutz des Legalitätsprinzips und der Gewaltenteilung hatte das Bundesgericht regelmässig verlangt, dass die polizeiliche Generalklausel auf «echte und unvorhersehbare Notfälle» 21⁰ zu beschränken sei und im Falle von typischen und erkennbaren Gefährdungslagen nicht angerufen werden dürfe, wenn die Problematik trotz Kenntnis der Gefahr nicht normiert wurde. Präzisierend hielt das Bundesgericht allerdings fest, dass «ein Untätigsein des Gesetzgebers den Staat in einer Notsituation nicht zur Hingabe fundamentaler Rechts- bzw. Polizeigüter zwingen [kann], wenn dieser Gegenstand staatlicher Schutzpflichten bilden». 21¹ Der Bundesrat muss staatliche Schutzpflichten hinsichtlich fundamentaler Rechtsgüter wahrnehmen - unabhängig von der Frage der Vorhersehbarkeit der Notlage. Anders zu entscheiden würde bedeuten, von der staatlichen Behörde zu verlangen, der Verwirklichung einer schweren, voraussehbaren Gefahr tatenlos zuzusehen und gleichsam «in rechtsstaatlicher Schönheit» unterzugehen. 2¹2 Ob der Gesetzgeber seiner Pflicht, Schutzmassnahmen gegen vorhersehbare Krisen vorzusehen, nachgekommen ist, spielt für die Schutzpflichten des Bundesrates keine Rolle. Dass die Exekutive die Gefährdung oder gar die Störung fundamentaler Rechtsgüter zulässt, bloss weil es der Gesetzgeber versäumte, seinen Schutzpflichten nachzukommen, ist nicht zu rechtfertigen. Komplizierter ist die rechtliche Beurteilung der Situation, wenn der Gesetzgeber bewusst eine Gefahrensituation, die er kannte, nicht oder seiner Ansicht nach bereits abschliessend geregelt hat. 2¹3
2⁰7
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 123.
2⁰8 BGE 137 II 431 E. 3.3.2, 445 ;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 123;
Jörg Künzli
in:
Bernhard Waldmann
/
Eva Maria Belser
/
Astrid Epiney
(Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, 1. Aufl., Basel 2015 (nachstehend:
Künzli,
Basler Kommentar), zu Art. 185 BV, N. 28.
2⁰9 BGE 137 II 431 E. 3.3.2, 445 ;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 123;
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 28.
21⁰ BGE 126 I 112 E. 4b
21¹ BGE 137 II 431 E. 3.3.
2¹2
Markus Müller / Christoph Jenni
, Notrecht - … abermals zur polizeilichen Generalklausel, Sicherheit & Recht 2/2010 S. 101, 105 .
2¹3 Ziff. 8.2.5 und Ziff. 9.1.1.1.

8.1.4 Zwischenergebnis

Die Expertengruppe ist der Meinung, dass die Verfassungsbestimmungen in den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV nicht mehr zeitgemäss seien, insbesondere mit Blick auf die Unterscheidung zwischen nationalen und internationalen Krisen 2¹4 , zwischen Notverordnungen und Notverfügungen sowie zwischen dem Polizeigüterschutz einerseits und dem Schutz anderer Rechtsgüter oder rechtlich geschützten gesellschaftspolitischen Interessen andererseits. Eine blosse Nachführung der Verfassung sei jedoch keine Option. Deshalb stehen die Mitglieder der Expertengruppe einer Verfassungsrevision kritisch gegenüber. Sinnvoll sei eine Verfassungsänderung höchstens dann, wenn auch materiell Änderungen vorgenommen würden, so zum Beispiel, wenn die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit der Bundesrat Notrecht erlassen darf, konkretisiert, die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bundesrat und Parlament geklärt, weitere Organe in den Notrechtsprozess miteinbezogen oder die Bestimmungen zur Überführung von Notrecht im RVOG auf die Verfassungsebene gehoben würden.
Die Arbeitsgruppe ist ebenfalls der Ansicht, dass eine Verfassungsrevision mit dem Ziel der Nachführung der Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV in diesem Fall keinen Mehrwert bringen würde, auch wenn der Schutz von Wirtschaftsinteressen (in den Fällen UBS und CS) zweifellos über den Schutz der klassischen Polizeigüter hinausgeht. Eine präzisere Formulierung der verfassungsrechtlichen Notrechtskompetenz erscheine nicht zweckmässig, obwohl nicht restlos geklärt sei, unter welchen Umständen Notrecht erlassen werden dürfe und es hierzu in der Lehre durchaus unterschiedliche Meinungen gebe. Sowohl der Eintritt in ein Krisenszenario mit notrechtlichen Massnahmen wie auch der Weg zurück in den ordentlichen Rahmen müsse durch klarere Kriterien gekennzeichnet werden. Der Wechsel von einer ordentlichen zu einer ausserordentlichen Lage und wieder zurück sei im Einzelfall gerade bei einer graduellen Eskalation und Deeskalation der Situation (wie bei der Covid-19-Epidemie) nicht einfach zu bestimmen. Je länger eine Krise andauere, desto weniger könne sich der Bundesrat auf Notrecht stützen, um die ergriffenen Massnahmen zu rechtfertigen. Forderungen nach einer Rückkehr zu den ordentlichen Verfahren, Zuständigkeiten und dem ordentlichen Recht erhalten mit der Zeit immer mehr Gewicht, während der Verzicht auf die ordentlichen demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren zunehmend weniger gerechtfertigt erscheint.
2¹4 Zur Differenzierung zwischen äusserer und innerer Sicherheit siehe
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 10 f.
¹88 BGE 137 II 431 E. 3.3.2
¹89 SR 0.101
19⁰ SR 103.2

8.2 Spezialgesetze

Die Ausgestaltung solcher Krisenbewältigungsbestimmungen ist vielfältig. Es kann sich um eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen vom Parlament an den Bundesrat handeln, aber auch um eine Ermächtigung zum Erlass von Notverfügungen. Weiter muss unterschieden werden, ob es sich um bloss deklaratorische Normen oder um konstitutive Krisenbestimmungen handelt, welche die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz nicht lediglich wiederholen, sondern für bestimmte Notlagen eine bewusst restriktive gesetzliche Regelung vorsehen, indem sie dem Handlungsspielraum des Bundesrates Grenzen setzen.
Abzugrenzen vom Begriff «spezialgesetzliches Notrecht» sind Gesetzesbestimmungen, die zwar im Fall einer Krise zu Anwendung kommen, aber die Krisenlage abschliessend regeln, in Bezug auf die Normdichte den Massstäben von Artikel 164 BV genügen und keine Delegation von Kompetenzen an den Bundesrat enthalten. Ein Beispiel hierfür ist Artikel 12 des Postgesetzes vom 17. Dezember 2010 2¹5 , das den Postverkehr in ausserordentlichen Lagen regelt und dem Bundesrat für solche Situationen zum Beispiel die Kompetenz gibt, das notwendige Personal zum Dienst zu verpflichten.
Weiter muss zwischen spezialgesetzlichen Konkretisierungen der Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV und normalen Delegationsnormen unterschieden werden. So ist davon auszugehen, dass immer (mindestens) die Voraussetzungen der Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV gelten, sofern es sich bei den spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen um Konkretisierungen davon handelt.

8.2.1 Vor- und Nachteile spezialgesetzlicher Notrechtsbestimmungen

Der Rückgriff auf Notrecht wird dann notwendig, wenn das ordentliche Recht keine geeigneten Instrumente zur Verfügung stellt. Vor diesem Hintergrund beabsichtigt der Gesetzgeber, Notlagen - sofern möglich - zu antizipieren und auf eine krisenfeste Gesetzgebung hinzuwirken. Die Ergänzung der verfassungsrechtlichen Notrechtskompetenzen des Bundesrates um Krisenbestimmungen in Spezialgesetzen, die im Rahmen ihres Geltungsbereichs den Handlungsspielraum des Bundesrates konkretisieren, birgt ein grosses Potential, bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich. Es stellt sich die Frage, ob spezialgesetzliche Notrechtsbestimmungen zweckmässig und wünschenswert sind.
Für die Einführung von spezialgesetzlichen Notrechtsbestimmungen spricht, dass:
-
der Gesetzgeber die Grundsätze für die Ergreifung von Notmassnahmen regelt, was zu einer Stärkung der demokratischen Legitimation von Notmassnahmen beiträgt. Im Bericht der SPK-N vom 27. Januar 2022 zu den Pa. Iv. 20.437 «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und 20.438 «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» wurde dies offengelassen: «Es stellt sich auch grundsätzlich die Frage, ob solche Krisenbestimmungen zu einer höheren Legitimation von Massnahmen in Krisenzeiten führen, als auf Verfassung gestützte Massnahmen.» 2¹6 ;
-
solche Krisenbestimmungen in Spezialgesetzen die allgemeine verfassungsmässige Notrechtskompetenz des Bundesrates konkretisieren;
-
sich der Bundesrat möglichst an die besonderen Krisenbestimmungen im Spezialgesetz zu halten hat und nur in eng begrenzten Ausnahmefällen auf verfassungsunmittelbares Notrecht gemäss den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV zurückzugreifen kann.
Gegen die Einführung von spezialgesetzlichen Notrechtsbestimmungen spricht, wenn:
-
Spezialgesetze die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz im Wesentlichen bloss wiederholen und diese nicht substantiell konkretisieren;
-
sich schwierige Fragen zum Verhältnis zwischen den spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen und dem verfassungsrechtlichen Notrecht stellen. Konkret geht es um die Frage, ob und unter welchen Umständen sich der Bundesrat über die Schranken der spezialgesetzlichen Notbestimmung hinwegsetzen kann, indem er sich weiterhin auf seine verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz stützt, selbst wenn der Gesetzgeber die ausserordentliche Lage abschliessend geregelt haben sollte (qualifiziertes Schweigen). So stellen sich insbesondere Fragen zur Vereinbarkeit mit dem Anwendungsgebot von Bundesgesetzen in Artikel 190 BV;
-
der Bundesrat sich allenfalls ermutigt sehen könnte, von den spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen als Ermächtigungsgrundlage Gebrauch zu machen, gerade weil mit dem formell-gesetzlichen Status der Rechtsgrundlage eine erhöhte Legitimation einhergeht;
-
der Handlungsdruck auf den Bundesrat steigt, wenn das gesetzliche Arsenal gegen Krisen bereitsteht und Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft deshalb auf ein Handeln des Bundes drängen und sich veranlasst sehen, auf bundesrätliche Massnahmen zu warten, statt selber zu handeln.
2¹6 BBl 2022 301 , S. 54

8.2.2 Leitlinien für die Ausgestaltung

Die Formulierung von solchen Krisenbestimmungen in Spezialgesetzen setzt vertiefte Kenntnisse der betroffenen Materie voraus, die für die Identifikation von Krisenszenarien und Massnahmen notwendig sind. 2¹7 Für den Gesetzgeber stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eng oder wie weit er solche Krisenbestimmungen fassen soll. Er bewegt sich dabei in folgendem Spannungsfeld: Entscheidet er, den Handlungsrahmen des Bundesrates eng zu fassen, so ist dieser im Krisenfall in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt und kann gestützt auf die formell-gesetzliche Delegationsnorm allenfalls nicht alle notwendigen Massnahmen ergreifen. Dies hat zur Folge, dass er im Ernstfall doch wieder auf seine verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz zurückgreifen muss. Werden dem Bundesrat hingegen in einer allgemein formulierten Delegationsbestimmung weitgehende Kompetenzen überlassen, ist dies demokratiepolitisch fragwürdig. 2¹8 Weiter ist zu bemerken, dass die Bestimmungen gemäss Artikel 7 c ff. RVOG, die für das verfassungsunmittelbare Notrecht gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV gelten, zumindest nicht unmittelbar auf Verordnungen gestützt auf spezialgesetzliche Krisenbestimmungen zur Anwendung kommen. Mit Blick auf die rechtsstaatliche Legitimation erscheint es jedoch sinnvoll, Notverordnungen des Bundesrates, die nur die verfassungsunmittelbare Kompetenz wiederholen (Blankettnormen), ebenfalls den Regeln von Artikel 7 c ff. RVOG zu unterstellen.
Damit spezialgesetzliche Krisenbestimmungen die rechtsstaatliche und demokratische Legitimation von Notmassnahmen stärken, müssen sie gewissen Anforderungen genügen. Insbesondere kann spezialgesetzliches Notrecht konkretisieren, wann tatsächlich eine Notlage vorliegt, und die Anforderungen an die Verhältnismässigkeit von Notmassnahmen präzisieren. Damit es dies leisten kann, muss sich der Gesetzgeber allerdings an gewisse Leitplanken halten. Folgende Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang:
-
Werden im Spezialgesetz die relevanten Rechtsgüter, die geschützt werden sollen, konkretisiert? Oder heisst es lediglich «öffentliche Ordnung und Sicherheit»?
-
Wird gesagt, was zeitliche und sachliche Dringlichkeit im Kontext des Spezialerlasses bedeutet?
-
Wird eine zeitliche Befristung der Notrechtsmassnahmen vorgesehen?
-
Wird gesagt, von welchen Normen in der Notlage abgewichen und von welchen unter keinen Umständen abgewichen werden darf?
Beantwortet das Spezialgesetz diese Fragen, leistet es gegenüber den Bestimmungen von Artikel 184 Absatz 3 und Artikel 185 Absatz 3 BV einen rechtsstaatlichen Mehrwert, da es konkretisiert, wann der Bundesrat welche Massnahmen zur Bewältigung einer Krise ergreifen darf.
2¹7 BBl 2022 301 , S. 54
2¹8 BBl 2022 301 , S. 54

8.2.3 Beispiele

Anhang 2 ParlG nennt abschliessend spezialgesetzliche Bestimmungen zur Krisenbewältigung, auf welche wie zu Verordnungen gestützt auf Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV besondere Bestimmungen des ParlG Anwendung finden (z. B. Konsultationspflicht gemäss Art. 151 Abs. 2bis ParlG).
-
Artikel 55 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 2¹9 (AsylG);
-
Artikel 62 des Bundesgesetzes vom 11. April 1889 22⁰ über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG);
-
Artikel 31-34 LVG;
-
Artikel 6 und 7 des Zolltarifgesetzes vom 9. Oktober 1986 22¹ (ZTG);
-
Artikel 48 des Fernmeldegesetzes vom 30. April 1997 22² (FMG);
-
Artikel 6 und 7 EpG.
8.2.3.1 Asylgesetz
Das AsylG sieht in Artikel 55 vor, dass der Bundesrat in Zeiten erhöhter internationaler Spannungen bei Ausbruch eines bewaffneten Konfliktes, an dem die Schweiz nicht beteiligt ist, oder bei ausserordentlich grossem Zustrom von Asylsuchenden in Friedenszeiten Flüchtlingen Asyl gewährt, solange ihr dies nach den Umständen möglich ist. Er trifft die dazu erforderlichen Massnahmen. Artikel 55 Absatz 2 AsylG ermächtigt den Bundesrat, die Voraussetzungen für die Asylgewährung und die Rechtsstellung der Flüchtlinge einzuschränken und besondere Verfahrensbestimmungen aufzustellen. Die genannte Bestimmung sieht explizit vor, dass der Bundesrat dies in Abweichung vom Gesetz tun kann. Über die getroffenen Massnahmen, insbesondere diejenigen, die er abweichend von den gesetzlichen Vorgaben getroffen hat, erstattet er der Bundesversammlung unverzüglich Bericht. Wenn die dauernde Beherbergung von Flüchtlingen die Möglichkeiten der Schweiz übersteigt, kann Asyl auch nur vorübergehend gewährt werden, bis die Aufgenommenen weiterreisen können (Art. 55 Abs. 3 AsylG). Der Bundesrat hat sich bei der vom AsylG abweichenden Formulierung der Voraussetzungen für die Asylgewährung und die Rechtsstellung der Flüchtlinge grundsätzlich an alle Menschenrechte und in jedem Fall an die notstandsfesten Menschenrechtsgarantien wie zum Beispiel das Non-Refoulement-Gebot zu halten (siehe unten Kap. 8.3.3.)
8.2.3.2 Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen
Das Bundesgesetz vom 21. Juni 2019 2²3 über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) regelt die Vergabe von öffentlichen Aufträgen (Art. 1 BöB). Abhängig von der Erreichung von Schwellenwerten (Art. 16) wird der öffentliche Auftrag in einem offenen oder selektiven Verfahren, einem Einladungsverfahren oder ausnahmsweise freihändig vergeben (Art. 17 BöB). Im freihändigen Verfahren vergibt die Auftraggeberin einen öffentlichen Auftrag gemäss Artikel 21 BöB direkt ohne Ausschreibung. Im Falle von Notbeschaffungen ist die Auftraggeberin berechtigt, den öffentlichen Auftrag unabhängig vom Schwellenwert freihändig zu vergeben. Voraussetzung hierfür ist gemäss Artikel 21 Absatz 2 Buchstabe d BöB, dass aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse die Beschaffung so dringlich wird, dass selbst mit verkürzten Fristen kein offenes oder selektives Verfahren und kein Einladungsverfahren durchgeführt werden kann. Auch hier muss aus rechtsstaatlichen Gründen die Praxis restriktiv sein. Gemäss Artikel 10 Absatz 4 BöB findet das Gesetz sodann keine Anwendung auf öffentliche Aufträge, wenn dies für den Schutz und die Aufrechterhaltung der äusseren oder inneren Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung als erforderlich erachtet wird (Bst. a) oder soweit dies erforderlich ist zum Schutz der Gesundheit oder des Lebens von Menschen oder zum Schutz der Tier- und Pflanzenwelt (Bst. b).
2²3 SR 172.056.1
8.2.3.3 Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz
Gemäss Artikel 62 SchKG kann der Bundesrat im Falle einer Epidemie oder eines Landesunglücks sowie in Kriegszeiten den Rechtsstillstand beschliessen. Die gleiche Möglichkeit steht mit Zustimmung des Bundesrates auch den Kantonsregierungen zu. Die Bestimmung spezifiziert, dass der Rechtsstillstand «für ein bestimmtes Gebiet oder für bestimmte Teile der Bevölkerung» beschlossen wird. Damit wird in geographischer und personeller Hinsicht das Verhältnismässigkeitsprinzip konkretisiert.
8.2.3.4 Landesversorgungsgesetz
Das LVG regelt sowohl die Vorbereitung (unter anderem Pflichtlager) als auch die Interventionsmöglichkeiten für bestimmte Fälle von Versorgungskrisen. Es regelt Massnahmen zur Sicherstellung der Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selber zu begegnen vermag (Art. 1 LVG). Die Artikel 31 und 32 LVG ermächtigen den Bundesrat, im Fall einer unmittelbar drohenden oder bereits bestehenden schweren Mangellage zeitlich begrenzte wirtschaftliche Interventionsmassnahmen zu ergreifen, um die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen. Er kann insbesondere Vorschriften erlassen über die Beschaffung und den Verbrauch von lebenswichtigen Gütern, die Förderung von Importen und die Beschränkung von Ausfuhren (Art. 31 Abs. 2 LVG). Die abschliessenden Aufzählungen in den Artikeln 31 Absatz 2 und 32 Absatz 2 LVG konkretisieren damit die möglichen Massnahmen des Bundesrates zur Sicherstellung der Landesversorgung. Zudem kann der Bundesrat gestützt auf die Artikel 31 Absatz 3 und 32 Absatz 3 LVG Rechtsgeschäfte auf Kosten des Bundes abschliessen, soweit dies erforderlich ist, um die Landesversorgung sicherzustellen. Gestützt auf die Artikel 33 Absatz 1 und 2 LVG kann der Bundesrat für die lebenswichtigen Güter und Dienstleistungen, die Gegenstand von wirtschaftlichen Interventionsmassnahmen sind, die Überwachung der Preise anordnen sowie Vorschriften über die Begrenzung von Margen erlassen. Gestützt auf Artikel 34 LVG kann der Bundesrat für die Dauer der Geltung von wirtschaftlichen Interventionsmassnahmen Bestimmungen anderer Erlasse vorübergehend für nicht anwendbar erklären. Die Bestimmungen dürfen nur soweit für nicht anwendbar erklärt werden, wie sie mit den Interventionsmassnahmen im Widerspruch stehen (Art. 34 Abs. 2 LVG), und die Nichtanwendbarkeitserklärung darf keine über die Geltungsdauer der Massnahmen hinausgehende oder unumkehrbare Wirkung entfalten.
8.2.3.5 Epidemiengesetz
Das EpG bezweckt, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen (Art. 2 Abs. 1 EpG).
In einer ausserordentlichen Lage gemäss Artikel 7 EpG kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen. Diese Bestimmung wiederholt im Wesentlichen die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz des Bundesrates nach Artikel 185 Absatz 3 BV. Nicht in diese Kategorie fällt hingegen Artikel 6 EpG. Er umschreibt zunächst, wann eine Krise («besondere Lage») vorliegt (Abs. 1). Anschliessend sieht er vor, dass sich die Kompetenz zum Anordnen bestimmter Krisenmassnahmen von den Kantonen zum Bundesrat verschiebt (Abs. 2). Der Begriff «spezialgesetzliches Notrecht» ist in diesem Fall irreführend, da es sich um ordentliches Recht zur Bewältigung einer Krisensituation handelt.
In einer besonderen Lage gemäss Artikel 6 EpG kann der Bundesrat nach Anhörung der Kantone folgende Massnahmen anordnen:
-
Massnahmen gegenüber einzelnen Personen;
-
Massnahmen gegenüber der Bevölkerung;
-
Ärztinnen, Ärzte und weitere Gesundheitsfachpersonen verpflichten, bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten mitzuwirken;
-
Impfungen bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären.
Eine besondere Lage, in der der Bundesrat die Kompetenz erhält, Massnahmen nach Artikel 6 Absatz 2 EpG anzuordnen, liegt gemäss Artikel 6 Absatz 1 EpG vor, wenn:
-
die ordentlichen Vollzugsorgane nicht in der Lage sind, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen […] oder
-
die WHO festgestellt hat, dass eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite besteht und durch diese in der Schweiz eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit droht.
2¹9 SR 142.31
22⁰ SR 281.1
22¹ SR 632.10
22² SR 784.10

