Gemeinsame Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus, des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales, Gesundheit, Jugend und Familie und des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zur Zurückdrängung von Schulpflichtverletzungen und Schulverweigerung (VwV Schulverweigerer)
Gemeinsame Verwaltungsvorschrift
des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus, des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales, Gesundheit, Jugend und Familie und des Sächsischen Staatsministeriums des Innern
zur Zurückdrängung von Schulpflichtverletzungen und Schulverweigerung
(VwV Schulverweigerer)
AZ: 36-6601.00/13
Vom 29. April 2002
Es ist gemeinsames Anliegen von Schule, Jugendhilfe und Polizei, Schulpflichtverletzungen wirksam vorzubeugen und zu begegnen. Dabei sollen die Schulleitungen an allgemein bildenden Schulen bei minderjährigen Schülern nach einem einheitlichen Konzept vorgehen.
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Die Erziehungsberechtigten werden entsprechend dem Schulleiterbrief des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus vom 4. Februar 1997 nach der zweiten Unterrichtstunde informiert, wenn der Schüler im Unterricht unentschuldigt fehlt.
Sollte ein Schüler während der Schulzeit stundenweise unentschuldigt fehlen, führt grundsätzlich zunächst der Klassenlehrer ein Gespräch mit dem Schüler, um die Ursachen des Fehlens zu ergründen. Alle unentschuldigten Fehlstunden der Schüler werden vermerkt (
Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus zur Verwendung von Vordrucken für die schulische Verwaltung
vom 9. März 1992, Amtsblatt des SMK 4/1992, S. 10). Die Erziehungsberechtigten werden nach dem Gespräch mit dem Schüler unverzüglich informiert, sofern dem nicht schwerwiegende Gründe entgegenstehen.
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Ab dem dritten unentschuldigten Fehltag im Schulhalbjahr wird Kontakt (zum Beispiel durch ein Gespräch) mit den Erziehungsberechtigten aufgenommen. Bei wiederholtem unentschuldigten Fehlen soll im Vorfeld des Gesprächs mit den Erziehungsberechtigten eine Klassenkonferenz, im Einzelfall unter Einbeziehung des Beratungslehrers, des Vertrauenslehrers oder des Schulpsychologen stattfinden.
Die Schule bespricht dann mit den Erziehungsberechtigten geeignete Maßnahmen, um den Schüler zu motivieren, den Unterricht wieder regelmäßig zu besuchen. Auf Wunsch der Erziehungsberechtigten kann auch der Klassenelternsprecher oder Klassenschülersprecher zu dem Gespräch hinzugezogen werden. Die Schule informiert sowohl die Erziehungsberechtigten als auch die Schüler über Angebote der Jugendhilfe und bestehende Kooperationsstrukturen.
Gleichzeitig kann die Anhörung der Erziehungsberechtigten zu beabsichtigten Ordnungsmaßnahmen nach § 