8.2.4 Notkredite im Besonderen

Notrechtsmassnahmen bedürfen für ihre Umsetzung regelmässig finanzieller Mittel. Diese Mittel müssen ebenso dringlich gesprochen werden können wie die Notrechtsmassnahmen angeordnet sind, damit Letztere nicht vereitelt werden. Sogenannte dringliche Kredite werden auch als Notkredite bezeichnet. Die Artikel 28 und 34 des FHG sehen für dringliche Verpflichtungs- oder Nachtragskredite ein eigenes Verfahren vor, das von einer vorgängigen Bewilligung der Kredite durch die Bundesversammlung absieht.
Die Artikel 28 und 34 FHG wurden im Rahmen der Umsetzung der pa. Iv. 09.402 SPK-N «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen» revidiert. 2²4 Die Mitwirkung des Parlaments, das heisst seine Budgethoheit, wird durch die vorgängige Einholung der Zustimmung der FinDel und die Unterbreitungspflicht zur nachträglichen Genehmigung der Notkredite durch die Bundesversammlung gestärkt. Die FinDel besteht aus je drei Mitgliedern der Finanzkommissionen der beiden Räte (Art. 51 ParlG). Gestützt auf Artikel 28 Absatz 1 FHG kann der Bundesrat die Ermächtigung zur Inangriffnahme oder Fortsetzung des Vorhabens schon vor der Bewilligung des erforderlichen Verpflichtungskredites erteilen, wenn die Ausführung des Vorhabens keinen Aufschub erträgt. Der Bundesrat muss dabei aber immer die Zustimmung der FinDel einholen. Der Bundesrat ist gemäss Artikel 28 Absatz 2 FHG verpflichtet, die dringlichen Notkredite der Bundesversammlung zur nachträglichen Genehmigung zu unterbreiten. Zu diesem Zweck können die Parlamentarierinnen und Parlamentarier unter bestimmten Voraussetzungen eine ausserordentliche Session verlangen (Art. 28 Abs. 3 FHG).
Im Nachgang zu den notrechtlichen Massnahmen des Bundesrats, welche die Übernahme der CS durch die UBS im März 2023 einleiteten, lehnte das Parlament, genauer gesagt der Nationalrat, in der ausserordentlichen Session vom 11./12. April 2023 die dringlichen Verpflichtungskredite für die Garantien des Bundes zugunsten der SNB und der UBS ab. 2²5 Diese waren in der auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV gestützten CS-Notverordnung vom 16. März 2023 (Stand 20. März 2023) vorgesehen. Die rechtliche Wirkung dieser nachträglichen Ablehnung durch das Parlament wurde eingehend diskutiert. Da der Wortlaut von Artikel 28 Absatz 2 FHG sehr knapp formuliert und in Bezug auf Absatz 1 nicht eindeutig ist, stellen sich Fragen zur Art und Wirkung der Genehmigung. Der Bundesrat musste die Bestimmung anhand der gängigen Methoden auslegen. Er kam zum Schluss, dass die Mittel für die Garantien gegenüber der SNB und der UBS bereits verbindlich zugesagt worden waren. Dies aus folgenden Gründen:
-
Erstens hat die FinDel den Verpflichtungskrediten vor dem Inkrafttreten der bundesrätlichen CS-Notverordnung 2²6 zugestimmt. Die für die CS-Übernahme relevanten Teile traten am 19. März 2023 um 20.00 Uhr in Kraft. Sie hat damit stellvertretend für die Bundesversammlung die Zustimmung erteilt. Mit ihrer Zustimmung durfte der Bundesrat rechtsverbindliche Verpflichtungen eingehen. Der allfälligen Einberufung einer ausserordentlichen Session gemäss Artikel 28 Absatz 3 FHG kommt keine aufschiebende Wirkung zu. 2²7
-
Zweitens ist zwischen dem Innen- und dem Aussenverhältnis zu unterscheiden: Das Aussenverhältnis betrifft die Frage, ob sich der Bund durch das Handeln des Bundesrates gegenüber Dritten verpflichtet hat. Das Innenverhältnis betrifft hingegen die Frage, ob der Bundesrat seine Kompetenzen überschritten oder ob er die Mitwirkungsrechte des Parlaments in Bezug auf den Verpflichtungskredit respektiert hat. Beide Ebenen sind voneinander zu trennen. Eine allfällige Kompetenzüberschreitung im Innenverhältnis lässt die Rechtswirkungen und Rechtsfolgen im Aussenverhältnis unberührt. Der Grund hierfür liegt darin, dass sich Dritte nach Treu und Glauben auf das Handeln des Bundesrates verlassen können müssen (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV). 2²8 Aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit kann gegenüber gutgläubigen Dritten folglich nicht geltend gemacht werden, dass das Handeln des Bundesrates die Eidgenossenschaft nicht bindet, selbst wenn dieser seine Kompetenzen überschritten haben sollte. Die Glaubwürdigkeit des bundesrätlichen Handelns in Notsituationen würde völlig untergraben, wenn sein Handeln im Aussenverhältnis nachträglich in Frage gestellt werden könnte.
-
Drittens steht einer Einschränkung der verfassungsrechtlichen Notrechtskompetenz durch eine nachträglich verweigerte Genehmigung des Parlaments im Sinne von Artikel 28 beziehungsweise 34 FHG auch die von der Bundesverfassung vorgesehene Normenhierarchie entgegen. Die Bundesverfassung hat Vorrang gegenüber Bundesgesetzen. Diese müssen verfassungskonform ausgelegt werden. Ausserdem wäre es nicht plausibel, dass solche Einschränkungen der verfassungsrechtlichen Notverordnungskompetenz nur im Falle von Ausgaben zum Tragen kämen, nicht aber bei anderen einschneidenden notrechtlichen Entscheiden.
-
Viertens besteht die ratio legis des Dringlichkeitsverfahrens gerade darin, dass es für Notsituationen geschaffen wurde, in denen ein Beschluss der Bundesversammlung nicht abgewartet werden kann. 2²9 Aus dem Bericht der SPK-N vom 5. Februar 2010 23⁰ zur pa. Iv. 09.402 SPK-N «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen» ergibt sich, dass der neu eingerichtete Mechanismus dazu führen soll, dass «der Bundesrat in stärkerem Ausmass als bisher veranlasst wird, sein ausserordentliches Vorgehen gebührend zu rechtfertigen». 23¹ Neben dieser Rechtfertigungspflicht des Bundesrates soll der Mechanismus für Notkredite sicherstellen, dass «die Bundesversammlung schneller zum Zug kommt» und «je nach Umständen des einzelnen Falls in geringerem Ausmass vor ein «fait accompli» gestellt» wird, indem vorläufig freigegebene, aber noch nicht ausgeführte Zahlungen gegebenenfalls noch gestoppt werden können. 23² Die Idee ist jedoch nicht, auf bereits rechtsverbindlich gesprochene Notkredite zurückzukommen, sondern nach einem Krisenfall so schnell wie möglich die Kompetenzen der Bundesversammlung im Bereich der Finanzbeschlüsse wieder zu etablieren.
Die Frage, wie und mit welchen Rechtsfolgen das Parlament in den Beschluss dringlicher Finanzbeschlüsse einbezogen werden kann und muss, ohne, dass es bereits rechtsverbindliche Entscheidungen des Bundesrats in Zweifel zieht, und ohne, dass es die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenzen des Bundesrats und damit seine Handlungsfähigkeit in Krisensituationen beschneidet, wird noch weiter zu klären sein.
2²4 BBl 2010 1563 .
2²5 Medienmitteilung des Bundesrates vom 19.4.2023, Bundesrat hat sich zum Ergebnis der ausserordentlichen Session ausgetauscht,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 19.4.2023 (28.2.2024); Notiz vom 24.03.2024 des Sekretariats der Finanzkommission des Nationalrats (FK-N) zu den rechtlichen Möglichkeiten der Kommissionen und Räte bei der nachträglichen Genehmigung von dringlichen Verpflichtungen der FinDel im «CS-UBS-Fall»,
www.parlament.ch > Organe > Kommissionen > Aufsichtskommissionen > Finanzkommissionen > FK-N > Medienmitteilungen > Medienmitteilung vom 31.3.2023 > Beilage.
2²6 AS 2023 136
2²7
Florian Zihler
, Wirkung des Beschlusses der Finanzdelegation der Bundesversammlung im Dringlichkeitsverfahren, AJP 2023 S. 1067 ff., 1076.
2²8 BBl 2010 1563 , 1579
2²9
Florian Zihler
, Wirkung des Beschlusses der Finanzdelegation der Bundesversammlung im Dringlichkeitsverfahren, AJP 2023 S. 1067 ff., 1076.
23⁰ BBl 2010 1563
23¹ BBl 2010 1563 , 1579 f.
23² BBl 2010 1563 , 1579 f.

8.2.5 Verhältnis zur verfassungsrechtlichen Notrechtskompetenz

Verschiedene Gesetze enthalten «Notklauseln» zur Bewältigung ausserordentlicher Lagen. Das Verhältnis solcher Krisenbestimmungen zu Artikel 185 Absatz 3 BV und zur polizeilichen Generalklausel kann nicht abstrakt, sondern muss im konkreten Einzelfall bestimmt werden. ²33 Krisenbestimmungen in Spezialgesetzen können dabei mit Blick auf die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz deklaratorische oder konstitutive Wirkung entfalten. ²34 Konstitutiven Krisenbestimmungen in Spezialgesetzen kommt im Gegensatz zu bloss deklaratorischen Normen eine eigenständige Bedeutung zu, da sie die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz nicht lediglich wiederholen, sondern für bestimmte Notlagen eine spezifische gesetzliche Notbestimmung vorsehen. ²35
Solche spezialgesetzlichen Regelungen für ausserordentliche Lagen mit konstitutiver Wirkung verleihen den Notmassnahmen des Bundesrates eine erhöhte rechtsstaatliche und demokratische Legitimation. Die Notmassnahmen können sich nämlich auf eine vom Gesetzgeber für diesen Fall ausgestaltete und konkretisierende formell-gesetzliche Grundlage stützen und müssen sich nicht auf die generelle Notrechtskompetenz in der Verfassung berufen. Dennoch ist nicht restlos geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen der Bundesrat sich über spezialgesetzliche Krisenbestimmungen hinwegsetzen kann, indem er von seiner verfassungsrechtlichen Notrechtskompetenz Gebrauch macht. Folgende drei Positionen zu dieser Frage sind denkbar:
-
Der Bundesrat darf sich nicht auf seine verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz berufen, wenn der Gesetzgeber die Voraussetzungen und Schranken abschliessend in einer spezialgesetzlichen Notbestimmung geregelt hat. Für diese Auffassung spricht, dass der Gesetzgeber spezifisch für eine derartige Notlage eine Regelung vorgesehen, das heisst an den eingetretenen Notfall gedacht hat und entsprechend aktiv geworden ist.
-
Der Bundesrat darf sich auf seine verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz berufen, selbst wenn der Gesetzgeber die Voraussetzungen und Schranken in einer spezialgesetzlichen Notbestimmung geregelt hat. Hierfür spricht, dass die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz von der Normstufe her über den spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen steht. Aus Sicht der Normenhierarchie wäre es daher systemwidrig, wenn konkretisierende Bundesgesetze den verfassungsrechtlichen Handlungsspielraum in Notlagen einschränken würden. Es gilt zudem zu betonen, dass Artikel 185 Absatz 3 BV den Bundesrat nicht bloss berechtigt, sondern auch verpflichtet. Die Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz in ausserordentlichen Lagen gehört zur originären Aufgabe des Bundesrates. Damit einher geht die Wahrnehmung von staatlichen Schutzpflichten. So ist zum Bespiel klar, dass eine bloss unzulängliche Krisengesetzgebung die Regierung nicht davon entbindet, von ihrer originären Aufgabe und Verantwortung gegen unmittelbar drohende Gefahren für fundamentale Rechtsgüter vorzugehen. ²36
-
Der Bundesrat darf sich zwar auf seine verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz berufen, selbst wenn der Gesetzgeber die Voraussetzungen und Schranken in einer spezialgesetzlichen Notbestimmung geregelt hat. Es müssen jedoch qualifizierte Gründe für eine Abweichung von diesem spezialgesetzlichen Notrechtsrahmen bestehen. Konkret untersteht der Bundesrat einer erhöhten Begründungspflicht, wenn er von eigens für ausserordentliche Notlagen geschaffenen spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen abweicht (Rechtfertigungszwang).
Aus Sicht des Bundesrates ist der dritten Lösung zu folgen. Sie ermöglicht bundesrätliches Handeln gestützt auf die allgemeine Notrechtskompetenz in der Verfassung, selbst wenn eine einschlägige spezialgesetzliche Notbestimmung besteht. Der Gesetzgeber kann den bundesrätlichen Handlungsspielraum der Verfassung nicht einschränken (Normenhierarchie) und verhindern, dass der Bundesrat seinen in der Verfassung statuierten Aufgaben nachgeht (Schutzpflichten). Gleichzeitig muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Gesetzgeber für den Fall einer Notlage die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz konkretisiert hat. Aus diesem Grund ist der Bundesrat angehalten, Massnahmen, die in Abweichung von spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen getroffen wurden, besonders zu begründen. Damit wird sowohl der Handlungsfähigkeit des Bundesrates sowie dem Willen des Gesetzgebers gebührend Rechnung getragen.
²33
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 125.
²34
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 125.
²35
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 125 und 159 .
²36 BGE 137 II 431 E. 3.3.2.

8.2.6 Zwischenergebnis

Die Expertengruppe war der Ansicht, dass Notrechtsbestimmungen in Spezialgesetzen einen Mehrwert darstellen können, sofern sie nicht bloss die verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz des Bundesrates wiederholen, sondern konkretisieren. Analog zur Europakompatibilität wird ein Mechanismus zur Prüfung der Krisenkompatibilität von Gesetzesvorschlägen vorgeschlagen, um die Sensibilisierung der Bundesverwaltung und des Parlaments für eine krisenresiliente Rechtssetzung zu fördern. Die Expertinnen und Experten äussern sich dabei jedoch gegen einen Automatismus, der eine Krisenkompatibilitätsprüfung beziehungsweise Krisenklauseln immer und überall gesetzlich verankern will. Wenn das Parlament bei jedem Gesetz noch eine Krisenklausel anhängen würde, würde dies rechtsstaatlich keinen Mehrwert bringen, sondern die Situation unübersichtlicher gestalten und im Allgemeinen verschlimmern. Als Negativbeispiel wird Artikel 7 EpG genannt, der rechtsstaatlich nur beschränkt einen Mehrwert bringt. Notrechtsbestimmungen sollen in Spezialgesetzen vielmehr dort formuliert werden, wo Notlagen voraussehbar sind. Dies dürfte sich jedoch im Einzelfall als schwierig erweisen, da Krisensituationen, wie der Fall CS zeigte, naturgemäss unberechenbar sind. Es wurde schliesslich darauf hingewiesen, dass eine Dichotomie zwischen Notrecht und ordentlichem Recht gerade vor dem Hintergrund spezialgesetzlicher Krisenklauseln künstlich sei und nicht der graduellen Ausgestaltung der Krisen sowie der entsprechenden rechtlichen Handlungsinstrumente entspreche.
Eine ähnliche Haltung vertritt die Arbeitsgruppe: Ihr zufolge soll der Gesetzgeber soweit möglich und sinnvoll gewisse Krisenszenarien antizipieren. Krisenbestimmungen sollen in den jeweiligen Sachgesetzen eingeführt werden. Als Beispiele für derartige Krisenregulierungen werden das EpG und das Stromversorgungsgesetz vom 23. März 2007 ²37 (StromVG) genannt. Auch das prinzipiell subsidiär anwendbare LVG erlaubt dem Bundesrat, Instrumente zur Bewältigung bestimmter Mangellagen zu ergreifen. ²38 Diese Erlasse stellen ordentliches Recht für ausserordentliche Lagen dar. Die CS-Krise 2023 zeigte gewisse Grenzen solcher Gesetze auf, welche Notszenarien antizipieren möchten (vgl. Too-big-to-fail-Regulierung). Punktuell erscheint die Einführung spezialgesetzlicher Krisenbestimmungen jedoch dennoch sinnvoll. So sieht beispielsweise die Vernehmlassungsvorlage vom 29. November 2023 ²39 zur Teilrevision des EpG ein ordentliches Recht zur Bewältigung von Krisenlagen vor. Eine Checkliste für die Ausgestaltung spezialgesetzlicher Krisenbestimmungen zuhanden der federführenden Ämter ist hilfreich, um Orientierung zu bieten, die Sensibilisierung für die Problematik zu stärken und inhaltliche Kohärenz zu schaffen. Eine solche Checkliste darf jedoch nicht zu einem systematischen Zwang werden, der zu einem unverhältnismässigen, administrativen Mehraufwand ohne entsprechenden Mehrwert führt.
²37 SR 734.7
²38 BBl 2014 7119 , 7121
²39 www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > abgeschlossen > Vernehmlassung 2023/50 Teilrevision des Epidemiengesetzes (17.3.2024).
2¹5 SR 783.0
¹87
Gonin,
CR Cst., Art. 185 BV N 11.

9 Rechtliche Grenzen des Notrechts

Liegt eine Notrechtslage vor, so gilt es sicherzustellen, dass sich die Notrechtsmassnahmen im Rahmen der rechtlichen Schranken bewegen. Im Einzelnen geht es um die Frage, inwiefern gesetzes- oder sogar verfassungsderogierendes Notrecht zulässig ist (Ziff. 9.1) und welche relativen und absoluten Grenzen für den Erlass von Notverordnungen zu respektieren sind (Ziff. 9.2 und 9.3).

9.1 Rechtsbindung

Der Umstand, dass der Bundesrat in der Vergangenheit von bestehendem Gesetzesrecht abweichendes Notverordnungsrecht erliess, hat in der rechtswissenschaftlichen Lehre wiederholt zu Diskussionen und Kritik geführt. 24⁰ So stellt sich die Frage, ob der Bundesrat per Notverordnung gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV von einem Bundesgesetz abweichen und unter Umständen sogar die Verfassung einschränken darf. Schematisch lassen sich mit Blick auf die Rechtsbindung des Notrechts folgende drei Positionen unterscheiden:
Tabelle vergrössern
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praeter legem contra legem contra constitutionem
Notrecht darf Gesetze ergänzen , nicht abändern Notrecht darf im Rahmen des Verhältnismässigkeitsprinzips von Gesetzen abweichen Notrecht darf unter gewissen Umständen Verfassungsbestimmungen einschränken

9.1.1 Praeter legem oder contra legem?

Ein Teil der Lehre vertritt die Auffassung, dass Notverordnungen nur Bestimmungen enthalten dürfen, die bestehendes Gesetzesrecht ergänzen ( praeter legem ) und nicht dazu im Widerspruch stehen ( contra legem ). 24¹ Gegen den Erlass von notrechtlichen Massnahmen «in Abweichung» von bestehendem Gesetzesrecht haben sich Prof. Giovanni Biaggini 24² und Prof. Andreas Kley ²43 ausgesprochen. ²44 Diese Experten stützen sich dabei insbesondere auf eine historische Auslegung von Artikel 185 Absatz 3 BV. Sie erinnern daran, dass der Bundesrat in der Botschaft vom 20. November 1996 ²45 über eine neue Bundesverfassung die Auffassung vertrat, dass verfassungsunmittelbare, gesetzesvertretende oder gesetzesergänzende Verordnungen «nicht im Widerspruch zu Erlassen der Bundesversammlung stehen [dürfen]». ²46 Sie zeigen sich daher erstaunt über die Selbstverständlichkeit, mit welcher der Bundesrat als Verordnungsgeber gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV gesetzes- und sogar verfassungsderogierende Bestimmungen erlassen habe. ²47
Aus der Sicht eines anderen Teils der Lehre und des BJ sind die Kategorien praeter und contra legem künstlich und nicht sinnvoll. ²48 Der Zweck von gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV erlassenen, verfassungsunmittelbaren Verordnungen sei es gerade, an die Stelle von formellem Gesetzesrecht zu treten. ²49 Der Bundesrat nimmt somit für die Zeit der Notlage temporär die Rolle des Gesetzgebers ein. Deshalb soll bundesrätliches Notverordnungsrecht auch formelles Gesetzesrecht vorübergehend ändern oder ersetzen können, wenn sich dieses für die Bewältigung einer konkreten Gefahrensituation als ungenügend erweist. 25⁰ Das BJ hatte in einem Gutachten aus dem Jahre 2006 den Standpunkt eingenommen, dass der Bundesrat unter Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben per Notverordnung oder -verfügung auch Massnahmen contra legem erlassen dürfe. 25¹ Gleiches gilt für das Bundesgericht, das in einem Entscheid implizit davon ausging, der Bundesrat könne unter bestimmten Umständen mit Notverordnungsrecht bestehendes Gesetzesrecht derogieren. 25² Ein grosser Teil der Lehre argumentiert ebenfalls, dass bei schweren Störungen der öffentlichen Ordnung sowie der inneren und äusseren Sicherheit eine unbedingte Bindung des Bundesrates an die Gesetzesordnung situationsadäquates Handeln verunmöglichen würde. ²53
Neu geschaffene Notverordnungen dürften zudem als lex posterior älteren Normen über den Weg der Auslegung bereits vorgehen. Hinzu kommt, dass bundesrätliche Notverordnungen, auch wenn sie aus generell-abstrakten Normen bestehen, eine klar bestimmbare Notsituation vor Augen haben und damit als lex specialis gegenüber anderen Normen Vorrang haben dürften. ²54
Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Um die Handlungsfähigkeit des Bundes in Krisenlagen zu gewährleisten, muss der Bundesrat mit Notverordnungen auch von bestehendem Gesetzesrecht vorübergehend abweichen und es ändern können, sofern er sich hierbei an den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismässigkeit hält.
9.1.1.1 Contra spezialgesetzliche Krisenbestimmungen?
Die Frage, inwiefern der Bundesrat per Notverordnung nicht nur von allgemeinen Gesetzesbestimmungen, sondern auch von spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen abweichen darf, betrifft die in Kapitel 8.2.5 behandelte Frage nach dem Verhältnis zwischen der bundesrätlichen Notrechtskompetenz in der Verfassung und den Notbestimmungen in Spezialgesetzen.
Spezialgesetzliche Krisenbestimmungen regeln auf Gesetzesebene die Bewältigung von künftigen Krisen, die bereits von Vornherein erkennbar sind. Im Fall von spezialgesetzlichen Notbestimmungen bringt der Gesetzgeber in Kenntnis der Gefahrensituation zum Ausdruck, wann er ein bundesrätliches Handeln wünscht oder gerade nicht wünscht und allfällige Schäden in Kauf nimmt. ²55
Verzichtet die Bundesversammlung ausdrücklich darauf, die für die Bewältigung einer Gefahr notwendigen rechtlichen Grundlagen zu schaffen, so könnte es sich um ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers handeln, über das sich der Bundesrat nicht ohne sehr gute Gründe hinwegsetzen kann. ²56 Ein solches qualifiziertes Schweigen dürfte jedoch nur äusserst selten vorliegen. ²57
Bundesrätliches Handeln muss dann zulässig sein, wenn die Bundesversammlung nicht (abschliessend) legiferiert, um dem Bundesrat einen Handlungsspielraum zu gewähren, wenn sich der aktuelle Informationsstand seit der parlamentarischen Beratung deutlich geändert hat, das heisst, wenn ein neuer Sachverhalt vorliegt oder die mit einem Sachverhalt verbundenen Gefahren ganz anders zu beurteilen sind oder wenn eine Gefahr von der Bundesversammlung oder vom Bundesrat massiv unterschätzt wurde. ²58
Die im Rahmen des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 2010 ²59 über die Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen erlassenen Bestimmungen sind ein Beispiel für spezialgesetzliche Krisenbestimmungen. Sie regeln explizit den Notrechtsgebrauch des Bundesrates. Die darin statuierten Informations- und Vorlagepflichten sowie Genehmigungserfordernisse sind für den Bundesrat verbindlich. 26⁰
²55
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 159.
²56 BGE 121 I 22 E. 4b/bb, 28;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 159, die in einem solchen Fall ein bundesrätliches Handeln nur in einer «Extremsituation» für zulässig halten.
²57
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 159.
²58 Saxer
/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 159.
²59 AS 2011 1381
26⁰
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 159.
9.1.1.2 Contra Transparenzbestimmungen?
In der öffentlichen Diskussion kam im Zusammenhang mit den besprochenen Notrechtsfallstudien immer wieder die Frage auf, ob der Bundesrat gestützt auf seine verfassungsrechtliche Notverordnungskompetenz die Geltung des BGÖ für eine bestimmte Konstellation ausschliessen kann.
Im Allgemeinen ist daran zu erinnern, dass das selbstständige Verordnungsrecht nach den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV den Rang eines formellen Gesetzes einnimmt und deshalb auch vorhandenes Gesetzesrecht zeitweise aufheben kann. Aus Sicht des Bundesrates ist nicht auszuschliessen, dass die Wahrung der Handlungsfähigkeit des Bundesrates Abweichungen vom BGÖ im Einzelfall rechtfertigen kann. Gleichzeitig gilt es zu beachten, dass das BGÖ bereits verschiedene Ausnahmebestimmungen kennt, um zwischen widerstreitenden Interessen zu vermitteln. Selbst wenn der persönliche und sachliche Geltungsbereich des BGÖ eröffnet ist und die Voraussetzungen des Begriffs des amtlichen Dokuments erfüllt sind, gilt das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten nicht absolut. Eine Beschränkung (d. h. Einschränkung, Aufschub oder Verweigerung) des Zugangs ist bereits gemäss dem BGÖ möglich, wenn überwiegende öffentliche oder private Interessen dem Zugang entgegenstehen (Art. 7 und 9 BGÖ) oder einer der besonderen Fälle nach Artikel 8 BGÖ vorliegt.
Für das Ressourcenproblem, mit dem sich die betroffenen Verwaltungseinheiten im Zusammenhang mit BGÖ-Gesuchen während der Krisenbewältigung begegnet sehen, sieht das existierende Regime ebenfalls eine konstruktive Lösung vor. So ermöglicht Artikel 10 Absatz 2 der Öffentlichkeitsverordnung vom 24. Mai 2006 26¹ (VBGÖ) der Bundesverwaltung, Gesuche, die eine besonders aufwendige Bearbeitung erfordern, innert einer angemessenen Frist zu behandeln. Gemäss Absatz 1 dieser Bestimmung ist eine «besonders aufwendige Bearbeitung» dann gegeben, «wenn die Behörde das Gesuch mit ihren verfügbaren Ressourcen nicht behandeln kann, ohne dass die Erfüllung anderer Aufgaben wesentlich beeinträchtigt wird.»
Es kann durchaus legitime Gründe geben, spezialgesetzlich im Sinne von Artikel 4 BGÖ bestimmte Informationen als geheim zu bezeichnen (Bst. a); oder vom BGÖ abweichende Voraussetzungen für den Zugang zu bestimmten Informationen vorzusehen (Bst. b). Es gilt jedoch, stets die zentrale Funktion des BGÖ in Erinnerung zu behalten. Es will die Transparenz der Tätigkeit der Verwaltung fördern. Zu diesem Zweck gewährleistet es den Zugang zu amtlichen Dokumenten. Das Öffentlichkeitsprinzip dient als zusätzliches Instrument zur Kontrolle der Verwaltung durch die Bürgerinnen und Bürger 26² und stärkt somit die demokratische Kontrolle über die Bundesverwaltung. Abweichungen von solchen Transparenzbestimmungen des BGÖ sind daher besonders begründungsbedürftig.
Axpo-Notverordnung
Die Axpo-Notverordnung (FiREVO) enthielt ebenfalls zeitlich befristet einen Ausschluss vom Öffentlichkeitsprinzip. Artikel 19 Absatz 4 FiREVO sah vor, dass der Zugang nach dem BGÖ in die von den systemkritischen Unternehmen zur Verfügung gestellten Informationen und Daten ausgeschlossen ist. Als flankierende Massnahme zu dieser Beschränkung des passiven Informationsrechts (Information auf Anfrage) wurde die aktive Informationspflicht des UVEK (proaktive Information) gestärkt. Damit wurde auch Artikel 180 Absatz 2 BV Rechnung getragen, der festlegt, dass der Bundesrat die Öffentlichkeit rechtzeitig und umfassend über seine Tätigkeit informiert, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen. Diese aktive Informationspflicht des Bundesrates wird in Artikel 10 RVOG konkretisiert. Das UVEK wurde in Artikel 19 Absatz 4 FiREVO angehalten, regelmässig allgemeine Informationen zu den Darlehen zu veröffentlichen. Nicht veröffentlicht werden gemäss diesem Artikel jedoch unternehmensspezifische Informationen zu den gewährten Darlehen.
Der Ausschluss des BGÖ ist dabei sachlich auf «die von den systemkritischen Unternehmen zur Verfügung gestellten Informationen und Daten» beschränkt. Der Ausschluss betrifft sowohl amtliche Dokumente, die systemkritische Unternehmen im Rahmen ihrer Auskunftspflichten gemäss Artikel 18 FiREVO mitgeteilt haben, als auch freiwillig eingereichte Informationen gemäss Artikel 19 Absatz 2 FiREVO.
Bemerkenswert ist, dass der BGÖ-Ausschluss der Axpo-Notverordnung in das FiREG überführt wurde. Der alte Artikel 19 Absatz 4 FiREVO ist neu in Artikel 20 Absatz 4 FiREG zu finden. Der BGÖ-Ausschluss wurde damit auf unbestimmte Zeit verlängert. Artikel 20 Absatz 4 FiREG stellt eine spezialgesetzliche Ausnahmebestimmung im Sinne von Artikel 4 Buchstabe b BGÖ dar, weil sie vom BGÖ abweichende Voraussetzungen für den Zugang zu bestimmten Informationen vorsieht.
In der Botschaft vom 18. Mai 2022 ²63 zum FiREG begründete der Bundesrat den Ausschluss des Öffentlichkeitsprinzips damit, dass ein freier und vertrauensvoller Informationsaustausch garantiert werden solle. Elektrizitätsunternehmen sollten nicht befürchten, dass die Behörden Zugang zu den zur Verfügung gestellten Informationen und Unterlagen gewähren müssen. Sonst könne es dazu kommen, dass Informationen nicht oder nur mit einer gewissen Verzögerung geteilt werden, was die Effektivität der staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten entscheidend schmälern würde. ²64
CS-Notverordnung
Die CS-Notverordnung enthielt zeitlich befristet einen Ausschluss vom Öffentlichkeitsprinzip. Artikel 6 Absatz 1 der CS-Notverordnung sah vor, dass das EFD, die FINMA und die SNB nicht öffentlich verfügbare Informationen austauschen, die namentlich im Zusammenhang mit der Gewährung, Verwaltung, Überwachung und Abwicklung von Liquiditätshilfe-Darlehen und Ausfallgarantien notwendig sind. Der Zugang zu diesen Informationen und Daten nach dem BGÖ wurde in Artikel 6 Absatz 3 der CS-Notverordnung ausgeschlossen.
Der Bundesrat erkannte in seinen Erläuterungen zur CS-Notverordnung, dass eine weitgehende Informationstransparenz im Kontext der Gewährung von Liquiditätshilfe-Darlehen mit Ausfallgarantie des Bundes notwendig ist. ²65 Gleichzeitig wies er darauf hin, dass solche Informationen und Daten der betroffenen Banken zweifellos sehr sensibler Natur seien. So würden sie Geschäfts- oder Fabrikationsgeheimnisse im Sinne des BGÖ enthalten. Um eine klare Rechtslage zu schaffen, hat der Bundesrat den Zugang zu amtlichen Dokumenten in dieser Hinsicht ausgeschlossen. Diesbezügliche Rechtsunsicherheiten hätten dazu führen können, dass der Informationsaustausch zwischen EFD und SNB einerseits und UBS und CS andererseits gehemmt worden wäre, weil Letztere befürchtet hätten, dass sensible Informationen an die Öffentlichkeit gelangen. Der Bundesrat begründete den BGÖ-Ausschluss in seinen Erläuterungen zur CS-Notverordnung mit dieser befürchteten Hemmung des Informationsaustausches. ²66 Er machte zudem darauf aufmerksam, dass die notwendige Transparenz auch anderweitig hergestellt werden könne, beispielsweise indem wichtige Erkenntnisse, Eckwerte und Rahmenbedingungen in geeigneter Form offengelegt werden. Die Form sowie der Inhalt einer derartigen proaktiven Information des Bundesrates liegen jedoch einzig in seinem persönlichen Ermessen und können nicht erzwungen werden, da ein entsprechender Rechtsanspruch fehlt.
Es ist zu beachten, dass das BGÖ den Geltungsbereich bereits einschränkt und Ausnahmen vorsieht. Gemäss Artikel 2 Absatz 2 BGÖ gilt das Gesetz nicht für die SNB und die FINMA, weshalb das BGÖ für diese folglich auch ohne die CS-Notverordnung nicht anwendbar gewesen wäre.
Artikel 7 BGÖ sieht darüber hinaus vor, dass der Zugang zu amtlichen Dokumenten eingeschränkt, aufgeschoben oder verweigert werden kann, wenn durch seine Gewährung:
-
(Bst. a) die freie Meinungs- und Willensbildung einer Behörde wesentlich beeinträchtigt werden kann; oder
-
(Bst. b) die zielkonforme Durchführung konkreter behördlicher Massnahmen beeinträchtigt würde; oder
-
(Bst. f) die wirtschafts-, geld- und währungspolitischen Interessen der Schweiz gefährdet werden können;
-
(Bst. g) Berufs-, Geschäfts- oder Fabrikationsgeheimnisse offenbart werden können; oder
-
(Bst. h) Informationen vermittelt werden können, die der Behörde von Dritten freiwillig mitgeteilt worden sind und deren Geheimhaltung die Behörde zugesichert hat.
Die genannten Ausnahmen zeigen, dass die Bundesverwaltung den Zugang hinsichtlich verschiedener Informationen im Einzelfall aufschieben oder beschränken kann, ohne dass es den generellen Ausschluss des BGÖ in einer speziellen Notverordnung wie der CS-Notverordnung bedarf.
Mit dem Ausschluss des BGÖ in Artikel 6 Absatz 3 der CS-Notverordnung wollte der Bundesrat kein Risiko eingehen, das den Informationsfluss gemäss Absatz 1 desselben Artikels hätte beeinträchtigen können. Schliesslich verzichtete der Bundesrat auf eine Verlängerung der Gültigkeit des Ausschlusses des BGÖ in der CS-Notverordnung. Auch im Entwurf zur Änderung des BankG, der zurzeit von den zuständigen Kommissionen des eidgenössischen Parlaments beraten wird, beantragt er keine Vorbehalte gegenüber dem Öffentlichkeitsprinzip. Per 15. September 2023 wurde die Notverordnung revidiert. Der BGÖ-Ausschluss in Artikel 6 Absatz 3 wurde dabei ersatzlos gestrichen, wobei diese Streichung nicht rückwirkend gilt. ²67
Haltung des EDÖB
Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) kritisierte in seiner Kurzmeldung vom 6. April 2023 ²68 den Ausschluss des BGÖ durch Notrecht. Konkret stellte der EDÖB fest, dass die Frage nach der Zulässigkeit von Notrecht von der Frage der Zulässigkeit eines BGÖ-Ausschlusses durch Notrecht zu unterscheiden sei und Ersteres nicht zwingend Letzteres rechtfertige:
«Aus der Begründung für den Erlass des unmittelbar auf die Bundesverfassung gestützten Notrechts zur Stützung der Elektrizitäts- oder Finanzwirtschaft lässt sich aufgrund der dem EDÖB zurzeit vorliegenden Informationen in keinem dieser Fälle eine Notwendigkeit ableiten, über den Weg des Notrechts auch noch den Anspruch der Bürgerinnen und Bürger aufzuheben, das notrechtliche Wirken der Verwaltung nachvollziehen zu können.»
Wird auf einen Ausschluss des Öffentlichkeitsprinzips in der Notverordnung verzichtet, finden die Ausnahmebestimmungen des BGÖ selbst (insbesondere die Art. 7, 8 und 9 BGÖ) Anwendung. Der EDÖB machte bereits in der Vernehmlassung zum FiREG geltend, dass er einen BGÖ-Ausschluss ablehne, weil das BGÖ Ausnahmen insbesondere zum Schutz der privaten Interessen von Unternehmen vorsehe und der Schutz von Geschäftsgeheimnissen und der Privatsphäre im BGÖ bereits gewährleistet sei. ²69 In seiner Kurzmeldung vom 6. April 2023 machte der EDÖB zum Ausschluss des Öffentlichkeitsgesetzes durch Notrecht klar, dass es der Bundesverwaltung in beiden Fällen (FiREVO und CS-Notverordnung) offen gestanden hätte, den Zugang zu amtlichen Dokumenten nach dem BGÖ unter Anrufung des Schutzes öffentlicher und privater Interessen einzuschränken. 27⁰ Der Ausschluss des Öffentlichkeitsgesetz in einer Notverordnung erweist sich daher aus Sicht des EDÖB als nicht notwendig.
Der (notrechtlich verankerte) Ausschluss der Verwaltungsöffentlichkeit wurde in beiden Fällen insbesondere damit begründet, dass nur mittels Ausschlusses des BGÖ die Einhaltung gesetzlicher Melde- und Mitwirkungspflichten gewährleistet werden kann. Dieser Begründung wird nach Ansicht des EDÖB eine unzutreffende Prämisse zugrunde gelegt, da in einem Rechtsstaat zunächst davon auszugehen ist, dass gesetzliche Auskunfts- und Meldepflichten beachtet und durchgesetzt werden. Dies bekräftigten auch das Bundesverwaltungsgericht 27¹ und das Bundesgericht 27² . Mögliche Rechtsverletzungen von Auskunfts- und Meldepflichtigen vermögen - selbst wenn oder gerade, weil sie auf das Öffentlichkeitsprinzip zurückzuführen sind - keinesfalls derartige Einschränkungen des BGÖ zu rechtfertigen.
Der Bundesrat machte in Bezug auf den Ausschluss des Öffentlichkeitsprinzips in der CS-Notverordnung darauf aufmerksam, dass Transparenz auch durch aktive Information hergestellt werden könne. Der EDÖB weist darauf hin, dass sich im Gegensatz zur aktiven Behördeninformation das Zugangsrecht nach dem BGÖ jedoch dadurch auszeichnet, dass die gesuchstellende Person Inhalt und Umfang der verlangten Information bestimmt und es folglich nicht (mehr) im alleinigen Ermessen der Behörden liegt, ob und in welchem Umfang sie Informationen offenlegen wollen. ²73 Die aktive Behördeninformation vermag nach dieser Argumentation den Informationszugang auf Gesuch hin gerade aus diesem Grund nicht zu ersetzen.
26¹ SR 152.31
26² BBl 2003 1963 , 1974
²63 BBl 2022 1183
²64 BBl 2022 1183 , S. 27.
²65 Erläuterungen vom 16. März 2023 zur Verordnung über zusätzliche Liquiditätshilfe-Darlehen und die Gewährung von Ausfallgarantien des Bundes für Liquiditätshilfe-Darlehen der Schweizerischen Nationalbank an systemrelevante Banken, Fassung vom 19.3.2023, S. 12,
www.efd.admin.ch > Finanzplatz > Übernahme der Credit Suisse durch die UBS > Dokumentation > 19.03.2023 > erläuternder Bericht.
²66 Erläuterungen vom 16. März 2023 zur Verordnung über zusätzliche Liquiditätshilfe-Darlehen und die Gewährung von Ausfallgarantien des Bundes für Liquiditätshilfe-Darlehen der Schweizerischen Nationalbank an systemrelevante Banken, Fassung vom 19.3.2023, S. 12,
www.efd.admin.ch > Finanzplatz > Übernahme der Credit Suisse durch die UBS > Dokumentation > 19.03.2023 > erläuternder Bericht.
²67 AS 2023 49
²68 EDÖB, Kurzmeldung vom 6. April 2023, Ausschluss des Öffentlichkeitsgesetzes durch Notrecht,
www.edoeb.admin.ch > Kurzmeldungen > 2023 > 6.4.2023 (18.3.2024).
²69 BBl 2022 1183 , S. 8
27⁰ EDÖB, Kurzmeldung vom 6. April 2023, Ausschluss des Öffentlichkeitsgesetzes durch Notrecht,
www.edoeb.admin.ch > Kurzmeldungen > 2023 > 6.4.2023 (18.3.2024).
27¹ Urteil des BVGer A-4571/2015 vom 10. August 2016, E. 7.3.2.
27² Urteil des BGer 1C_428/2016 vom 27. September 2017, E 4.3.
²73 BBl 2003 1963 , 2001 f.
24¹
Luzius Mader
, Aushöhlung des Budgetrechts in Krisenzeiten? Die Fälle Swissair und UBS, in: Schweizerische Vereinigung für Verwaltungsorganisationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 109.
24²
Giovanni Biaggini
, «Notrecht» in Zeiten des Coronavirus - Eine Kritik der jüngsten Praxis des Bundesrats zu Art. 185 Abs. 3 BV, ZBl 121/2020, S. 239 ff., S. 255.
²43
Andreas Kley
, «Ausserordentliche Situationen verlangen nach ausserordentlichen Lösungen.» - Ein staatsrechtliches Lehrstück zu Art. 7 EpG und Art. 185 Abs. 3 BV, ZBl 121/2020, S. 268 ff., S. 273.
²44
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 33.
²45 BBl 1997 I 1
²46 BBl 1997 I 1 ff., 418
²47
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 33.
²48
Luzius Mader
, Aushöhlung des Budgetrechts in Krisenzeiten? Die Fälle Swissair und UBS, in: Schweizerische Vereinigung für Verwaltungsorganisationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 109;
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 36.
²49
Luzius Mader
, Aushöhlung des Budgetrechts in Krisenzeiten? Die Fälle Swissair und UBS, in: Schweizerische Vereinigung für Verwaltungsorganisationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 109;
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 43.
25⁰
Luzius Mader
, Aushöhlung des Budgetrechts in Krisenzeiten? Die Fälle Swissair und UBS, in: Schweizerische Vereinigung für Verwaltungsorganisationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 109.
25¹ Bundesamt für Justiz, Gutachten vom 2. Oktober 2006 (zitiert nach dem Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte vom 19. Januar 2009, Fall Tinner: Rechtmässigkeit der Beschlüsse des Bundesrats und Zweckmässigkeit seiner Führung, BBl 2009 5007 , S. 5046).
25² BGE 137 II 431, E. 3.3.2
²53
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 34; Für eine Darstellung der Lehre siehe:
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 155, sowie
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 184 N. 41 ff. i.V.m. Art. 185 N. 42.
²54
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 34.

9.1.2 Contra constitutionem?

Fraglich ist, ob Notverordnungen des Bundesrates nicht nur contra legem sondern auch contra constitutionem , das heisst entgegen verfassungsrechtlicher Vorgaben erlassen werden dürfen. Während der Covid-19-Krise erliess der Bundesrat zum Beispiel die Verordnung vom 20. März 2020 ²74 über den Fristenstillstand bei eidgenössischen Volksbegehren, die festlegte, dass verfassungsrechtliche Fristen bei eidgenössischen Volksbegehren stillstehen, obwohl die BV diese Möglichkeit nicht vorsieht. Der Fristenstillstand bezweckte jedoch nicht eine Beschränkung, sondern vielmehr eine Stärkung der verfassungsrechtlich garantierten politischen Rechte (Art. 34 Abs. 2 BV) und der Demokratie. ²75 Die Alternative wäre gewesen, dass die Fristen während der Pandemie weitergelaufen wären, in einer Zeit, in der Unterschriftensammlungen und die Mobilisierung von Personen nur erschwert (d. h. nur online) möglich waren. Einzig der Schutz verfassungsrechtlich relevanter Interessen kann daher im Einzelfall selbst ein Abweichen von der BV rechtfertigen. Bloss politische Interessen genügen nicht. Hierin liegt die Besonderheit des Notrechts. Normen werden zeitweise ausser Kraft gesetzt, um die Rechtsordnung als Ganzes zu schützen. Die Notlage, die Notrecht rechtfertigt, ist derart beschaffen, dass eine strikte Befolgung von existierenden Normen verfassungsrechtlich geschützte Interessen schädigen würde. ²76 Die Notfälle, die derart beschaffen sind, dürften jedoch eine absolute Ausnahme sein.
Hingegen ist Artikel 11 Absatz 3 der Covid-19-Kulturverordnung vom 14. Oktober 2020 ²77 nur schwer mit der Rechtsweggarantie von Artikel 29 a BV vereinbar, da die Bestimmung generell festlegt, dass gegen Entscheide in Vollzug dieser Verordnung keine Rechtsmittel offenstehen. ²78
Im Grunde geht es darum, zwischen unterschiedlichen, sich widerstreitenden aber allesamt verfassungsrechtlich garantierten Interessen zu vermitteln. Der Abgleich einer verfassungsrechtlichen Bestimmung mit den ihr zugrunde liegenden Interessen kann daher in seltenen Krisenfällen zur Erkenntnis führen, dass ausnahmsweise von der Verfassungsnorm abgewichen werden muss, um das ihr zugrunde liegende Interesse bestmöglich schützen zu können. ²79 Das Insistieren auf der Verbindlichkeit von Verfassungsbestimmungen darf aber keineswegs als formalistisch abgetan werden. 28⁰ Es ist zu Recht umstritten, inwiefern und unter welchen Voraussetzungen die Abweichung von verfassungsrechtlichen Vorgaben gestützt auf das intrakonstitutionelle Notrecht gemäss Artikel 185 Absatz 3 BV erlaubt ist. 28¹
Die Priorisierung gewisser verfassungsrechtlich geschützter Interessen gegenüber anderen setzt die Unterscheidung zwischen grundlegenden und weniger wichtigen Verfassungsnormen voraus. 28² Das Schweizer Verfassungsrecht kennt jedoch keine derartige Normenhierarchie. Freilich lassen sich insbesondere anhand der systematischen Methode der Verfassungsauslegung gewisse Wertungsentscheide ermitteln. Davon geht implizit auch das Bundesverwaltungsgericht aus, wenn es festhält, dass der Bundesrat «grundsätzlich» die verfassungsrechtlichen Vorgaben respektieren müsse, und zwar «insbesondere» die «grundlegenden Bestimmungen» der BV. ²83 Abstrakt betrachtet ist es jedoch schwierig, Kriterien festzulegen, die es erlauben, die relative Bedeutung verschiedener Verfassungsbestimmungen zu ermitteln.
²74 AS 2020 847 ;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 146.
²75
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 147.
²76
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 148.
²77 SR 442.15 ; AS 2020 855
²78
Giovanni Biaggini
, «Notrecht» in Zeiten des Coronavirus - Eine Kritik der jüngsten Praxis des Bundesrats zu Art. 185 Abs. 3 BV, ZBl 121/2020, S. 251; CR Cst.
Gonin
Art. 185 N 94.
²79
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 148.
28⁰
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 148.
28¹
Brunner/Wilhelm/Uhlmann
, Das Coronavirus und die Grenzen des Notrechts, Überlegungen zu einer ausserordentlichen Lage, AJP 2020, 685 , 697 ; CR Cst.
Gonin
Art. 185 N 95 ff, insbesondere N 102;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 148.
28²
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 144.
²83 BVGer A-4372/2020 [18.3.2021], E. 6.3

9.1.3 Contra ius gentium?

Völkerrechtliche Verpflichtungen binden alle Staatsgewalten (Bund, Kantone, Legislative, Exekutive und Judikative) und gelten grundsätzlich auch in Krisenzeiten (vgl. Art. 5 Abs. 4 BV sowie die Art. 26 und 27 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 ²84 über das Recht der Verträge [WVK]). So stellt sich die Frage, ob eine Notverordnung, die sich direkt auf Artikel 185 Absatz 3 BV stützt, ausnahmsweise auch von internationalen Verpflichtungen der Schweiz abweichen darf. Diese Frage scheint bislang insbesondere in der Lehre relativ wenig Beachtung gefunden zu haben. ²85 Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, dass es unter aussergewöhnlichen Umständen und insbesondere zum Schutz grundlegender Rechtsgüter ( biens juridiques fondamentaux ) wie des Lebens zulässig sei, dass der Bundesrat eine internationale Verpflichtung der Schweiz missachte. ²86 Der Bundesrat kann dabei die von ihm getroffenen, notrechtlichen Massnahmen auch mit dem Völkerrecht selbst begründen, zum Beispiel mit den staatlichen Schutzpflichten, die aus dem Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) folgen. ²87 Weiter ist zu beachten, dass verschiedene Staatsverträge im Falle eines öffentlichen Notstandes die Möglichkeit vorsehen, dass von bestimmten Verpflichtungen unter Wahrung der Verhältnismässigkeit abgewichen werden darf (im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes siehe die Artikel 15 EMRK und 4 UNO-Pakt II). Ist die notrechtliche Massnahme hingegen völkerrechtswidrig, weil das fragliche Instrument des Völkerrechts keine Ausnahmen für Notlagen vorsieht, nimmt der Bundesrat in Kauf, dass er die Staatenverantwortlichkeit der Eidgenossenschaft auslöst. Im Fall einer Menschenrechtsverletzung kann die Schweiz etwa von betroffenen Einzelpersonen oder juristischen Personen vor dem zuständigen Kontrollorgan oder internationalen Gericht eingeklagt und zur Verantwortung gezogen werden.
Die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts gemäss Artikel 53 WVK bilden einen absoluten Kern, von dem unter keinen Umständen abgewichen werden darf, auch nicht in Krisenzeiten und ungeachtet allfälliger Interessensabwägungen. Das zwingende Völkerrecht geht immer und unter allen Umständen dem Landesrecht vor. Auch die Artikel 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 BV besagen, dass weder eine Total- noch eine Teilrevision der Bundesverfassung die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts verletzen darf. Dies gilt ohne Weiteres auch für die Notverordnungen des Bundesrates.
²84 SR 0.111
²85 Explizit zu dieser Frage hingegen CR Cst.
Gonin
Art. 185 N 81-84.
²86 CR Cst.
Gonin
Art. 185 N 83.
²87 CR Cst.
Gonin
Art. 185 N 83.

9.1.4 Strafbestimmungen in Notverordnungen

Keine Strafe ohne Gesetz ( nulla poena sine lege ) ist ein zentraler rechtsstaatlicher Grundsatz (Art. 1 StGB und Art. 7 EMRK). Der Begriff des Gesetzes umfasst hierbei sowohl Gesetze im formellen Sinne wie auch Gesetze im materiellen Sinne, das heisst Verordnungen. ²88 Dass mit Busse bewehrte Übertretungsstrafbestände auch auf Verordnungsebene normiert werden dürfen, ist daher weitgehend akzeptiert. ²89 Freiheitsstrafen bedürfen als schwerwiegende Grundrechtsbeschränkungen hingegen grundsätzlich einer formell-gesetzlichen Rechtsgrundlage (vgl. Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV). 29⁰ Dies ergibt sich auch direkt aus Artikel 31 BV, der festhält, dass die Freiheit einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden darf. 29¹
Im Zusammenhang mit der Bewältigung der Covid-19-Pandemie wurde in der Lehre kontrovers über die Frage diskutiert, ob der Bundesrat gestützt auf seine verfassungsrechtliche Notverordnungskompetenz auch Strafbestimmungen erlassen und Freiheitsstrafen androhen darf. 29² Er hatte nämlich in Artikel 10 f der Covid-19 Verordnung 2 verschiedene Handlungen im Zusammenhang mit der Organisation von verbotenen Versammlungen unter Strafe gestellt. Das Zuwiderhandeln gegen die aufgeführten Tatbestände wurde mit Busse (Art. 10 f Abs. 2-3) sowie mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe (Art. 10 f Abs. 1) bedroht.
In der rechtswissenschaftlichen Literatur wurde daher diskutiert, ob es für die in den Covid-19-Verordnungen vorgesehenen Strafbestimmungen - insbesondere für die Freiheitsstrafe in Artikel 10 f Absatz 1 Covid-19-Verordnung 2 - eine ausreichende gesetzliche Grundlage gab. ²93 Der Bundesrat stützte sich dabei auf Artikel 185 Absatz 3 BV als Anwendungsfall der polizeilichen Generalklausel gemäss Artikel 36 Absatz 1 Satz 3 BV, wie er in seiner Stellungnahme vom 1. Juli 2023 ²94 zur Interpellation 20.3402 Reimann «Mangelnde Rechtsgrundlage für Artikel 10 f Absatz 1 der Covid-19-Verordnung 2» ausführte. Der Bundesrat hielt fest, dass die polizeiliche Generalklausel auch ohne formelle gesetzliche Grundlage schwerwiegende Grundrechtseinschränkungen erlaube, wenn sie zur Gefahrenabwehr notwendig sind und verhältnismässig ausfallen. Der Bund dürfe somit bei Freiheitsstrafen ausnahmsweise auf eine formell-gesetzliche Grundlage verzichten, wenn sie sich auf Artikel 185 Absatz 3 BV stützen könne.
Das Bundesgericht ging in einem Entscheid zur alten Bundesverfassung ebenfalls davon aus, dass der Bundesrat bei solchen Polizeinotverordnungen, «die (vorübergehend) an die Stelle von formellen Gesetzen treten, diejenigen Strafen androhen [könne], welche dem Unwert angemessen sind, der in der Missachtung der von ihm erlassenen Anordnungen und Verbote liegt, nötigenfalls also auch Gefängnisstrafen» ²95 . Der rechtsstaatliche nulla poena sine lege -Grundsatz, dem ius cogens -Qualität zukommt (siehe Ziff. 9.3.2.), wird damit durch die notrechtliche Androhung von Freiheitsstrafen nicht verletzt, sofern die Strafandrohung das Verhältnismässigkeitsprinzip respektiert. Bei der Verhältnismässigkeitsprüfung ist auch die Chilling Effect -Wirkung der Strafandrohung zu berücksichtigen, die sich als indirekte Grundrechtseinschränkung auswirken kann.
²88
Wohlers/Heneghan/Peters
, Strafrecht in Zeiten der Pandemie, 2021, S. 84 mit weiteren Hinweisen auf BGE 64 I 375 E. 5; BGE 96 I 24 E. 4a; BGE 112 Ia 107 E. 3b; BGE 124 IV 23 E. 1.
²89
Wohlers/Heneghan/Peters
, Strafrecht in Zeiten der Pandemie, 2021, S. 84 mit weiteren Hinweisen auf Botschaft Covid-19-Gesetz 2020, BBl 2020 6586 ; Bezirksgericht Dietikon, Urteil vom 16.2.2021, GB200022, E. C.1.
29⁰
Wohlers/Heneghan/Peters
, Strafrecht in Zeiten der Pandemie, 2021, S. 84 mit weiteren Hinweisen.
29¹
Hans Vest
, Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 4. Auflage, Zürich/St. Gallen 2023, zu Art. 31 BV, Rz. 9.
29²
Marcel Alexander Niggli
, Corona-Krise: Warum der Bundesrat keine Strafen erlassen darf, Gastkommentar in der NZZ vom 16.04.2020.
²93 Praxiskommentar StGB-
Trechsel/Fateh-Moghadam
, Art. 1, N. 13.
²94 www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 20.3402
²95 BGE 123 IV 29, 38
24⁰
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 32;
Giovanni Biaggini
, «Notrecht» in Zeiten des Coronavirus - Eine Kritik der jüngsten Praxis des Bundesrats zu Art. 185 Abs. 3 BV, ZBl 121/2020, S. 254 ff.

9.2 Verhältnismässigkeitsprinzip als relativer Standard

Die Notrechtshandlungen des Bundesrates müssen verhältnismässig sein. Allgemein wird hierbei verlangt, dass der Bundesrat bei der Regelung nicht weiter geht, als es die Lagebewältigung unbedingt erfordert, und dass er jede weitere wünschbare Ergänzung dem Gesetzgeber überlässt. Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist ein allgemeines rechtsstaatliches Verfassungsprinzip (Art. 5 Abs. 2 BV), das auch im Völkerrecht von grundlegender Bedeutung ist. Das Verhältnismässigkeitsprinzip gilt auch in Krisensituationen. Es stösst in diesen jedoch aufgrund seiner relativen Natur an seine Grenzen. ²96
Das Verhältnismässigkeitsprinzip verlangt nach einem angemessenen Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Zweck (Zweck-Mittel- Relation) im Allgemeinen und zwischen dem Eingriffszweck und der Eingriffswirkung bei Grundrechtsbeschränkungen im Besonderen. Angewendet auf Krisenzeiten heisst dies, dass die Notmassnahmen in einem angemessenen Verhältnis zur Notlage stehen müssen: Je grösser die Notlage, desto einschneidender dürfen die Notmassnahmen des Bundesrates ausfallen. Je grösser die Gefahr für den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, desto schwerwiegendere Eingriffe in den Schutzbereich der Grund- und Menschenrechte sind erlaubt. Das Verhältnismässigkeitsprinzip statuiert damit einen relativen Standard und setzt keine absoluten Schranken. Dies wird insbesondere im Zusammenhang mit der Beurteilung der Zulässigkeit von contra legem Notverordnungen deutlich. Dabei wird das Verhältnismässigkeitsprinzip als Massstab herbeigezogen, um zu prüfen, ob eine Abweichung vom Gesetz gemessen an der Gefahrenlage verhältnismässig war.
Das Gefährliche am Not- und Ausnahmezustand ist gerade die zeitweise Ausserkraftsetzung und Relativierung gewisser Rechtsnormen und -garantien, um die (Rechts-) Ordnung insgesamt zu schützen. Neben relativen Standards sind darum absolute Schranken zentral, um ein notstandsfestes Minimum sicherzustellen, das unter keinen Umständen - egal wie gross die Gefahrenlage sein mag - unterschritten werden darf.
²96
Marcel Alexander Niggli
, Corona-Krise: Warum der Bundesrat keine Strafen erlassen darf. Wer am Gesetz vorbei nur auf Verhältnismässigkeit abstellt, gibt notwendigerweise dem Mächtigen recht, Gastkommentar in der NZZ vom 16.04.2020.

9.3 Absolute Schranken im Völkerrecht

Neben dem Verhältnismässigkeitsprinzip als relativem Standard anerkennen sowohl das Völker- wie auch das Verfassungsrecht absolute Schranken (vgl. dazu Ziff. 9.4). Das Völkerrecht verankert gewisse notstandsfeste Garantien, von denen unter keinen Umständen - auch nicht in extremen Notlagen - abgewichen werden darf. Es sind dies das zwingende Völkerrecht ( ius cogens ) im Allgemeinen und die notstandsfesten Garantien der Menschenrechte im Besonderen.

9.3.1 Zwingendes Völkerrecht

Gemäss Artikel 53 Satz 2 WVK ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts ( ius cogens ) «eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf […]». Eine solche Norm kann nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur, das heisst mit ius cogens-Charakter, geändert werden. Beim zwingenden Völkerrecht handelt sich also um Normen, die für die internationale Gemeinschaft so fundamental sind, dass sie unabdingbar - eben zwingend - sind. In seinem Bericht vom 12. Juni 2015 in Erfüllung des Postulats 13.3805 FDP-Liberale Fraktion «Klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht» ging der Bundesrat darauf ein. ²97 Unter keinen Umständen darf ein Staat diese fundamentalen Normen verletzen. ²98 Der Bundesrat hat folglich selbst bei der Ausübung seiner Notrechtskompetenzen das ius cogens in jedem Fall zu respektieren. Welche Normen im Einzelnen zum zwingenden Völkerrecht gehören, ist aber nirgends abschliessend und autoritativ definiert. Unbestritten als ius cogens anerkannt sind namentlich die Verbote von Folter, Sklaverei und Völkermord, das Non-Refoulement-Gebot, das Gewaltverbot, die Gleichheit der Staaten sowie die Grundzüge des humanitären Völkerrechts. ²99
²97 Bericht des Bundesrates vom 12. Juni 2015 in Erfüllung des Postulats 13.3805 «Klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht», S. 13,
www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 13.3805.
²98 Bericht des Bundesrates vom 12. Juni 2015 in Erfüllung des Postulats 13.3805 «Klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht», S. 13,
www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 13.3805.
²99 Bericht des Bundesrates vom 12. Juni 2015 in Erfüllung des Postulats 13.3805 «Klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht», S. 13,
www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 13.3805.

9.3.2 Notstandsfeste Garantien der Menschenrechte

Im Falle eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, können Massnahmen ergriffen werden, welche die staatlichen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte weitgehend ausser Kraft setzen, sofern es die Lage unbedingt erfordert (vgl. Art. 15 Abs. 1 EMRK und Art. 4 UNO Pakt II). Die EMRK und auch der UNO-Pakt II sehen jedoch vor, dass von gewissen Rechten unter keinen Umständen abgewichen werden darf. Von diesen Menschenrechten kann niemals derogiert werden, sie sind notstandsfest. Die EMRK bezeichnet in Artikel 15 Absatz 2 folgende Menschenrechte als notstandsfest: Das Verbot willkürlicher Tötung (Art. 2 EMRK), das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK), den Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 7 EMRK). Dazu kommen das Verbot der Todesstrafe (Art. 3 Protokoll Nr. 6 vom 28. April 1983 30⁰ zur EMRK und Art. 2 Protokoll Nr. 13 vom 3. Mai 2002 3⁰1 zur EMRK) und das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 4 Protokoll Nr. 7 vom 22. November 1984 3⁰2 zur EMRK).
Der UNO-Pakt II bezeichnet in Artikel 4 folgende Menschenrechtsgarantien als notstandsfest: das Verbot willkürlicher Tötung (Art. 6 UNO-Pakt II), das Folterverbot (Art. 7 UNO-Pakt II), das Verbot der Sklaverei (Art. 8 UNO-Pakt II), das Verbot der Schuldverhaft (Art. 11 UNO-Pakt II), den Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 15 UNO-Pakt II), die Anerkennung der Rechtsfähigkeit (Art. 16 UNO-Pakt II) sowie die Gedankens-, Gewissens-, und Religionsfreiheit (Art. 18 UNO-Pakt II).
Sowohl die EMRK wie auch der UNO-Pakt II fordern überdies, dass die Suspendierung ihrer nicht notstandsfesten Menschenrechtsgarantien verhältnismässig ausgestaltet wird. Die Derogation von Menschenrechtsgarantien ist nur in dem Umfang erlaubt, als es die Lage unbedingt verlangt. Die Abweichung von Menschenrechtsgarantien hat im Einzelnen den Anforderungen des Verhältnismässigkeitsprinzips in sachlicher, geographischer und zeitlicher Hinsicht zu genügen, wobei die Vertragsstaaten über einen erheblichen Beurteilungsspielraum verfügen. 3⁰3 Ob eine Massnahme erlaubterweise eine nicht notstandsfeste Menschenrechtsgarantie derogiert, muss für jede Massnahme und hinsichtlich jeden Rechts einzeln geprüft werden. Konkret dürfen die Notmassnahmen die Rechte des Einzelnen nicht überstrapazieren, sich nur auf diejenigen Teile des Staatsterritoriums beziehen, in denen ein öffentlicher Notstand vorliegt und zeitlich nicht unbefristet sein.
Weiter verlangen die Derogationsklauseln, dass die ergriffenen Massnahmen sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht zuwiderlaufen. Zu nennen ist hier insbesondere das humanitäre Völkerrecht (Kriegsvölkerrecht, ius in bello ), das spezifisch im Falle eines bewaffneten Konfliktes zur Anwendung kommt und von dem unter keinen Umständen abgewichen werden darf. Artikel 4 Absatz 1 UNO-Pakt II sieht zudem vor, dass die Notmassnahmen keine Diskriminierung allein wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion oder der sozialen Herkunft enthalten dürfen. 3⁰4 Schliesslich müssen der Notstand im eigenen Land amtlich verkündet und die ergriffenen Notstandsmassnahmen dem zuständigen internationalen Kontrollorgan notifiziert werden.
Die notstandsfesten Garantien der EMRK und auch die notstandsfesten Garantien des UNO-Pakts II gehören nach Ansicht des Bundesrats zu den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Dies bestätigte er wiederholt. 3⁰5 Die Qualifizierung von gewissen Menschenrechten als zwingende Bestimmungen des Völkerrechts hat zur Folge, dass der Bundesrat auch gestützt auf seine verfassungsrechtliche Notrechtskompetenz in den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV nicht davon abweichen darf.
30⁰ SR 0.101.06
3⁰1 SR 0.101.093
3⁰2 SR 0.101.07
3⁰3 EGMR, Urteil A. und Mitbeteiligte gegen Vereinigtes Königreich vom 19.02.2009 [Grosse Kammer], Beschwerde Nr. 3455/05, § 173 und 182 .
3⁰4 EGMR, Urteil A. und Mitbeteiligte gegen Vereinigtes Königreich vom 19.02.2009 [Grosse Kammer], Beschwerde Nr. 3455/05 § 187 ff.
3⁰5 Medienmittteilung des Bundesrates vom 12.6.2015, Bericht zum Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht,
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 12.6.2015 (18.3.2024).

9.4 Absolute Schranken im Verfassungsrecht

Die Schweiz kennt keine verfassungsautonomen Schranken des Notrechts. Auf dem Weg der Verfassungsauslegung lassen sich jedoch verschiedene grundlegende Normen der Verfassung identifizieren, die der Bundesrat bei der Ausübung seiner intrakonstitutionellen Notrechtskompetenz zu respektieren hat.

9.4.1 Grundsätze des rechtsstaatlichen Handelns

Der Bundesrat ist verpflichtet, beim Erlass von Massnahmen gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns gemäss Artikel 5 BV einzuhalten. 3⁰6 Diese umfassen folgende Verfassungsprinzipien:
-
Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV);
-
Öffentliches Interesse und Verhältnismässigkeit (Art. 5 Abs. 2 BV);
-
Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV);
-
Beachtung des Völkerrechts (Art. 5 Abs. 4 BV).
Die Botschaft vom 20. November 1996 3⁰7 über eine neue Bundesverfassung nennt die Grundsätze des rechtsstaatlichen Handelns explizit als Schranke der bundesrätlichen Notrechtskompetenz gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV. 3⁰8 Die Anordnungen des Bundesrates müssen «notwendig, zeitlich dringlich, durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertigt und verhältnismässig sein» 3⁰9 . Weiter müssen sie insbesondere die Grundsätze der Rechtsgleichheit und von Treu und Glauben respektieren. 31⁰ Der Bundesrat hat jedoch bereits in seiner Stellungnahme vom 17. Juni 2009 zum Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation vom 19. Januar 2009 31¹ im Fall Tinner festgehalten, dass die BV in den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 die Anforderungen des Legalitätsprinzips für ausserordentliche Situationen relativiert. 3¹2
Die Beachtung des Völkerrechts wird in Artikel 5 Absatz 4 BV als einer der rechtstaatlichen Grundsätze aufgeführt. Die Pflicht, das Völkerrecht zu beachten, ist folglich nicht nur eine völkerrechtliche Verpflichtung (vgl. Art. 26 und 27 WVK), sondern zugleich eine verfassungsrechtliche Pflicht. Die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts als verfassungsautonomer Begriff gemäss den Artikeln 139 Absatz 3, 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 BV dienen als materielle Schranken der Verfassungsrevision. Die Qualifikation als Schranken der Verfassungsrevision macht die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts auch zu einer absoluten Schranke für das bundesrätliche Notrecht.
Schliesslich gehört das Selbsteinberufungsrecht der Bundesversammlung zu den grundlegenden Verfassungsbestimmungen, an die der Bundesrat vorbehaltlos gebunden ist, selbst wenn man von der Zulässigkeit von Massnahmen contra constitutionem in ausserordentlichen Lagen ausgeht. 3¹3 Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Bundesrat nur für eine befristete Zeit subsidiär an die Stelle des Gesetzgebers treten darf.
3⁰6
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 149.
3⁰7 BBl 1997 I 1
3⁰8 BBl 1997 I 1 , 418 f.
3⁰9 BBl 1997 I 1 ff., 418
31⁰ BBl 1997 I 1 ff., 419
31¹ BBl 2009 5007
3¹2 BBl 2009 5063 , 5066
3¹3
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, Rz. 145.

9.4.2 Grundrechtliche Kerngehalte

Die BV kennt im Gegensatz zur EMRK und zum UNO-Pakt II keine Derogationsklausel, welche die zeitweise Suspendierung von Grundrechtsgarantien regelt.
Die zeitweise Suspendierung von Grundrechten im Falle eines öffentlichen Notstandes ist von gewöhnlichen Eingriffen in den Schutzbereich von Grund- und Menschenrechten unter Einhaltung der Voraussetzungen von Artikel 36 BV zu unterscheiden. Die Lehre ist sich weitgehend einig, dass Notverordnungen gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV selbst für schwerwiegende Grundrechtseingriffe, die im Normalfall einer formell-gesetzlichen Grundlage bedürfen, grundsätzlich eine genügende Rechtsgrundlage darstellen. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass der Bundesrat in ausserordentlichen Lagen temporär an die Stelle des Gesetzgebers tritt. Solche gesetzesvertretenden Verordnungen können, wie oben dargelegt, sofern sie für die Bewältigung der Notlage erforderlich sind, auch contra legem erlassen werden - allerdings nur vorübergehend - bzw. für die Zeitdauer des Notstands. Die polizeiliche Generalklausel gemäss Artikel 36 Absatz 1 Satz 3 BV sieht ebenfalls vor, dass Grundrechtseingriffe in Fällen ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr keiner gesetzlichen Grundlage bedürfen.
In jedem Fall unantastbar bleiben die grundrechtlichen Kerngehalte gemäss Artikel 36 Absatz 4 BV. Notrechtliche Massnahmen dürfen unter keinen Umständen in die als Kerngehalte bekannten Wesenskerne der Grundrechte eingreifen. Im Zusatzbericht des Bundesrats vom 30. März 2011 3¹4 zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht werden Kerngehaltsgarantien aufgezählt. Zu den im Verfassungstext angesprochenen sowie zu den von Lehre und Praxis weitgehend anerkannten Kerngehaltsgarantien zählen insbesondere: Das Verbot der willkürlichen Tötung (Art. 10 Abs. 1 erster Satz BV); das Verbot der Todesstrafe (Art. 10 Abs. 1 zweiter Satz BV); das Verbot der Folter und jeder anderen Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (Art. 10 Abs. 3 BV); das Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV); das Verbot der Zwangsheirat (Art. 14 BV); das Verbot des Zwangs, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen (Art. 15 Abs. 4 BV); das Verbot staatlichen Zwangs gegenüber Einzelnen zur inneren Identifikation mit einer fremden Meinung (Art. 16 BV); das Verbot der systematischen Vorzensur (Art. 17 Abs. 2 BV); die freie Sprachwahl im Privatbereich (Art. 18 BV); das Verbot der Ausweisung von Schweizerinnen und Schweizern (Art. 25 Abs. 1 erster Satz 1 BV); das Verbot der Ausschaffung oder Auslieferung in einen Staat, in dem Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 25 Abs. 3 BV); das Verbot von Eingriffen, die das Eigentum als Rechtsinstitut betreffen, zum Beispiel konfiskatorische Besteuerung oder Ersatz des Eigentums durch staatlich verliehene Nutzungsrechte (Art. 26 BV) und das Verbot des staatlichen Zwangs zur Ausübung eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Geschäftstätigkeit (Art. 27 BV). 3¹5
Die Menschenwürde ist daher beizuziehen, um den Kerngehalt von Grundrechten zu bestimmen. 3¹6 Die genannten elementaren Grundrechte weisen allesamt einen unmittelbaren Bezug zum Schutz der Menschenwürde auf.
3¹4 BBl 2011 3613
3¹5 BBl 2011 3613 , 3643 f.
3¹6 BBl 1997 I 1 , 139 f.;
Rainer J. Schweizer
/
Christoph A. Spenlé
, Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 4. Auflage, Zürich/St. Gallen 2023, zu Art. 7 Rz. 24, 71 ff.

9.5 Zwischenergebnis

Explizit nennt die Bundesverfassung keine Schranken für den Erlass von Notrecht. Wie dargelegt lassen sich jedoch aus den materiellen Schranken der Verfassungsrevision (zwingende Bestimmungen des Völkerrechts gemäss den Artikeln 139 Abs. 3, 193 Abs. 4 und 194 Abs. 2 BV) und den notstandsfesten Gehalten im Bereich der Grund- und Menschenrechte (grundrechtliche Kerngehalte gemäss Art. 36 Abs. 4 BV) gewisse absolute Grenzen für den Erlass von Notrecht herleiten. Es erscheint jedoch schwierig, bei weiteren Verfassungsprinzipien wie dem Föderalismus und der Sozialstaatlichkeit einen harten Kern auszumachen, der als notstandsfest identifiziert werden kann.
Die Expertengruppe ist der Ansicht, dass notrechtliches Handeln contra legem grundsätzlich zulässig sei und im Hinblick auf die Wahrung der Handlungsfähigkeit nicht auf den Schutz von Polizeigütern beschränkt werden dürfe. Verfassungsderogierendes Notrecht sei nicht per se ausgeschlossen und sollte nach Ansicht der Mehrheit der Expertinnen und Experten in drei Konstellationen möglich sein: Erstens, wenn Notrecht nur von formellem, nicht aber von materiellem Verfassungsrecht abweicht. Zweitens, wenn durch Notrecht Demokratie und Rechtsstaat nicht geschwächt, sondern gestärkt werden (z. B. Verlängerung von Referendumsfristen im Fall Covid-19), und drittens immer dann, wenn die Macht des Bundesrates durch Notrecht beschränkt und nicht erweitert wird.
Die Expertengruppe äusserte sich skeptisch dazu, explizite Schranken des Notrechts in der Verfassung zu verankern. Auch wenn die notstandsfesten Menschenrechtsgarantien unbestritten sind, dürfte es sich als schwierig erweisen, weitergehende Schranken zu identifizieren. Es bestünde die Gefahr, dass man ein falsches Signal setze. Heute sei es schon so, dass die Grundrechte auch in Krisensituationen gelten. Wenn man nun explizite Schranken aufnähme, würde man den Eindruck erwecken, dass andere Grundrechte ohne Weiteres eingeschränkt werden können. Die Grundannahme müsse jedoch die sein, dass Grundrechte auch in Krisensituationen zu respektieren sind. Eine Normierung der Schranken wäre daher kontraproduktiv. Man solle sich eher überlegen, die Verfahren und Kontrollen zu verbessern.
Auch die Arbeitsgruppe zeigte sich skeptisch gegenüber der Einführung von expliziten Schranken in der Verfassung. Allenfalls müsse man sich auf wenige Eckpunkte beschränken. Zweifellos würde die Legitimität von Notrecht durch solche Schranken erhöht, aber es stelle sich die Schwierigkeit der nicht abschliessenden Aufzählung von notrechtsfesten Gehalten. Es brauche keinen Katalog von notrechtsfesten Prinzipien, da diese in der konkreten Anwendung nie angetastet wurden. 3¹7
3¹7 Für einen Vorschlag eines Katalogs von autonomen Schranken des Notrechts (insbesondere: keine Infragestellung des politischen Systems, des Primats der Bundesversammlung und des Kollegialitätsprinzips sowie qualifizierte Mehrheiten für die allfällige Verschiebung von Wahlen und Auslegungsregeln für Notrechtsbestimmungen) siehe CR Cst.
Gonin
Art. 185 N 194.

10 Rechtliche Kontrolle des Notrechts

10.1 Rechtliche Kontrolle

10.1.1 Allgemeines

Krisenzeiten sind auch für die Justiz herausfordernd. 3¹8 Auf verfassungsunmittelbarem Notrecht basierende Verfügungen können unter bestimmten Voraussetzungen gerichtlich angefochten werden. Die richterliche Überprüfung der verfassungsunmittelbaren Notrechtsverordnungen selber ist dagegen einzig indirekt auf dem Weg der Anfechtung einer darauf gestützten Verfügung möglich. 3¹9 Eine vorgängige Rechtskontrolle sieht das geltende Recht grundsätzlich nicht vor (Art. 189 Abs. 4 BV). 32⁰ Die Frage, ob auf die Artikel 184 Absatz 3 und Artikel 185 Absatz 3 BV gestützte Notverordnungen des Bundesrats und allenfalls auch auf Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c BV gestützte Notverordnungen der Bundesversammlung einer richterlichen Überprüfung (in der Form einer abstrakten Normenkontrolle) zugänglich gemacht werden sollen, stellte sich im Rahmen der pa. Iv. 20.437 SPK-N «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» sowie der pa. Iv. 20.438 SPK-N «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen». Nachdem die SPK-N am 25. Mai 2021 einer pa. Iv. 20.430 Grüne Fraktion «Abstrakte Normenkontrolle von Notverordnungen» mit 13 zu 10 Stimmen bei zwei Enthaltungen Folge gegeben und die Subkommission der SPK-N entsprechende Vorschläge für gesetzliche Anpassungen ausgearbeitet hatte, sprach sich die SPK N am 15. Oktober 2021 bei der Beratung der pa. Iv. 20.437 und 20.438 mit 19 gegen 5 Stimmen bei einer Enthaltung gegen die Einführung einer abstrakten Normenkontrolle von Notverordnungen aus. Am 27. Februar 2023 entschied der Nationalrat mit deutlichem Mehr, der pa. Iv. 20.430 keine Folge zu geben. Für Folge geben votierten bis auf eine Ausnahme nur die Mitglieder der Fraktion der Grünen. Eine pa. Iv. 21.404 Addor «Für eine gerichtliche Kontrolle der auf Notrecht gestützten Akte des Bundesrates», die eine abstrakte Kontrolle von Notverordnungen des Bundesrats, nicht aber des Parlaments nach Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c BV verlangte, zog dieser am 15. Oktober 2021 zurück.
Dies entspricht auch der Haltung des Bundesrats. In seiner Stellungnahme vom 16. Februar 2022 32¹ zum Bericht der SPK-N vom 27. Januar 2022 zu den pa. Iv. 20.437 «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und 20.438 «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» hielt er fest, dass Notrechtsbestimmungen auf dem Weg der Beschwerde im Anwendungsfall vorfrageweise überprüft werden können (konkrete Normenkontrolle) und die rechtsanwendenden Behörden im Fall einer Gutheissung der Beschwerde grundsätzlich verpflichtet seien, höherrangigem Recht widersprechende Bestimmungen nicht anzuwenden. 32²
Gegen eine abstrakte Normenkontrolle von Notverordnungen wurden im Bericht der SPK-N vom 27. Januar 2022 3²3 zu den pa. Iv. 20.437 und 20.438 folgende Einwände erhoben:
-
Eine Beschwerdemöglichkeit würde zu Rechtsunsicherheit führen, was in einer Krisensituation besonders gravierend wäre. Eine richterliche Überprüfung bräuchte Zeit. Die Bevölkerung könnte mit unterschiedlichen rechtlichen Beurteilungen konfrontiert sein.
-
In der Kommission wurde mehrheitlich auch die Meinung vertreten, das Parlament und nicht die Gerichte sollten bundesrätliche Notverordnungen kontrollieren. Nach Artikel 7 d Absatz 2 Buchstabe a RVOG muss der Bundesrat innert sechs Monaten nach dem Inkrafttreten einer auf Artikel 185 Absatz 3 BV gestützten Notverordnung der Bundesversammlung einen Gesetzesentwurf über den Inhalt der Verordnung vorlegen, sonst tritt die Verordnung nach Ablauf dieser Frist ausser Kraft., Dies gewährleiste die parlamentarische Kontrolle. Würde das Bundesgericht parallel zu diesem Verfahren beurteilen, ob eine bundesrätliche Notrechtsverordnung rechtmässig ist, so würde es die Einschätzung des Parlaments präjudizieren und die Entscheidungsfreiheit des Parlaments faktisch einschränken, wenn es seinen Entscheid vor der parlamentarischen Gesetzesberatung fällt. Oder man hätte es faktisch mit einer richterlichen Beurteilung der parlamentarischen Gesetzgebung zu tun, wenn das Bundesgericht seinen Entscheid nach den Gesetzesberatungen fällt, was systemfremd wäre (vgl. Art. 189 Abs 4 BV, Art. 190 BV).
Eine Minderheit der Kommission setzte sich mit folgenden Argumenten für eine abstrakte Normenkontrolle ein:
-
Die Möglichkeit einer richterlichen Kontrolle würde die Rechtssicherheit stärken. Die Verhältnismässigkeit von notrechtlichen Eingriffen in die Grundrechte könnte sorgfältig geprüft werden.
-
Die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle hätte eine präventive Wirkung. Rechtliche Argumente betreffend die Zulässigkeit von Notrechtsmassnahmen würden beim Erlass von Notverordnungen stärker gewichtet.
Die Expertengruppe diskutierte intensiv über die Einführung einer abstrakten Normenkontrolle für Notrecht. Sie war sich des zeitlichen Drucks bewusst, der mit einer solchen Prüfung einherginge. Die Expertengruppe könnte sich daher ein Eilverfahren vorstellen. In anderen Verfahren, etwa bei der Überprüfung des fürsorgerischen Freiheitsentzugs oder der Anordnung von Untersuchungshaft, seien rasche richterliche Entscheide nötig und möglich. Wichtig erscheine eine griffige Kontrolle deshalb, weil der Bundesrat sich beim Erlass von Notrecht selbst ermächtige und nicht etwa von einem anderen Organ hierzu beauftragt werde, wie dies im ordentlichen Rechtssetzungsverfahren der Fall sei.
Die Arbeitsgruppe dagegen steht der Einführung einer abstrakten Normenkontrolle für Notrecht ablehnend gegenüber. Ein solches Instrument wäre systemfremd, da es aufgrund von Artikel 190 BV für ordentliches Recht, konkret für Bundesgesetze, nicht vorgesehen sei. Eine nachträgliche Aufhebung von Notrecht durch das Bundesgericht wäre heikel, da sie Fragen hinsichtlich Schadensersatzansprüchen aufwerfen und die Rechtssicherheit und Glaubwürdigkeit des Bundesrates schwächen würde. Für die richterliche Krisenaufarbeitung stünden im Rahmen der konkreten Normenkontrolle bereits heute funktionierende Verfahren zur Verfügung.
Im Urteil Communauté genevoise de l’action syndicale gegen die Schweiz 3²4 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass das Schweizer Recht keine direkte Kontrolle der Verfassungsmässigkeit einer Verordnung auf Bundesebene wie zum Beispiel der Covid-19-Verordnung-2 zulässt. Gemäss Artikel 189 Absatz 4 BV und Artikel 82 Buchstabe b des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 3²5 (BGG) können nur kantonale Erlasse als solche vor das Bundesgericht gebracht werden, um ihre Verfassungswidrigkeit geltend zu machen. Dennoch ist eine vorfrageweise Prüfung der Vereinbarkeit von Erlassen der Bundesversammlung und des Bundesrates mit höherrangigem Recht im Rahmen einer ordentlichen Beschwerde gegen eine auf diese Erlasse gestützte Umsetzungsmassnahme vor den gerichtlichen Instanzen aller Ebenen möglich. Nach Ansicht des EGMR stellt eine vorfrageweise Bestreitung der Verfassungsmässigkeit, die im Rahmen einer ordentlichen Klage gegen eine Massnahme zur Umsetzung von Bundesverordnungen erfolgt, ein Rechtsmittel dar, das den Einzelpersonen direkt zugänglich ist und es ermöglicht, gegebenenfalls einen Entscheid zur Verfassungswidrigkeit zu erhalten. 3²6
Unbestrittenermassen ist der Rechtsschutz in Fällen, in denen der Bundesrat gestützt auf die Bundesverfassung oder Spezialgesetze Notrechtsbestimmungen erlässt, von grosser Bedeutung. Erstens greifen vom Bundesrat erlassene Notverordnungen oder Notverfügungen zum Teil schwer in Grundrechte ein. Zweitens sind sie, weil sich die zeitliche und materielle Dimension von Krisen und die Wirksamkeit von getroffenen Massnahmen namentlich am Anfang einer sich entwickelnden Lage schwer abschätzen lassen, stärker fehleranfällig als ordentlich erlassene Rechtssätze und Einzelakte. 3²7 Notrechtliche Massnahmen könnten allenfalls auch schärfer ausfallen als unmittelbar nötig, um für die Zuspitzung einer Krise gewappnet zu sein. Ein griffiger Rechtsschutz ist zweifellos geeignet, das Vertrauen in den Staat generell zu stärken, auch wenn Entscheidungen der Exekutive im einen oder anderen Fall als rechtswidrig beurteilt werden. Unabhängig von der Ausgestaltung des Rechtsschutzes sind Krisen, die wie die Covid-19-Epidemie rasch eskalieren und sich über eine lange Zeit hinziehen können, mit einer gewissen Rechtsunsicherheit verbunden, weil die rechtlichen Grundlagen rasch angepasst werden müssen. Schliesslich hat ein funktionierender Rechtsschutz auch eine präventive Schutzfunktion bei künftigen Krisen, die notrechtliche Massnahmen erfordern.
Andererseits muss der Staat gerade in Krisensituationen zwingend handlungsfähig bleiben. Die Exekutive muss sehr rasch handeln und geeignete Massnahmen ergreifen können, um schwere Schäden vom Staat, von der Gesellschaft oder einzelnen Bevölkerungsteilen abzuwenden. 3²8 Aus Sicht des Bundesrates waren etwa zu Beginn der Covid-Krise im März 2020 «rasche und effektive», aber auch «verfassungsrechtlich vertretbare Lösungen für den Schutz fundamentaler Rechtsgüter zu finden, um noch grösseren Schaden an den wirtschaftlichen und staatsnotwendigen Strukturen zu verhindern». 3²9 Im Zusammenhang mit der Herausgabe von UBS-Kundendaten an die amerikanischen Steuerbehörden hielt das Bundesgericht fest, eine Untätigkeit des Gesetzgebers könne «den Staat in einer Notsituation nicht zur Hingabe fundamentaler Rechts- bzw. Polizeigüter zwingen, wenn diese Gegenstand staatlicher Schutzpflichten bilden». 33⁰ Das Bundesgericht äusserte sich damals zwar zum Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel (Art. 36 Abs. 1 BV). Seine Überlegungen lassen sich aber auf den Erlass von Notrecht im Rahmen der Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV übertragen. Schon in der Botschaft für eine neue Bundesverfassung von 1996 führte der Bundesrat aus, die Wahrung der inneren Sicherheit bedeute «das Sicherstellen der grundlegendsten Normen des friedlichen Zusammenlebens, den Schutz der Institutionen des Staates, die Bewahrung der Gesellschaft und des Einzelnen vor elementaren Gefährdungen, die Abwendung sozialer Notstände». Dazu gehöre, neben dem Schutz der klassischen Polizeigüter (defensive Gefahrenabwehr), «auch eine staatspolitisch-sicherheitspolitische Komponente, die prospektive und universale Dimensionen (z. B. Ökologie) miteinbezieht». 33¹
Eine abstrakte Normenkontrolle von Notverordnungen würde in einer Situation der Dringlichkeit erfolgen, in der der Bundesrat die rechtlichen Grundlagen von für das Krisenmanagement sofort erforderlichen Massnahmen schafft. Das Bundesgericht müsste die Rechtmässigkeit der Notverordnungen unter hohem Zeitdruck in einer Situation beurteilen, in der es - im Vergleich zum Bundesrat - keinen besseren Überblick über die materielle und zeitliche Dimension einer unmittelbar drohenden oder bereits eingetretenen Krise hätte. Eine richterliche Beurteilung, ob bestimmte, in einer Notverordnung vorgesehene Massnahmen des Bundesrats verhältnismässig sind oder nicht, wäre unter solchen Umständen schwierig. Sie könnte Erwartungen wecken, die das Gericht nicht erfüllen könnte, weil es dem Bundesrat in Krisen, deren Eskalationspotenzial schwer einschätzbar ist, einen grossen rechtlichen Spielraum einräumen müsste. Das Bundesgericht müsste eventuell Erlasse überprüfen, die der Bundesrat aufgrund einer sich rasch ändernden Lage bereits wieder angepasst hat. In solchen Fällen würde eine abstrakte Normenkontrolle, auch wenn sie keine aufschiebende Wirkung hätte, zusätzliche Rechtsunsicherheit schaffen. In der Zeit nach dem Ausbruch einer Krise, die zu notrechtlichen Massnahmen des Bundesrats führt, sollten die Verantwortungen nicht vermischt werden. Der Bundesrat sollte die volle Verantwortung für seine Notrechtsverordnungen tragen.
Die Covid-19-Epidemie belebte auch die immer wieder geführte, grundsätzliche Diskussion über die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Die beiden gleich lautenden Motionen 21.3689 Engler und 21.3690 Zopfi «Grundrechte und Föderalismus stärken und die Rechtsstaatlichkeit festigen. Ein neuer Anlauf zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit» wollten den Bundesrat beauftragen, einen Erlassentwurf vorzulegen, der die richterliche Überprüfung von Bundesgesetzen und allgemein verbindliche Bundesbeschlüssen auf ihre Übereinstimmung mit der Bundesverfassung ermöglicht. Das Anwendungsgebot von Artikel 190 BV steht dem heute entgegen.
Die Motionäre führten an, die Verfassungsgerichtsbarkeit stärke die Bürgerrechte und auch den Föderalismus, da die Einhaltung der Kompetenzordnung durch den Bundesgesetzgeber heute nicht überprüft werden könne. In seiner Stellungnahme vom 8. September 2021 beantragte der Bundesrat die Ablehnung der Motionen. Er argumentierte, einer Stärkung des Rechtsstaats stehe «das Risiko eines Eingriffs in ein austariertes und funktionierendes System der Gewaltenteilung gegenüber, in welchem das direktdemokratische Element traditionell stark gewichtet wird». Bundesgesetze unterstünden dem Referendum. Die Kantone hätten verschiedene Einwirkungsmöglichkeiten im Bund, so etwa im Vernehmlassungsverfahren, durch den Ständerat oder allenfalls auch mit dem Kantonsreferendum. Am 12. September 2022 lehnte der Ständerat beide Motionen deutlich ab. 33²
3¹8
Daniela Thurnherr
, Rechtsschutz in der Krise, in: Pärli Kurt/Weber-Fritsch Tabea R. (Hrsg.), Symposium #iuscoronae, Rechtswissenschaft in der Corona-Krise, Tagungsband mit Referaten zu Forschungsarbeiten an der Juristischen Fakultät Basel, Basel 2021;
Johanna Jean-Petit-Matile
, Gerichtliche Kontrolle von Notrecht, in: Jusletter 27. Mai 2024; Petition 23.2018 Verein Notrechtsinitiative, «Gerichtliche Kontrolle von Notrecht stärken» vom 4.5.2023.
3¹9
Kaspar Gerber
, Rechtsschutz bei Massnahmen des Bundesrats zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, in: sui-generis 2020, S. 249; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-1624/2020 vom 25. März 2020; Urteil des Bundesgerichts 2C_280/2020 vom 15. April 2020 E. 2.2 m.w.H.; Urteil des Bundesgerichts 2F_7/2020 vom 27. April 2020.
32⁰
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 184 BV, N. 50. Als Ausnahme im Sinne von Art. 189 Abs. 4 BV vorbehalten bleiben gemäss Rechtsprechung Konstellationen der Kompetenzkonfliktklage nach Art. 120 Abs. 1 Bst. a des Bundesgerichtsgesetzes. Soweit das Bundesgericht Rechtsetzungsakte, was Notverordnungen miteinschliesst, als Streitgegenstand eines aktuellen Kompetenzkonflikts zwischen Bundesbehörden und kantonalen Behörden zu beurteilen hat, bleibt eine direkte gerichtliche Erlasskontrolle diesbezüglich möglich. Dieses Rechtsmittel steht aber nur Bund, Kantonen und unter Umständen interkantonalen Organen offen, nicht aber Privaten (vgl.
Karl-Marc Wyss
, Die vorläufige bundesrechtliche Umsetzung eidg. Volksinitiativen auf dem Verordnungsweg, Zürich/St. Gallen 2020, Rz. 483 m.w.H.).
32¹ BBl 2022 433
32² BBl 2022 433 , S. 12 (Ziff. 2.12). Vorbehalten ist das sich aus Art. 190 BV ergebende Anwendungsgebot bei Bundesgesetzen, die höherrangigem Recht widersprechen.
3²3 BBl 2022 301 , Ziff. 3.2.5.2
3²4 Urteil vom 27. November 2023 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) i.S. Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS) gegen Schweiz , req. no 21881/20 (Grosse Kammer).
3²5 SR 173.110
3²6 Urteil vom 27. November 2023 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) i.S. Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS) gegen Schweiz , req. no 21881/20 (Grosse Kammer), § 151 ff.
3²7
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 50.
3²8
Saxer/Brunner
, Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Art. 185, N. 66.
3²9
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, N. 20.
33⁰ BGE 137 III 431, 445 E. 3.3.2
33¹ BBl 1997 I 1 ff., S. 399;
Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, N. 28.;
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 110.
33² AB 2023 652 ff.

10.1.2 Gutachterfunktion des Bundesgerichts

Eine Möglichkeit, eine richterliche und damit von der Verwaltung unabhängige Instanz in die Überprüfung von bundesrätlichen Notverordnungen einzubeziehen, ohne die Verantwortung und die Handlungsmöglichkeiten, welche die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV dem Bundesrat beim Krisenmanagement zuweisen, einzuschränken, wäre der Einbezug des Bundesgerichts mittels Gutachten. Gemäss Artikel 189 Absatz 3 BV kann das Gesetz dem Bundesgericht über die bestehenden Aufgaben hinaus weitere Zuständigkeiten zuweisen. Im Rahmen seines Berichts vom 5. März 2010 33³ «Stärkung der präventiven Rechtskontrolle», den er in Beantwortung des Postulats 07.3360 Pfisterer «Stärkung der präventiven Verfassungskontrolle» verfasste, prüfte der Bundesrat einen regelmässigen vorgängigen gutachterlichen Einbezug des Bundesgerichts 3³4 in der Art des belgischen und französischen «Conseil d’État» oder des französischen «Conseil Constitutionnel», die vor jeder Gesetzes- und Verfassungsänderung zu konsultieren sind. Das Ergebnis der Prüfung durch den «Conseil d’État» ist für die jeweilige Regierung nicht verbindlich. Der französische «Conseil Constitutionnel» dagegen muss Verfassungsänderungen zwingend zustimmen, damit sie beschlossen werden können. 3³5 Vorstellbar wäre es beispielsweise, dass das Bundesgericht auf Antrag des Bundesrats oder der Bundesversammlung, allenfalls auch ihrer beiden Rechtskommissionen, gutachterlich angerufen werden könnte, wenn eine Notverordnung des Bundesrats einen grossen Adressatenkreis betrifft, von grosser Bedeutung für die Gesellschaft ist oder schwerwiegend in Grundrechte eingreift.
Eine gutachterliche Prüfung durch das Bundesgericht würde die Rechtsverbindlichkeit bundesrätlicher Notverordnungen nicht tangieren. Sie wäre aber eine rechtliche Qualitätskontrolle und könnte vom Bundesrat und/oder der Bundesversammlung im Rahmen einer vorgesehenen Anpassung der Notverordnung oder einer Überführung in ordentliches Recht berücksichtigt werden. Gutachten hätten auch präventive Wirkungen beim Erlass künftiger Notrechtsverordnungen. Eine gutachterliche Tätigkeit des Bundesgerichts bedürfte einer Anpassung des BGG. Im genannten Bericht «Stärkung der präventiven Rechtskontrolle» wird überdies von der Notwendigkeit einer Änderung der Bundesverfassung gesprochen. 3³6 Diese Ausführungen beziehen sich aber auf die staatspolitische Bedeutung einer regelmässigen vorgängigen Überprüfung der Verfassungs- und Gesetzesänderungen im Bund. Bei einer von der Dimension her viel begrenzteren Überprüfung von Notverordnungen erscheint eine Verfassungsrevision nicht als erforderlich, zumal es hier darum geht, Rechtsbestimmungen, die von der Exekutive in einem vom ordentlichen Prozess abweichenden Verfahren erlassen worden sind, zu überprüfen.
Auf Ablehnung stiess die Idee von Gutachten durch das Bundesgericht. Ein solches Instrument sei ein Fremdkörper, dessen Wirkung mit dem einer verbindlichen richterlichen Kontrolle nicht zu vergleichen sei. Die politischen Systeme Frankreichs und Belgiens unterschieden sich deutlich vom System der Schweiz. Zudem stelle sich die Frage nach dem Verhältnis einer solchen Gutachtertätigkeit des Bundesgerichts zur nachträglichen, konkreten Normenkontrolle.
33³ BBl 2010 2187
3³4 BBl 2010 2187 , 2248 -2251
3³5 Zu den Aufgaben des belgischen «Conseil d’État» vgl. BBl 2010 2187 2226 f., zu denjenigen des französischen «Conseil d’État» S. 2229 und zu denjenigen des französischen «Conseil Constitutionnel» S. 2229 f.
3³6 BBl 2010 2187 2251

10.1.3 Vorgängige Kontrolle durch das Bundesamt für Justiz

Artikel 7 Absatz 3 der Organisationsverordnung vom 17. November 1999 3³7 für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (OV-EJPD) hält fest, dass das BJ «sämtliche Entwürfe für rechtsetzende Erlasse auf ihre Verfassungs- und Gesetzmässigkeit, auf ihre Übereinstimmung und Vereinbarkeit mit dem geltenden nationalen und internationalen Recht, auf ihre inhaltliche Richtigkeit sowie, in Zusammenarbeit mit der BK, auf ihre gesetzestechnische und sprachlich-redaktionelle Angemessenheit» überprüft. Heute gehen alle Erlassvorlagen über den Tisch der rechtsetzungsbegleitenden Abteilungen des BJ. Deren Prüfung ist ein wichtiger Teil des Qualitätssicherungsprozesses. 3³8
In seinem Bericht vom 5. März 2010 «Stärkung der präventiven Rechtskontrolle» 3³9 bezeichnet der Bundesrat es als Aufgabe der präventiven Rechtskontrolle, «der Bundesversammlung, dem Bundesrat und der Verwaltung bei der Ausarbeitung und dem Erlass von Verfassungsbestimmungen, Gesetzen und Verordnungen sowie beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge die rechtlichen Grenzen» aufzuzeigen. Es gelte sicherzustellen, «dass die verfassungsmässigen Kompetenzen der Kantone, die Zuständigkeiten von Bundesversammlung und Bundesrat sowie die Mitwirkungsrechte des Volkes (Referendum) nicht beschnitten werden und dass neue Regelungen die inhaltlichen Vorgaben des übergeordneten Rechts (z. B. Grundrechte) beachten.» 34⁰
Die konsultierte Expertengruppe steht einer verstärkten präventiven Rechtskontrolle durch das BJ (Rechtsetzungsbegleitung) beim Erlass von Notrecht positiv gegenüber. Es wurde angemerkt, dass die Veröffentlichung der Prüfungsergebnisse eine zusätzliche Aufwertung einer präventiven Rechtskontrolle wäre.
Auch die begleitende Arbeitsgruppe erachtet die präventive Rechtskontrolle durch das BJ als zentral. Wichtig sei, dass man in Krisensituationen an die bestehenden Prozesse anknüpfe. Die personellen Ressourcen für solche Kontrollen müssten im Moment der Krise bereitstehen. Diese Verfügbarkeit der Ressourcen und die Zusammenarbeit zwischen den Ämtern seien Punkte, die im Rahmen des Business Continuity Managements antizipiert werden sollten.
Eine wesentliche Herausforderung für jede präventive Rechtskontrolle beim Erlass von Notrechtsverordnungen ist der hohe Zeitdruck. Im Fall der Covid-19-Verordnungen beispielsweise mussten Rechtsbestimmungen oft innerhalb weniger Tage, manchmal sogar über Nacht erarbeitet werden. Abläufe, die sonst klar nacheinander stattfinden, fielen zeitlich fast zusammen. Ein weiterer Aspekt war das begrenzte Wissen hinsichtlich der Verhältnismässigkeitsprüfung.
Die Erarbeitung der Notrechtsverordnungen findet in den fachlich zuständigen Departementen und Ämtern statt. Im Rahmen der Überprüfung der Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie ersuchte die GPK-N den Bundesrat zu prüfen, ob das BJ bereits beim Verfassen der Normtexte mitarbeiten könnte. Das BJ könnte, so die GPK-N in ihrem Bericht vom 30. Juni 2023 34¹ «Wahrung der Grundrechte durch die Bundesbehörden bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie am Beispiel der Ausweitung des Covid-Zertifikats», in Krisenzeiten eigene Leute in die Fachämter entsenden, um rechtliche Fragen bereits bei der Konzipierung der Massnahmen zu prüfen. 34² In seiner Stellungnahme vom 29. September 2023 34³ zum genannten Bericht der GPK-N äusserte sich der Bundesrat ablehnend zu einer solchen Entsendung. Es sei darauf zu achten, «dass das BJ bei der Ausübung seiner Aufgabe der präventiven Rechtskontrolle nicht nur gegenüber den übergeordneten Behörden, sondern auch gegenüber den mit Regelungsentwürfen betrauten Ämtern genügend Autonomie behält. Faktisch würde die Entsendung von BJ-Mitarbeitenden in die erwähnten Ämter in Krisenzeiten diese Autonomie erheblich einschränken.» Wichtig sei, dass «die für die Regelungsentwürfe zuständigen Ämter selber auf die in Krisenzeiten notwendigen Ressourcen an erfahrenen Juristinnen und Juristen zurückgreifen können, so dass die rechtlichen Fragen bereits bei der Konzipierung der Massnahmen berücksichtigt werden». ³44
In seiner Stellungnahme begrüsste der Bundesrat aber explizit, dass die GPK-N der präventiven Überprüfung von rechtsetzenden Erlassen durch das BJ in Krisenzeiten grosse Bedeutung beimisst. Er teilte die Einschätzung der GPK-N, dass diese präventive Kontrolle wesentlich ist und dass das BJ diese auch in Krisenzeiten effizient wahrnehmen können muss. ³45 Die GPK-N ersuchte den Bundesrat zu prüfen, wie die Rechtsetzungskontrolle des BJ - insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit - in Krisenzeiten verstärkt werden könnte. ³46 Das BJ erarbeitet gegenwärtig einen Bericht hierzu.
3³7 SR 172.213.1
3³8
Susanne Kuster
, Navigieren auf Sicht, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 2.
3³9 BBl 2010 2187
34⁰ BBl 2010 2187 , 2188
34¹ BBl 2023 1956
34² BBl 2023 1956 , S. 25 (Ziff. 6.1)
34³ BBl 2023 2247
³44 BBl 2023 2247 , S. 4 (Ziff. 2)
³45 BBl 2023 2247 , S. 3 (Ziff. 2)
³46 BBl 2023 1956 , S. 25 (Ziff. 6.1)

10.2 Politische Kontrolle

Da eine abstrakte Normenkontrolle für Bundesgesetze und Verordnungen der Exekutive und somit auch für auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV gestützte Notverordnungen des Bundesrats nicht vorgesehen ist, sind politische Kontrollinstrumente umso wichtiger.

10.2.1 Änderungen aufgrund der parlamentarischen Initiativen 20.437 und 20.438

Im Rahmen der Pa. Iv. 20.437 SPK-N «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und 20.438 SPK-N «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» wurden die Möglichkeiten der Bundesversammlung, auf die Rechtsetzung des Bundesrates in Notsituationen Einfluss zu nehmen, erheblich ausgebaut. Die am 4. Dezember 2023 in Kraft getretenen neuen Bestimmungen des ParlG:
-
Kommissionsmotionen, die vom Bundesrat den Erlass oder die Änderung einer Verordnung verlangen, die sich auf Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 BV stützen, sollen in der laufenden oder der nächsten ordentlichen oder ausserordentlichen Session traktandiert werden. In solchen Fällen stellt der Bundesrat seinen Antrag schriftlich oder - wenn die Zeit knapp ist - auch nur mündlich (Art. 121 Abs. 1ter ParlG). Dieselbe Regelung gilt auch für bundesrätliche Verordnungen, die sich auf die folgenden im Anhang 2 zum ParlG aufgezählten spezialgesetzlichen Notrechtsbestimmungen stützen:
-
Artikel 55 AsylG;
-
Artikel 62 SchKG;
-
Artikel 31-34 LVG;
-
Artikel 6 und 7 ZTG;
-
Artikel 48 FMG;
-
Artikel 6 und 7 EpG.
-
Generell, und damit auch für die Rechtsetzung in Krisenzeiten, gilt eine unverzügliche Berichterstattungspflicht des Bundesrats an die zuständige Kommission, wenn er eine Kommissionsmotion, welche die Änderung einer Verordnung, die noch nicht länger als ein Jahr in Kraft ist, oder des Entwurfs für eine Verordnung verlangt, nach sechs Monaten noch nicht umgesetzt hat (Art. 122 Abs. 1bis Bst. a ParlG).
-
Der Bundesrat berichtet der zuständigen Kommission überdies unverzüglich, wenn eine Kommissionsmotion, die den Erlass oder die Änderung einer Verordnung verlangt, die sich auf Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 BV oder auf eine der zuvor genannten gesetzlichen Ermächtigungen zur Bewältigung einer Krise gemäss Anhang 2 zum ParlG stützt, nach Ablauf der im Motionstext vorgesehenen Frist für die Berichterstattung noch nicht erfüllt ist (Art. 122 Abs. 1bis Bst. b ParlG).
-
Eine Änderung, die den Einbezug des Parlaments deutlich stärkt, ist die neu aufgenommene Pflicht des Bundesrats, die zuständigen Kommissionen zu den Entwürfen für Verordnungen und Verordnungsänderungen zu konsultieren, die er gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV oder gestützt auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise gemäss dem vorgenannten Anhang 2 erlässt. Enthält der Entwurf als «vertraulich» oder «geheim» klassifizierte Informationen, so besteht stattdessen eine Informationspflicht gegenüber der FinDel und der Geschäftsprüfungsdelegation (Art. 151 Abs. 2bis ParlG). Damit wird das bisher geltende Holprinzip, wonach eine parlamentarische Kommission verlangen kann, zu einer Verordnung konsultiert zu werden, durch ein Bringprinzip im Bereich der bundesrätlichen Verordnungen in Krisenzeiten ergänzt. ³47 Diese Neuerung entspricht dem in Artikel 1 Absatz 4 des Covid-19-Gesetzes vom 25. September 2020 vorgesehenen Konsultationsrecht. «Will der Bundesrat eine Verordnung zur Bewältigung einer Krise erlassen, dann hat er den Entwurf den zuständigen Kommissionen zur Konsultation zu unterbreiten. Es obliegt dann den zuständigen Kommissionen, ob sie eine Stellungnahme abgeben wollen oder nicht.» ³48 Die den Kommissionen zur Verfügung stehenden Fristen können dabei sehr kurz ausfallen. Wenn dringend gehandelt werden muss, können es unter Umständen nur wenige Stunden sein. Das Konsultationsrecht schränkt die Handlungsfähigkeit des Bunderates in keiner Weise ein. Der Bundesrat ist nicht verpflichtet, Anliegen der Kommissionen aufzunehmen. Er trägt die alleinige Verantwortung für die Notverordnung.
³47 BBl 2022 301 , Ziff. 3.2.5.1
³48 BBl 2022 301 , Ziff. 3.2.5.1

10.2.2 Parlamentarische Initiative 23.439 Caroni «Begründungspflicht beim Erlass von Notrecht»

Am 15. Juni 2023 reichte Ständerat Andrea Caroni die pa. Iv. 23.439 «Begründungspflicht beim Erlass von Notrecht» ein, die den Bundesrat mittels einer Gesetzesanpassung verpflichten will, «beim Erlass von Notrecht jeweils konkret zu begründen, inwiefern der jeweilige Rückgriff auf Notrecht rechtlich zulässig ist.» Die Initiative ist der vorberatenden Kommission zugewiesen.
Ständerat Caroni führt aus, der Bundesrat entscheide weiterhin selber darüber, ob die Voraussetzungen zum Erlass von Notrecht gegeben sind. Deshalb müssten Parlament und Öffentlichkeit vom Bundesrat zumindest verlangen, dass er bei der Anrufung seiner Notrechtskompetenzen Rechenschaft ablegt, ob die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Eine solche Begründungspflicht, die für Botschaften zu Gesetzesentwürfen vorgeschrieben ist (Art. 141 Abs. 2 Bst. a ParlG), fehle ausgerechnet bei Notverordnungen, obschon diese gesetzesvertretend, ja sogar gesetzesderogierend wirken können. Der Bundesrat, meist sogar nur das federführende Departement, begründe heute primär seine Krisenmassnahmen, kaum aber die rechtliche Zulässigkeit von Notrecht.
Eine rechtliche Begründungspflicht verursache für den Bundesrat keinen zusätzlichen Aufwand, da er die entsprechenden Überlegungen ohnehin anstellen müsse. Parlament und Öffentlichkeit erhielten damit aber mehr Transparenz. Die Massnahme werde ausserdem die Qualität und Legitimität der Entscheidungsprozesse erhöhen. Naheliegender Regelungsort für auf die Artikel 184 BV und 185 BV gestützte Verordnungen wäre gemäss Ständerat Caroni das RVOG. Eine Begründungspflicht könne man auch für spezialgesetzliche Krisenbestimmungen vorsehen.
Wird der parlamentarischen Initiative Folge gegeben und ein Erlassentwurf ausgearbeitet, so wird sich der Bundesrat im Rahmen seiner Stellungnahme dazu äussern. Der Bundesrat ist aber offen für das Anliegen, die rechtlichen Voraussetzungen, auf die er seine Notverordnungen stützt, ausführlicher zu erläutern.
In die Richtung der parlamentarischen Initiative Caroni geht ein bei der Erarbeitung dieses Berichts diskutierter Vorschlag, ein Raster für konzise rechtliche Erläuterungen beim Verfassen von Notrechtsverordnungen zu erstellen (vgl. auch Ergebnisse, Ziffer 13). Mit Hilfe eines solchen Rasters könnten die Ergebnisse der Prüfung, ob die rechtlichen Voraussetzungen zum Erlass von Notrechtsverordnungen erfüllt sind, zuhanden des Parlaments und der Öffentlichkeit transparent und einheitlich dargestellt werden. Ein solcher Vorschlag wurde positiv beurteilt.

10.3 Institutioneller Lernprozess

Es ist unerlässlich, die Anwendung von Notrecht im Sinne einer Krisen- und Notrechtsfolgenabschätzung zu analysieren. Es braucht einen institutionellen Lernprozess. Kritisch beurteilt wurde einzig die Frage des Automatismus eines solchen Prozesses. Kontrovers diskutiert wurde deshalb die Frage der Einführung einer allfälligen Pflicht zur Selbstevaluation. Für den institutionellen Lernprozess nach der Krise sei eine Selbstevaluation des betroffenen Amtes wichtig, aber wohl ungenügend. Sie müsse durch eine unabhängige externe Evaluation (vgl. Ziff. 10.1 und 10.2 zur rechtlichen und politischen Kontrolle) ergänzt werden. Es wurde auf die Bedeutung einer Überprüfung der Wirksamkeit von Notrechtsmassnahmen hingewiesen, zum Beispiel im Sinne einer nachträgliche Regulierungsfolgenabschätzung, die jedoch nicht zu zeitnah, sondern mit einer gewissen kritischen Distanz zu erfolgen habe. In jedem Fall müsse eine ex-post-Kontrolle zumindest eine ex-ante-Perspektive aus der Sicht des Bundesrates einnehmen, um den Umständen der Notlage Rechnung zu tragen.
Die Expertengruppe schlug interdisziplinäre Evaluationen vor. Genannt wurden Hearings mit Fachpersonen sowie mit Vertreterinnen und Vertretern von Interessensgruppen, um die Zivilgesellschaft in den Lernprozess einzubeziehen. Nur so könne die Anwendung von Notrecht gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet werden. Eine gesetzliche Pflicht zur Aufarbeitung der Anwendung von Notrecht wurde als sinnvoll erachtet.
Es geht gemäss der Ansicht des Bundesrates darum, die in einer Krisensituation getroffenen Massnahmen kritisch zu analysieren, um beim Eintritt von vergleichbaren Situationen besser vorbereitet zu sein und zielgerichteter handeln zu können. Konkret soll der Lernprozess dazu führen, dass bei vorhersehbaren Ereignissen grundsätzlich nicht auf das Notrecht zurückgegriffen werden muss.

11 Überführung des Notrechts in ordentliches Recht

11.1 Artikel 7

c

und 7

d

RVOG

Auf die Artikel 184 und 185 BV gestützte Notverordnungen sind zu befristen. Das halten die Absätze 3 der beiden Verfassungsbestimmungen fest. Die BV äussert sich aber nicht zur Dauer der Frist. Nach den auf konstitutionelles Notrecht gestützten Eingriffen des Bundesrats beim Swissair-Grounding 2001 und bei der Rekapitalisierung der UBS 2008, als der Bund auch grosse finanzielle Risiken einging, wollte das Parlament die demokratische Legitimation des Handelns in ausserordentlichen Situationen stärken. Im Rahmen der pa. Iv. 09.402 SPK-N «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen» wurden unter anderem die Überführung von Notverordnungen des Bundesrates in ordentliches Recht und das Verfahren der Gewährung dringlicher Finanzkredite detaillierter geregelt. Der Bericht der SPK-N vom 5. Juni 2010 ³49 zur genannten pa. Iv. erläutert dies ausführlich.
Demokratie und Rechtsstaat verlangen, dass die normale demokratische Kompetenzordnung so rasch wie möglich wieder hergestellt wird. 35⁰ Das Parlament als rechtsetzende Gewalt muss wieder übernehmen können. Eine relativ eng gefasste Befristung von Notverordnungen des Bundesrates ist dabei ein wichtiges Element.
Artikel 7c RVOG regelt die Befristung für auf Artikel 184 Absatz 3 BV gestützte Notverordnungen zur Wahrung der Interessen des Landes. 35¹ Hier geht es primär um die Wahrung aussen- und sicherheitspolitischer Interessen der Schweiz. Die Geltungsdauer beträgt maximal vier Jahre (Art. 7 c Abs. 2 RVOG). Der Bundesrat kann die Geltungsdauer einmal verlängern. Dann tritt die Verordnung sechs Monate nach dem Inkrafttreten ihrer Verlängerung ausser Kraft, wenn der Bundesrat bis dahin der Bundesversammlung keinen Entwurf einer gesetzlichen Grundlage für den Inhalt der Verordnung unterbreitet (Art. 7 c Abs. 3 RVOG). Ebenfalls ausser Kraft tritt die Notverordnung, wenn das Parlament die Vorlage des Bundesrats ablehnt oder wenn die vom Parlament verabschiedete gesetzliche Grundlage in Kraft tritt (Art. 7 c Abs. 4 Bst. a und b RVOG).
Eine deutlich strengere Regelung sieht Artikel 7d RVOG für auf Artikel 185 Absatz 3 BV gestützte Notverordnungen zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit vor, die unter rechtsstaatlichen und demokratiepolitischen Gesichtspunkten oft komplexer und heikler sind als die auf Artikel 184 Absatz 3 BV gestützten Notverordnungen. 35² Hier muss der Bundesrat schon sechs Monate nach dem Inkrafttreten seiner Notverordnung der Bundesversammlung einen Entwurf entweder einer gesetzlichen Grundlage oder einer Parlamentsverordnung gemäss Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c BV unterbreiten (Art. 7 d Abs. 2 Bst. a Ziff. 2 RVOG). Liegen die genannten Entwürfe dem Parlament nach sechs Monaten noch nicht vor, tritt die bundesrätliche Notverordnung ausser Kraft. Analog zu Artikel 7 c RVOG ist dies auch dann der Fall, wenn das Parlament den Entwurf des Bundesrats ablehnt oder wenn die vom Parlament verabschiedete gesetzliche Grundlage bzw. Parlamentsverordnung in Kraft tritt. (Art. 7 d Abs. 2 Bst. c und d RVOG).
Stützt der Bundesrat eine Notverordnung sowohl auf Artikel 184 BV als auch auf Artikel 185 BV, gelten für deren Überführung in ordentliches Recht die strengeren Fristbegrenzungen von Artikel 7 d RVOG. 35³
Die kurze Frist, die dem Bundesrat für die Arbeiten zur Überführung von auf Artikel 185 Absatz 3 BV gestützten Notverordnungen in ordentliches Recht zur Verfügung steht, hat einen präventiven Effekt. Der Bundesrat muss sich schon beim Erlass der Notverordnung intensiv mit der Dauer und der politischen Abstützung der getroffenen Regelungen auseinandersetzen. ³54 Das stärkt die demokratische Legitimation solcher Notverordnungen. Das Risiko geringfügiger qualitativer Abstriche wegen des Zeitdrucks, unter dem ein Gesetzesentwurf erarbeitet werden muss, erscheint angesichts des Vorteils eines raschen Einbezugs des Parlaments vertretbar. ³55
Die Befristung von Artikel 7 d Absatz 2 Buchstabe a RVOG gilt nur für auf Artikel 185 Absatz 3 BV gestützte, verfassungsunmittelbare Notverordnungen des Bundesrats. Für Verordnungen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie, die der Bundesrat gestützt auf Artikel 7 EpG erliess, ist im betreffenden Gesetz keine analoge Befristung vorgesehen. Allerdings sprechen Überlegungen der Vernunft und der Kohärenz der Rechtsetzung für eine analoge Befristung solcher Verordnungen. ³56
Bei der Überführung der vom Bundesrat im Frühling 2020 erlassenen Notverordnungen zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie in das Covid-19-Gesetz handelte der Bundesrat rasch: Schon am 8. April 2020 entschied er, der Bundesversammlung einen Gesetzentwurf zur Überführung notrechtlicher Bestimmungen zu unterbreiten. In seiner Botschaft vom 12. August 2020 ³57 zum Covid-19-Gesetz unterbreitete er dem Parlament einen Gesetzesentwurf und beantragte dem Parlament, diesen dringlich zu behandeln und als dringliches Bundesgesetz gemäss Artikel 165 BV gutzuheissen. ³58 Der Gesetzesentwurf enthielt vorwiegend Delegationsnormen für Massnahmen, die in verfassungsunmittelbaren Verordnungen bereits verankert waren. ³59 Das beschleunigte den Prozess. Man könnte einwenden, die Bundesversammlung habe damit nicht umfassend über die eigentlichen Inhalte der Massnahmen beraten und entscheiden können. Allerdings war die Art der Umsetzung auf Verordnungsebene aufgrund der bundesrätlichen Notverordnungen bekannt, und das Parlament konnte die gesetzlichen Vorgaben falls gewünscht verstärken.
³49 BBl 2010 1563
35⁰ BBl 2010 1563 , 1564
35¹
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 43.
35²
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 44.
35³
Künzli
, Basler Kommentar zu Art. 185 BV, N. 45.
³54 BBl 2010 1563 , 1582 f.
³55 BBl 2010 1563 , 1583
³56 CR Cst.
Gonin
, Art. 185 BV N 178.
³57 BBl 2020 6563
³58 BBl 2020 6563 , Ziff. 5.3 (S. 6622 f.)
³59 BBl 2020 6623

11.2 Überführung in eine Parlamentsverordnung (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV)

Gemäss Artikel 7 d Absatz 2 Buchstabe a Ziffer 2 RVOG kann der Bundesrat eine auf Artikel 185 Absatz 3 BV gestützte Notverordnung auch mittels eines Entwurfs zu einer Verordnung der Bundesversammlung (Parlamentsverordnung, Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV) ablösen.
Von dieser Möglichkeit machte der Bundesrat Gebrauch, als er seine auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV gestützte, in den Jahren 2003, 2005 und 2008 verlängerte Verordnung vom 7. November 2001 36⁰ über das Verbot der Gruppierung «Al-Qaïda» und verwandter Organisationen, die am 31. Dezember 2011 auslief, ablösen wollte. In seiner Botschaft vom 18. Mai 2011 36¹ zur Verordnung der Bundesversammlung über das Verbot der Gruppierung Al-Qaïda und verwandter Organisationen begründete der Bundesrat dieses Vorgehen damit, dass so die nahtlose Fortführung des grundsätzlich unbestrittenen Verbots der Al-Qaïda für weitere drei Jahre sichergestellt werden und das Parlament sich in angemessener Weise sowohl zum Inhalt der Verordnung als auch zum weiteren Vorgehen äussern könne. Zugleich werde vermieden, das Verbot auf eine wenig stufengerechte Gesetzesebene zu heben, zumal im Bereich der inneren Sicherheit und des Nachrichtendienstes Arbeiten zur Schaffung neuer gesetzlicher Bestimmungen im Gang seien. 36²
Artikel 7 d Absatz 2 Buchstabe a Ziffer 2 RVOG war nicht unbestritten. Im Rahmen der Beratungen zur Umsetzung der pa. Iv. 09.402 SPK-N «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen» machte eine Mehrheit der SPK-N geltend, wichtige rechtsetzende Bestimmungen seien ohnehin in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen (Art. 164 BV). Auch würde mit dem Entwurf einer Parlamentsverordnung zwar der mit den notrechtlichen Exekutivverordnungen durchbrochene Grundsatz der Gewaltenteilung wieder hergestellt. Die demokratische Legitimation bliebe aber unvollständig, da gegen eine Parlamentsverordnung kein Referendum ergriffen werden kann. Auch wäre der Zeitbedarf für die Ausarbeitung und die anschliessende parlamentarische Behandlung des Entwurfs bei einer Parlamentsverordnung nicht geringer als bei einem Gesetzesentwurf. 36³
Die Minderheit der SPK-N argumentierte hingegen, der Anwendungsbereich einer Regelung mittels einer Parlamentsverordnung sei eine «voraussichtlich bloss vorübergehende Notlage», die «mit einiger Wahrscheinlichkeit nach kurzer Zeit nicht mehr benötigt werden wird». ³64 Diese Minderheit setzte sich schliesslich im Parlament durch.
Für Parlamentsverordnungen nach Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c BV schreibt die BV keine Befristung vor. Dennoch begrenzt Artikel 7d Absatz 3 RVOG deren Dauer. Eine Verordnung der Bundesversammlung tritt spätestens drei Jahre nach ihrem Inkrafttreten ausser Kraft. Damit soll verhindert werden, dass eine dauerhafte Regelung entsteht, die dem Referendum entzogen ist. ³65
36⁰ AS 2001 3040 (ausser Kraft)
36¹ BBl 2011 4495
36² BBl 2011 4495 , 4999 f.
36³ BBl 2010 1563 , 1583
³64 BBl 2010 1563 , 1584
³65 BBl 2010 1563 , 1584

12 Kriseninstrumente der Bundesversammlung

12.1 Dringliches Bundesgesetz (Art. 165 BV)

Eine Alternative zu den auf die Artikel 184 und 185 BV gestützten verfassungsunmittelbaren Notverordnungen und Notverfügungen des Bundesrats kann die dringliche Gesetzgebung sein. Artikel 165 Absatz 1 BV sieht vor, dass ein Bundesgesetz dringlich erklärt werden kann, wenn sein Inkrafttreten keinen Aufschub duldet. Über die Dringlichkeitsklausel wird separat abgestimmt. Die Dringlicherklärung erfordert ein qualifiziertes Mehr. Zustimmen muss die Mehrheit der Mitglieder sowohl im Nationalrat als auch im Ständerat. Ein dringlich erklärtes Gesetz tritt sofort in Kraft, in der Regel einen Tag nach seiner Verabschiedung. ³66 Dringlich erklärt werden können Gesetze mit und ohne Verfassungsgrundlage (Art. 165 Abs. 2 oder Abs. 3 BV). Dringliche Bundesgesetze sind zu befristen (Art. 165 Abs. 1 und 3 BV).
Mit dem Dringlichkeitsverfahren nach Artikel 165 BV lässt sich sehr viel Zeit gewinnen. Zunächst verkürzt sich die Zeit der parlamentarischen Beratung, weil die Räte Entwürfe zu dringlichen Bundesgesetzen praktisch immer in der gleichen Session beraten, während die Beratungen normalerweise auf zwei Sessionen verteilt werden (Art. 85 Abs. 1 ParlG). ³67 Nach der Verabschiedung entfällt die vorgängig abzuwartende Referendumsfrist von 100 Tagen und bei einem erfolgreich zustande gekommenen Referendum auch die Zeit bis zur Volksabstimmung. Zu einer Referendumsabstimmung kommt es, wenn überhaupt, erst nach dem Inkrafttreten des Gesetzes. Bei einem Gesetz ohne Verfassungsgrundlage entfällt ausserdem noch die vorgängige Abstimmung über die Teilrevision der Bundesverfassung. ³68
Dringliche Gesetze setzen eine zeitliche und eine sachliche Dringlichkeit voraus. Nur wenn das Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, darf vom ordentlichen Gesetzgebungsverfahren abgewichen werden. Im Rahmen der Überführung von Verordnungsrecht, das der Bundesrat zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie erlassen hatte, in Gesetzesrecht beantragte der Bundesrat dem Parlament in seiner Botschaft vom 12. August 2020 ³69 zum Covid-19-Gesetz die Dringlicherklärung des von ihm unterbreiteten Gesetzesentwurfs. Er begründete die Dringlichkeit mit dem Anliegen, «dem Parlament eine frühestmögliche Aussprache über die zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie notwendigen Massnahmen zu ermöglichen und die Massnahmen so rasch wie möglich durch einen Beschluss des Parlaments zu legitimieren». 37⁰ Einen weiteren dringlichen Gesetzesentwurf, dieses Mal zur Verlängerung von Bestimmungen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie, unterbreitete der Bundesrat der Bundesversammlung mit seiner Botschaft vom 3. Juni 2022 37¹ zur Änderung des Covid-19-Gesetzes (Verlängerung und Änderung ausgewählter Bestimmungen). Eine nahtlose Verlängerung insbesondere der Bestimmungen über die Versorgung mit wichtigen medizinischen Gütern, zur Regelung der Kostenübernahme bei Covid-19-Tests sowie weiterer Bestimmungen wie Impf-, Test- und Genesungsnachweise zur Gewährleistung der Reisefreiheit erscheine unerlässlich. 37²
In seiner Botschaft vom 18. Mai 2022 37³ zum Bundesgesetz über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft und zum Bundesbeschluss über einen Verpflichtungskredit für subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft beantragte der Bundesrat ebenfalls ein dringliches Bundesgesetz. Das Parlament lehnte dies aber ab (vgl. Ziff. 5.3).
Ein dringliches Bundesgesetz, gegen das ein Referendum ergriffen wird, tritt ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieser Frist vom Volk angenommen wird (Art. 165 Abs. 2 BV). Ein dringliches Bundesgesetz ohne Verfassungsgrundlage tritt ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieser Frist von Volk und Ständen angenommen wird (Art. 165 Abs. 3 BV).
Artikel 165 Absatz 4 BV hält fest, dass ein dringlich erklärtes Bundesgesetz, das in der Referendumsabstimmung nicht angenommen wird, nicht erneuert werden kann (Erneuerungsverbot). Im Rahmen der Ablösung von Covid-Verordnungsrecht durch dringliches Gesetzesrecht stellen sich diesbezüglich wichtige praktische Fragen. Was gilt rechtlich, wenn gegen ein dringliches Bundesgesetz ein Referendum zustande gekommen ist und das Parlament in der Zwischenzeit bereits weitere Änderungen beschlossen hat, die Bestimmungen dieses Erlasses betreffen oder mit ihnen verknüpft sind? Bei der Referendumsabstimmung vom 13. Juni 2021 über das Covid-19-Gesetz verfolgte der Bundesrat in Bezug auf die vor der Abstimmung angenommenen und ebenfalls dringlich erklärten nachträglichen Änderungen den Ansatz, dass diese zwar formell nicht Gegenstand der Abstimmung sind, jedoch auch ausser Kraft treten, wenn sie auf den Grunderlass angewiesen sind und rechtlich und praktisch nicht ohne diesen existieren können. Dies erläuterte er in seinen Antworten auf die Frage 21.7291 Flach «Referendumsabstimmung zum Covid-19-Gesetz» und die Interpellation 21.3588 Addor «Wurden die Schweizerinnen und Schweizer mit den Abstimmungserläuterungen über das Covid-19-Gesetz getäuscht?». ³74
Der Bundesrat zeigt in seinem Bericht vom 15. März 2024 ³75 in Erfüllung des Postulats 22.3010 SPK-N «Referenden zu dringlich erklärten Bundesgesetzen und Verhältnis zum Erneuerungsverbot gemäss Artikel 165 Absatz 4 der Bundesverfassung. Klärungsbedarf» die Vor- und Nachteile der verschiedenen Lösungsansätze auf und schlägt Lösungen vor, die das Ziel haben, Rechtsunsicherheiten hinsichtlich des Schicksals zusätzlicher Änderungen, die das Parlament vor der Referendumsabstimmung beschloss, möglichst zu verringern.
³66
Tschannen
, St. Galler Kommentar zu Art. 165 BV, Rz. 2;
Giovanni Biaggini
, Orell-Füssli-Kommentar (OFK), BV-Kommentar, 2. Auflage 2017 (nachstehend: OFK-
Biaggini)
, BV 165 N 5.
³67
Theler
in:
Martin
Graf / Cornelia Theler / Moritz von Wyss
(Hrsg.),
Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung, Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002, Basel 2014, zu Art. 85 N 3.
³68
Tschannen
, St. Galler Kommentar zu Art. 165 BV, Rz. 3.
³69 BBl 2020 6563
37⁰ BBl 2020 6563 , 6622 f. (Ziff. 5.3)
37¹ BBl 2022 1549
37² BBl 2022 1549 ff., Ziff. 6.1
37³ BBl 2022 1183
³74
Patrick Mägli
, Referenden bei dringlich erklärten Bundesgesetzen, in: LeGes 33 (2022) 3; und speziell zum Erneuerungsverbot von Art. 165 Abs. 4 BV
Miriam Sahlfeld
, Wie streng ist das Erneuerungsverbot in Art. 165 Abs. 4 BV auszulegen? in: LeGes 33 (2022) 3.
³75 www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 22.3010

12.2 Notverordnung des Parlaments (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV)

Wenn «ausserordentliche Umstände» vorliegen, kann die Bundesversammlung unmittelbar auf die Bundesverfassung gestützte Verordnungen oder einfache Bundesbeschlüsse erlassen (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV), um ihre Aufgaben gemäss Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe a BV (Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz) oder Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe b BV (Wahrung der inneren Sicherheit) erfüllen zu können. Es handelt sich hier um ein parlamentarisches Notverordnungs- und Notverfügungsrecht. Auf Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c gestützte Notverordnungen der Bundesversammlung sind ebenso wie die auf die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV gestützten Notverordnungen des Bundesrats nicht referendumspflichtig. Das Notverordnungsrecht der Bundesversammlung ist vom Dringlichkeitsrecht (Art. 165 BV) abzugrenzen, das in Form eines Bundesgesetzes zu erlassen ist und dem nachträglichen Referendum untersteht. ³76
Materiell verlangt die Bundesverfassung das Vorliegen von «ausserordentlichen Umständen», damit die Bundesversammlung verfassungsunmittelbares Notverordnungsrecht erlassen kann. Erforderlich sind: ³77
-
Zeitliche Dringlichkeit: diese ist gegeben, wenn das ordentliche Gesetzgebungsverfahren oder das Dringlichkeitsverfahren gemäss Artikel 165 BV zu langsam wären. Die parlamentarische Notverordnung hat gegenüber diesen Instrumenten einen subsidiären Charakter; ³78
-
Sachliche Dringlichkeit: die Gefahr muss konkret sein, sie muss entweder schon eingetreten sein oder ihr Eintritt muss unmittelbar bevorstehen; ³79
-
Erhebliche Beeinträchtigung oder Gefährdung eines der in Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe a und b genannten Schutzgüter: innere und äussere Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz. Diese Aufzählung verdeutlicht, dass es sich hier nicht ausschliesslich um klassische Polizeigüter handelt. Die Unabhängigkeit betrifft die staatliche Existenz der Schweiz. Auch der Grundsatz der Neutralität mit seiner Zielsetzung, nicht in fremde, bewaffnet ausgetragene Konflikte zwischen anderen Staaten hineingezogen zu werden, hat eine breitere Dimension. Aber auch die innere Sicherheit «weist einen staatspolitischen, prospektiven und universalen Aspekt auf, der mitunter relativ weit geht» 38⁰ .
Anders als bei den Notverordnungen des Bundesrats äussert sich die Bundesverfassung nicht zur Befristung parlamentarischer Notverordnungen. Artikel 7 d Absatz 3 RVOG bestimmt aber, dass parlamentarische Notverordnungen, die Notverordnungen des Bundesrats ablösen, nach drei Jahren ausser Kraft treten. Parlamentarische Notverordnungen sind, weil Dringlichkeit gegeben sein muss, ihrer Natur nach vorübergehend. Mit dem Wegfall der Dringlichkeit «ist auch die rechtliche Handlungsgrundlage nicht mehr gegeben». 38¹ Weil das Referendum ausgeschlossen ist, wäre es sachgerecht, auch parlamentarische Notverordnungen beim Erlass zu befristen. In diesem Sinn argumentierte auch die SPK-N in ihrem Bericht vom 5. Februar 2010 zur pa. Iv. 09.402 SPK-N «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen». 38²
Die auf Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c gestützte Kompetenz des Parlaments, parlamentarische Notverordnungen zu erlassen, ist ein Handlungsinstrument der Bundesversammlung in Krisensituationen. Handelt die Bundesversammlung, geht das von ihr erlassene Notrecht bei gleichem Regelungsgegenstand dem Notrecht des Bundesrats vor. Das parlamentarische Notverordnungsrecht erhöht die demokratiepolitische Legitimation der Regelungen, weil sie von den Mitgliedern der rechtsetzenden Gewalt, welche die wahlberechtigte Bevölkerung direkt wählte, erlassen werden. Das parlamentarische Notverordnungsrecht ist aber im Entstehungsprozess deutlich schwerfälliger als das Notverordnungsrecht des Bundesrats, vor allem auch in zeitlicher Hinsicht. Gegenüber dem auf Artikel 165 BV gestützten Dringlichkeitsrecht bringt auf Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c BV gestütztes Notverordnungsrecht kaum einen Zeitgewinn. 38³ Auch die Ressourcen wären eine besondere Herausforderung. Das Parlament wäre vermutlich auf eine intensive Zusammenarbeit mit der Bundesverwaltung angewiesen. Gemäss Artikel 112 Absatz 1 ParlG können die parlamentarischen Kommissionen «das zuständige Departement beiziehen, um alle für die Ausarbeitung eines Erlassentwurfs notwendigen Rechts- und Sachauskünfte zu erhalten.» In einer Krisensituation ist die Bundesverwaltung allerdings bereits stark beansprucht.
³76
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 173 BV, Rz. 51.
³77
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 173 BV, Rz. 52-57;
OFK-Biaggini
, BV 173 N 13; CR Cst.
Gonin
, Art. 173 N 47, 50 und 51 .
³78
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 173 BV, Rz. 64-66
³79
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 173 BV, Rz. 62-63; OFK-
Biaggini
, BV 173 N 13.
38⁰
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 173 BV, Rz. 69, mit Hinweisen auf die herrschende Lehre zu Art. 185 Abs. 3 BV.
38¹ OFK-
Biaggini
, BV 173 N 14.
38² BBl 2010 1563 , 1584 .
38³ So auch die SPK-N in ihrem Bericht vom 5. Februar 2010, BBl 2010 1563 , 1584 und
Saxer/Brunner
, St. Galler Kommentar zu Art. 173 BV, Rz. 43.

13 Schlussfolgerungen

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Artikel 184 und 185 BV als Rechtsgrundlage genügen. Sein Handeln ist dabei nicht auf den Schutz von sicherheitspolitischen Interessen beschränkt. Die Rechtsgrundlagen ermächtigen den Bundesrat vielmehr immer dann zum Handeln, wenn individuelle oder kollektive Rechtsgüter unmittelbar bedroht sind, für die er eine staatliche Schutzplicht hat. Eine solche Schutzpflicht liegt insbesondere dann vor, wenn dem Rechtsgut eine gewisse Systemrelevanz zukommt. Dem Bundesrat steht folglich genügend Spielraum zu, um effektiv auf Krisen reagieren zu können. Im Wissen um die Machtfülle, die ihm temporär während Notlagen zukommt, und die damit verbundenen, systeminhärenten Risiken für Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus und Menschenrechtsschutz, ergreift der Bundesrat die nachfolgenden Massnahmen im Zusammenhang mit der Anwendung von Notrecht:
1. Transparenz schaffen
Aufgrund der Machtverschiebung im Staatsgefüge und den erweiterten Handlungsmöglichkeiten, die das Notrecht mit sich bringt, besteht eine erhöhte Begründungs- und Rechtfertigungspflicht des Bundesrates. Die Bundesversammlung, die Kantone und die Öffentlichkeit sind rechtzeitig und umfassend über die Lagebeurteilungen, Planungen, Entscheide und Vorkehren des Bundesrates zu informieren, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen (Art. 180 Abs. 2 BV und Art. 10 RVOG). Diese proaktive Informationspflicht ist bei der Krisenbewältigung von zentraler Bedeutung für die Nachvollziehbarkeit und Umsetzung von Notmassnahmen. Soweit das Notrecht im konkreten Fall nichts anderes vorsieht, gilt das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten gemäss Artikel 6 BGÖ mit seinen Ausnahmen gemäss den Artikeln 7-9 BGÖ. Das Zugangsrecht soll nur in Ausnahmefällen durch Notrecht umfassend ausgeschlossen werden, da es sich um ein vom Gesetzgeber gewolltes Instrument zur Kontrolle der Verwaltung durch die Bürgerinnen und Bürger handelt, das in Krisensituationen besonders wichtig ist. Im Gegensatz zur aktiven Behördeninformation zeichnet sich das Zugangsrecht nach dem BGÖ insbesondere dadurch aus, dass die gesuchstellende Person Inhalt und Umfang der verlangten Information bestimmt und es folglich nicht (mehr) im alleinigen Ermessen der Behörden liegt, ob und in welchem Umfang sie Informationen offenlegen wollen.
Aktuell fehlt eine systematische Übersicht über die in der Vergangenheit erlassenen Notverordnungen des Bundesrates. Deshalb soll eine Notrechtsdatenbank für die systematische Erfassung von Notverordnungen geschaffen werden. Idealerweise soll an bestehende Systeme angeknüpft werden. So wäre es zum Beispiel vorstellbar, eine Filterfunktion in der Amtlichen Rechtssammlung (AS) einzuführen, die einen systematischen Zugriff auf die Notverordnungen ermöglicht. Die Wissenschaft, die Medien und die Zivilgesellschaft sollen hiervon profitieren können.
2. Rechtssicherheit fördern
Der Bundesrat beabsichtigt, die Kriterien, die beim Erlass von konstitutionellem Notrecht zu beachten sind, transparenter aufzuzeigen und die Qualität der rechtlichen Begründung von Notverordnungen zu stärken. Zu diesem Zweck soll ein Prüfschema für die Notrechtspraxis erarbeitet werden. Das Prüfschema soll das beinhalten, was es aus Sicht der Ämter beim Erlass von Notverordnungen zu beachten gilt. In diesem Zusammenhang soll die vom BJ durchgeführte präventive Rechtskontrolle beim Erlass von Notverordnungen gestärkt werden (insbesondere mit Blick auf den Grundrechtsschutz). Ein Raster mit Kriterien soll die rechtliche Begründung von Notrecht strukturieren, vereinheitlichen und insgesamt verbessern. Damit soll die rechtliche Begründungspflicht des Bundesrates beim Erlass von Notrecht umgesetzt werden (siehe hierzu auch die pa. Iv. 23.439 Caroni «Begründungspflicht beim Erlass von Notrecht»). Das Prüfschema für den Erlass von Notverordnungen und das Raster zur Umsetzung der rechtlichen Begründungspflicht sollen im Gesetzgebungsleitfaden des BJ integriert werden.
Es ist zudem vertieft zu prüfen, ob es bei den Notkrediten, die der Bundesrat mit der Zustimmung der FinDel der eidgenössischen Räte spricht, in den Artikeln 28 und 34 FHG sprachliche Präzisierungen braucht, um klarzustellen, was bei einer nachträglichen Nichtgenehmigung der Bundesversammlung noch zur Disposition steht und was eine verbindliche Aussenwirkung hat.
3. Resilienz stärken
Krisenerfahrungen sollen den Ausgangspunkt zur Stärkung der Krisenfestigkeit darstellen. Der Bundesrat betont deshalb die Wichtigkeit eines institutionellen Lernprozesses nach Krisenerfahrungen. Notrecht ist Teil des Krisenmanagements. Klare Zuständigkeiten und Prozesse sollen daher beim Risikomanagement sowie beim Business Continuity Management gerade auch mit Blick auf den Erlass von Notrecht sichergestellt werden. Die Resilienz ist auch in regulatorischer Hinsicht zu stärken. Hierzu sollen Leitlinien für die Erarbeitung von spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen zuhanden der Ämter in der Bundesverwaltung erarbeitet werden, die im Gesetzgebungsleitfaden des BJ verfügbar gemacht werden. Damit sollen die Arbeiten an einer krisenfesten Gesetzgebung erleichtert werden.

Anhang I

Leitfragen zur Notrechtstheorie

Grundlage für die Sitzung der Expertengruppe vom 12. Juni 2023
A) Allgemeine Fragen zur aktuellen Notrechtsdiskussion
1.
Welche Aspekte und Anliegen sind Ihnen in der aktuellen Notrechtsdiskussion wichtig? Welchen Aspekten wurde zu wenig Beachtung geschenkt? Was hat Sie überrascht oder verwundert?
2.
Wie beurteilen Sie die Verfassungskonformität des notrechtlichen Handelns des Bundesrates im Fall CS vor dem Hintergrund der vergangenen Notrechtserfahrungen in den Fällen Swissair, UBS, Covid-19, Axpo-Rettungsschirm?
B) Spezifische Fragen zur Notrechtsdogmatik
1.
Notrechtslage (Anwendungsvoraussetzungen):
a.
Bei welchen Rechtsgütern oder Interessen des Landes darf bzw. soll der Bundesrat notrechtlich aktiv werden?
i.
Nur Polizeigüterschutz (Was fällt darunter?)
ii.
Auch andere Rechtsgüter (Individual- wie auch Kollektivrechtsgüter?)
iii.
Immer dann, wenn ein Nichthandeln des Bundesrates unverantwortlich erschiene, auch ohne, dass zwingend ein (Polizei-)Rechtsgut betroffen ist.
b.
Wann soll sich der Bundesrat Ihrer Ansicht nach auf Artikel 184 Absatz 3 BV und wann auf Artikel 185 Absatz 3 BV stützen?
c.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Notverordnungskompetenz des Bundesrates (Art. 185 Abs. 3 BV) und der polizeilichen Generalklausel (Art. 36 Abs. 1 BV)?
d.
Wie kann die Frage der Dringlichkeit («unmittelbar drohend») abstrakt oder im Einzelfall konkretisiert werden?
2.
Notrechtshandlung (Zulässigkeitsvoraussetzungen)
a.
Darf der Bundesrat Ihrer Meinung nach gestützt auf seine verfassungsrechtliche Notverordnungskompetenz…
i.
praeter legem handeln?
ii.
contra legem handeln?
iii.
contra constitutionem handeln? (Kompetenzverletzungen, Verletzung von Grundrechten)
b.
Woran muss sich der Bundesrat Ihrer Ansicht nach bei der Ausübung seiner Notrechtskompetenz immer zwingend halten? (z B. ius cogens, Verhältnismässigkeitsprinzip, Diskriminierungsverbot, notstandsfeste Garantien und Kerngehalte von Grundrechten)
c.
Welche Situationen sind Ihrer Ansicht nach nicht vom intrakonstitutionellen Notrecht gedeckt und können nur mit Rückgriff auf das extrakonstitutionelle Notrecht bewältigt werden? Unter welchen Voraussetzungen und Grenzen?
C) Schutzpflichten
1.
Unter welchen Voraussetzungen muss der Bundesrat in Notlagen Ihrer Ansicht nach gestützt auf seine Schutzpflichten aktiv werden?
2.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den Notrechtsbefugnissen und den Schutzpflichten des Bundesrates?
D) Nachträgliche Nichtgenehmigung des Parlaments
1.
Welche Wirkungen hat eine allfällige Ablehnung des Überführungsgesetzes gemäss Artikel 7 d RVOG durch das Parlament Ihrer Meinung nach?
2.
Wie beurteilen Sie die Rechtswirkungen der nachträglichen Nichtgenehmigung des Parlaments bei Notkrediten gemäss den Artikeln 28 und 34 FHG?
E) Notrechtsbestimmungen in der Verfassung und in Spezialgesetzen
1.
Was ist das Verhältnis zwischen den Notrechtsbestimmungen in der Bundesverfassung (Art. 184 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 3 BV) und den Notrechtsbestimmungen in Spezialgesetzen (z. B. Art. 7 EpG, Art. 28 und 34 FHG, BG über die Wahrung von Demokratie, Rechtssaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen)? Kommt den Spezialgesetzen bloss deklaratorische oder konstitutive Bedeutung zu?
2.
Dürfen verfassungsrechtliche Notverordnungen Ihrer Meinung nach von den spezialgesetzlichen Krisenbestimmungen derogieren?
F) Regulatorischer Klärungs- und Anpassungsbedarf
1.
Wo sehen Sie Klärungsbedarf, den der Bundesrat in seinem Bericht behandeln soll?
2.
Wo sehen Sie rechtlichen Anpassungsbedarf?

Anhang II

Leitfragen zur Notrechtspraxis

Grundlage für die Sitzung der Arbeitsgruppe vom 29. Juni 2023
A) Allgemeine Fragen zur Notrechtspraxis
1.
Was sind die grössten Herausforderungen des Notrechts aus der Sicht der Bundesverwaltung Ihrer Ansicht nach, denen Sie bspw. in Ihrem Amt begegnet sind?
2.
Wie geht ihr Amt mit diesen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Notrecht um? Welche Strategien sind gerade auch hinsichtlich interner Organisation und Prozesse erarbeitet worden?
3.
Welche Lehren können Sie aus den Notrechtserfahrungen Ihres Amtes in den Fällen Swissair, UBS, Covid-19, Axpo-Rettungsschirm, CS und weiteren Anwendungsbeispielen ziehen?
B) Spezifische Fragen zu den Notrechtsfallstudien
1.
Wann und unter welchen Umständen hat Ihr Amt Notrecht angewendet? (Ausgangslage)
2.
Worauf hat sich der Bundesrat in Ihrem Anwendungsfall beim Erlass von Notrecht gestützt? Bundesverfassung und/oder Spezialgesetz? (Rechtsgrundlage)
3.
Welche Massnahmen hat der Bundesrat in Ihrem Anwendungsfall gestützt auf Notrecht ergriffen (inhaltlich) und welche Handlungsform hat er gewählt (formell)? (Notrechtsmassnahmen)
4.
Wie hat der Bundesrat in Ihrem Anwendungsfall den Erlass von Notrecht bzw. das Bestehen einer Notlage begründet? (Begründung)
5.
Welche Alternativen zum Notrecht wie bspw. das Dringlichkeitsrecht oder Notverordnungen des Parlaments hat ihr Amt geprüft und aus welchen Gründen hat man diese verworfen? (Alternativen)
6.
Wurde in Ihrem Anwendungsfall das Notrecht in ordentliches Recht überführt? (Überführung)
7.
Wie wurde auf die Anwendung von Notrecht in Ihrem Fall von den betroffenen Akteuren und der breiteren Öffentlichkeit reagiert? (Reaktionen)
8.
Was für ein Lernprozess wurde im Nachgang an die Anwendung von Notrecht in Ihrem Amt vollzogen? (Evaluation)
C) Regulatorischer Klärungs- und Anpassungsbedarf
1.
Wo sehen Sie Klärungsbedarf hinsichtlich der verfassungsrechtlichen und/oder spezialgesetzlichen Notrechtsbestimmungen?
2.
Wo sehen Sie Anpassungsbedarf hinsichtlich der verfassungsrechtlichen und/oder spezialgesetzlichen Notrechtsbestimmungen?

Anhang III

Diskussionspapier

Grundlage für die Sitzungen der Experten- und Arbeitsgruppe vom 13./26. September 2023
Ausgehend von den wesentlichen Erkenntnissen aus der ersten Sitzung der Experten- und der Arbeitsgruppe möchten wir in der zweiten Sitzung folgende Aspekte des Notrechts vertieft mit Ihnen diskutieren.
1.
Verfassungsrechtliches Notrecht: Der Wortlaut der verfassungsrechtlichen Notrechtsbestimmungen in den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV wird grossmehrheitlich als nicht zeitgemäss betrachtet, im Hinblick auf
a.
die Unterscheidung zwischen nationalen und internationalen Krisen,
b.
die Unterscheidung zwischen Notverordnungen und Notverfügungen,
c.
die Unterscheidung zwischen Polizeigüterschutz und anderen Rechtsgütern bzw. vitalen gesellschaftspolitischen Interessen.
Für eine Anpassung der notrechtlichen Verfassungsbestimmungen spricht, dass mit einer Revision der Wortlaut an die anerkannte Praxis angeglichen werden könnte. Eine präzisere, ausführlichere Fassung der Voraussetzungen für den Erlass von Notrecht könnte einen dämpfenden und schonenden Einfluss auf die Anwendung von Notrecht haben.
Dagegen spricht, dass keine zeitgemässe Alternativformulierung naheliegend erscheint, neue Formulierungen daher hoch umstritten wären und somit nicht mehr Klarheit schaffen dürften. Die Verfassung ist nicht der richtige Ort, um detaillierte Ausführungen zu den Voraussetzungen der Notrechtssetzung aufzunehmen. Zudem ist das Prinzip fragwürdig: Jede Notrechtssituation ist anders. Eine jede Konstellation abdeckende, detaillierte generell-abstrakte Regelung ist kaum denkbar. Sie würde die Notrechtskompetenz des Bundesrates entleeren.
Fragen: Sind Sie der Auffassung, dass die oben genannten Punkte durch die Lehre und Rechtsprechung hinreichend geklärt sind? Erachten Sie eine Verfassungsrevision als sinnvoll?
2.
Verfassungsautonome Schranken des Notrechts: Die Grenzen des Notrechts könnten in der Verfassung verankert werden. In Frage kommen hierfür beispielsweise die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts, das Verhältnismässigkeitsprinzip, das Diskriminierungsverbot, die notstandsfesten Garantien sowie die Kerngehalte von Grundrechten. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Schweizer Verfassung im Gegensatz zur EMRK (Art. 15) und zum UNO-Pakt II (Art. 4) keine Derogationsklausel kennt, welche die notstandsfesten menschenrechtlichen Garantien festhält.
Für die Einführung von autonomen Schranken des Notrechts in der Verfassung spricht, dass es sich bei den genannten Prinzipien unbestrittenermassen um notstandsfeste Garantien handelt, deren fundamentale Bedeutung in der Schweiz, wie auch im internationalen Umfeld absolut unbestritten ist.
Gegen die explizite Verankerung der notrechtlichen Schranken in der Verfassung ist anzuführen, dass es weitaus unklarer sein dürfte, ob weitere Prinzipien zum notrechtsfesten Kern gehören (sollen) und falls ja, welche das wären. Notstandsfeste Garantien wurden im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes entwickelt, könnten jedoch auch ausserhalb desselben in fundamentalen Verfassungsprinzipien gesehen werden.
Fragen: Was spricht Ihrer Ansicht nach für, was gegen die Einführung von autonomen Schranken des Notrechts in der Schweizer Verfassung? Gibt es weitere fundamentale Prinzipien, die Ihrer Meinung nach zum notrechtsfesten Kern gehören?
3.
Krisenfeste Gesetzgebung: Im Rechtsetzungsprozess könnte (analog zur Europakompatibilitätsprüfung) eine Krisenkompatibilitätsprüfung eingeführt werden, um eine krisenresiliente Gesetzgebung sicherzustellen. In diesem Fall müsste auch der Gesetzgebungsleitfaden entsprechend angepasst werden. Das Ergebnis dieser Krisenkompatibilitätsprüfung könnte dabei die Einführung von Krisenbestimmungen in den einzelnen Spezialgesetzen zur Folge haben. In diesem Zusammenhang gilt es weiter zu klären, welchen Mehrwert spezialgesetzliche Notrechtsbestimmungen haben.
Für eine Krisenkompatibilitätsprüfung im Rechtssetzungsprozess und Krisenbestimmungen in Spezialgesetzen spricht, dass damit bereits das ordentliche Recht auch auf Krisenlagen ausgerichtet wird und in Notlagen nicht notwendigerweise auf ausserordentliche Instrumente wie das verfassungsunmittelbare Notrecht zurückgegriffen werden muss. Die Resilienz der Gesetzgebung wird damit gestärkt.
Gegen eine Krisenkompatibilitätsprüfung könnte angeführt werden, dass sie mit einem gewissen Aufwand und Zeit verbunden ist und Krisenbestimmungen in Spezialgesetzen nur beschränkt geeignet sind, um mit unvorhersehbaren Ereignissen umgehen zu können. Die ordentliche Gesetzgebung dürfte im Regelfall Krisen weiterhin hinterherhinken, da sich jede Krise von der anderen unterscheidet.
Fragen: Welche Möglichkeiten sehen Sie, um die Krisenfestigkeit der Gesetzgebung zu erhöhen? Erachten Sie die Einführung einer Krisenkompatibilitätsprüfung im Rechtssetzungsprozess (prozedurale Massnahme) und die Einführung von Krisenbestimmungen in den einzelnen Spezialgesetzen (materielle Massnahme) als sinnvoll?
4.
Notrecht als Teil des Krisenmanagements: Die mit der Anwendung von Notrecht einhergehende zeitweise Schwächung des Rechtsstaates könnte als ein zu betrachtender Aspekt in das Risiko- und Business Continuity Management der Departemente und des Bundes einfliessen. Damit würde die Anwendung von Notrecht als Risiko für den Rechtsstaat anerkannt. Zudem würden auch die notwendigen Vorbereitungen getroffen, um den Erlass von Notverordnungen in Krisenfällen unter erschwerten Bedingungen (z. B. Ausfall von Personal, Infrastruktur und IKT-Ressourcen) organisatorisch und prozedural sicherzustellen.
Für die Integrierung des Notrechts ins Risiko- und Business Continuity Management spricht, dass die Risiken für den Rechtsstaat, die der Erlass von Notrecht mit sich bringt, nicht unterschätzt werden sollten. Neben materiellen Schäden (z. B. Personen- und Sachschaden) umfasst das Risiko- und Business Continuity Management traditionellerweise auch immaterielle Schäden (z. B. Reputationsschaden). Risiken für den Rechtsstaat werden grösstenteils nicht erfasst, würden sich aber in die bestehenden Kategorisierungen gut eingliedern lassen.
Gegen die Aufnahme von Notrecht als eigenständiges Risiko spricht, dass rechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit nahezu allen Notlagen auftauchen und daher akzessorisch zusammen mit den Massnahmen und nicht eigenständig behandelt werden sollten. Auch in diesen Fall müsste jedoch eine Sensibilisierung im Bereich des Risiko- und Business-Continuity Management stattfinden.
Fragen: Wie müssten konkrete organisatorische und prozedurale Massnahmen zur Integration des Notrechts in das Risiko- und Business Continuity Management aussehen? Haben Sie weitere Ideen zur Integration des Notrechts als Teil des allgemeinen Krisenmanagements?
5.
Aufsicht und Kontrolle von Notrecht: Es gilt zu prüfen, ob und wie die Aufsichts- und Kontrollmechanismen verbessert werden können, ohne dabei die Handlungsfähigkeit des Bundesrates zu beeinträchtigen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen dem Zeitpunkt (vor oder nach dem Erlass von Notrecht) sowie der Form (parlamentarisch, behördlich und gerichtlich).
Für eine Stärkung der Aufsicht und Kontrolle von Notrecht spricht, dass mit dem Erlass von Notrecht eine zeitweilige Machtverschiebung von der Legislative zur Exekutive verbunden ist und flankierende Massnahmen zur Aufsicht und Kontrolle heute weitgehend fehlen. Aufsichts- und Kontrollmassnahmen könnten zeitweilige Machtverschiebung zwischen den staatslenkenden Gewalten ausbalancieren und besser legitimieren.
Gegen eine verstärkte Kontrolle spricht hingegen, dass die in akuten Krisensituationen entscheidende Handlungsfähigkeit des Bundesrates und die Effizienz seiner Massnahmen eingeschränkt wird. Konkret ist zu befürchten, dass ein vorgängiger Einbezug weiterer Akteure den Erlass von Notverordnungen verzögert und die Durchschlagskraft der Massnahmen mindert. Eine nachgängige Kontrolle, die auf bereits getroffene Entscheidungen zurückkommt, könnte hingegen die Glaubwürdigkeit des Bundesrates nach aussen sowie die Rechtssicherheit schwächen. Zudem sind Notmassnahmen schnelllebig, so dass Gerichte unter Umständen über Massnahmen urteilen würden, die bereits überholt sind und wo kein schutzwürdiges Interesse mehr besteht.
Frage : Welche Formen der parlamentarischen, behördlichen oder gerichtlichen Aufsicht und Kontrolle sind Ihrer Ansicht nach zu welchem Zeitpunkt sinnvoll?
6.
Institutioneller Lernprozess: Ein automatischer Lernprozess könnte nach jeder Anwendung von Notrecht eingeleitet werden. Zu denken ist etwa an eine Berichterstattungspflicht gegenüber dem Parlament durch das federführende Amt, (inkl. Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz) sowie an einen Austausch in der Staatspolitischen Kommission unter Anwesenheit der betroffenen Fachkommission.
Für die Einführung eines institutionellen Lernprozesses nach der Anwendung von Notrecht spricht, dass Notverordnungen regelmässig vom vorgesehenen rechtlichen Rahmen abweichen ( contra legem ). Aus rechtsstaatlicher Sicht erscheint daher ein institutioneller Lernprozess angezeigt, um in künftigen Krisen möglichst griffige Massnahmen zu wählen, die von den vom ordentlichen Recht vorgesehenen Inhalten und Verfahren möglichst wenig abweichen.
Gegen einen automatischen Lernprozess nach jeder Anwendung von Notrecht spricht hingegen, dass sich die Notlagen und die darauf basierenden Notmassnahmen jeweils stark unterscheiden dürften. Ein standardisierter, nach einem vorgegebenen Schema ablaufender Lernprozess könnte deshalb als ungeeignet erscheinen.
Fragen: Wie könnte Ihrer Meinung nach ein institutioneller Lernprozess aussehen? Erachten Sie hierfür eine Revision des Parlamentsgesetzes als denkbaren Weg?

Anhang IV

Mapping der Notrechtselemente gemäss Artikel 185 Absatz 3 BV

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Notrechtslage
Elemente Zu stellende Fragen
(i) relevantes Schutzgut Polizeigüterschutz? Andere Rechtsgüter? Nichthandeln des Bundesrates erscheint unverantwortlich?
(ii) sachliche Dringlichkeit Unmittelbarkeit der Gefahr (aus ex-Ante-Sicht)? Wahrscheinlichkeit der Störung der öffentlichen Ordnung? Schwere der Störung der öffentlichen Ordnung?
(iii) zeitliche Dringlichkeit Notrechtsmassnahme bereits bzw. noch notwendig? (Dauervoraussetzung) Keine bestehende Rechtsgrundlage? Keine Zeit für neue Rechtsgrundlage? War die Gefahr für den Gesetzgeber voraussehbar?
(iv) Subsidiarität keine anderweitigen Massnahmen möglich? spezialgesetzliches Notrecht (Gesetzesdelegation)? verfassungsrechtliches Notrecht (Delegation durch Verfassung)?
Notrechtshandlung
Elemente Zu stellende Fragen
(i) Form Notverordnung (generell-abstrakt)? Notverfügung (individuell-konkret)?
(ii) Inhalt belastende Massnahmen (z. B. Grundrechtseinschränkungen)? begünstigende Massnahmen (z. B. Gewährung von Krediten)?
(iii) Schutzpflichten menschenrechtliche Schutzpflichten? (z. B. Gesundheit Dritter) andere staatliche Schutzpflichten aus Bundeskompetenzen? (z. B. Grundversorgung)
(iv) Rechtsbindung praeter legem? (Gesetzeslückenfüllung) contra legem? (gegen Gesetz) contra constitutionem? (gegen Verfassung) contra ius gentium? (gegen Völkerrecht)
(v) Befristung Wegfall der Notlage vor Fristablauf? Ausserkraftsetzung Wegfall der Notlage mit Fristablauf? Ende des Notrechts Kein Wegfall der Notlage nach Fristablauf? Verlängerung
(vi) Kommunikation öffentlich (z. B. proaktiv über die Medien) beschränkt bzw. spezifisch (z. B. nur Parlament) vertraulich (z. B. BGÖ-Ausschluss)

Anhang V

Vergleichstabelle der Notrechtsfallstudien

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Vergleichsparameter UBS (15.10.2008) Coronavirus (10.03.2020) Axpo (05.09.2022) CS (16.03.2023)
1. Ausgangslage Internationale Finanz- und Bankenkrise Globale Pandemie Preissteigerungen aufgrund des Ukraine-Kriegs und hohe Geldsicherheiten für Stromhandelsgeschäfte Bank Run aufgrund des Vertrauensverlustes in CS und angespannte Lage auf den Finanzmärkten
2. Rechtsgrundlage Art. 184 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 3 BV Art. 7 EpG und Art. 185 Abs. 3 BV Art. 185 Abs. 3 BV Art. 184 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 3 BV
3a. Massnahmen Der BR, die SNB und die EBK beschliessen Massnahmenpaket zur Stabilisierung des Schweizer Finanzsystems, insb. UBS. Massnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie in gesundheitlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht BR aktiviert Rettungsschirm für die Axpo mit Kreditrahmen im Umfang von 4 Mia. CHF BR sprach u.a. eine Garantie für Liquiditätshilfe der SNB an die CS zur Unterstützung der Übernahme der CS durch die UBS.
3b. Notverordnungen Verordnung über die Rekapitalisierung der UBS AG (SR 611.055 ) COVID-19-Verordnung 2, (SR 818.101.24 ); VO über den Fristenstillstand bei Volksbegehren (SR 161.16 ); VO über den Stillstand der Fristen in Zivil- und Verwaltungsverfahren (SR 173.110.4 ); VO Sport, VO Kultur, VO Erwerbsausfall, Covid-19-VO Arbeitslosenversicherung (SR 837.033 ); VO Miete und Pacht; VO Insolvenzrecht; VO Solidarbürgschaft (SR 951.261 ), VO Maturitätsprüfungen; VO Printmedien, elektronische Medien; VO Kinderbetreuung Verordnung über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft (FiREVO, SR 731.31 ) Verordnung über zusätzliche Liquiditätshilfe-Darlehen und die Gewährung von Ausfallgarantien des Bundes für Liquiditätshilfe-Darlehen der Schweizerischen Nationalbank an systemrelevante Banken (SR 952.3 )
4. Begründung «Stärkung des Finanzsystems Schweiz» «Bekämpfung des Coronavirus» und «Bewältigung der Coronakrise», da Gesundheitsgefahr für CH-Bevölkerung und Überlastung des Gesundheitssystems. «Stromversorgungssicherheit der Schweiz» «Schutz der Finanzstabilität und der Schweizer Volkswirtschaft»
5. Alternativen Dringliches Bundesgesetz oder Notverordnung des Parlaments? Massnahmen soweit möglich auf EpG (Art. 6 Abs. 2) abstützen. Dringliches Bundesgesetz oder Notverordnung des Parlaments? FiREG war aufgegleist, Parlament wollte keine dringliche Behandlung Dringliches Bundesgesetz oder Notverordnung des Parlaments?
6. Überführung Keine Überführung in ein formelles Gesetz Covid-19-Gesetz (SR 818.102 ) (und soweit notwendig Überführung ins revidierte EpG); Covid-19-Solidarbürgschaftsgesetz (SR 951.26 ). Innert Monatsfrist: Bundesgesetz über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft (FiREG, SR 734.91 ) Reduzierte Überführung des Notrechts in ordentliches Recht durch eine Änderung des Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen (Bankengesetz, BankG, SR 952.0 )
7. Reaktionen Bericht der FINMA vom 14.09.2009 «Finanzmarktkrise und Finanzmarktaufsicht» Bericht des Bundesrates vom 27.05.2020 über die Ausübung seiner Notrechtskompetenzen […] seit Beginn der Coronakrise Motion 22.4132 Eva Herzog (Eingrenzung der Risiken von systemkritischen Unternehmen der Branche) Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (BBl 2023 1369)
8. Evaluation Bericht der SPK-N vom 5.2.2010 über die pa. Iv. zur Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen lagen (BBl 2010 1563 ff.); Bericht des Bundesrates vom 12.5.2010 «Verhalten der Finanzmarktaufsicht in der Finanzmarktkrise - Lehren für die Zukunft» (Po 08.4039 und Motion 09.3010); Bericht der GPK vom 30.5.2010 «Die Behörden unter dem Druck der Finanzkrise […]»; Pa. Iv. 10.401 «Finanzkrise/UBS. Einsetzung einer PUK»; Too Big Too Fail -Regulierung im Bankengesetz gemäss den Empfehlungen des Financial Stability Board. Revision des Epidemiengesetzes, (EpG, SR 818.101 ) und des Pandemieplans / Überarbeitung Krisenhandbuch Bundesrat entschied Ende März 2023 die Übernahme der CS durch die UBS innert Jahresfrist aufzuarbeiten. Es ist insb. eine Evaluation der Too Big To Fail -Regulierung gestützt auf Art. 52 BankG geplant.
Quellen: Medienmitteilungen des Bundesrates und offizielle admin.ch-Seiten der Ämter.
Bundesrecht
Anwendung von Notrecht. Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate 23.3438 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 24. März 2023 und 20.3440 Schwander vom 6. Mai 2020
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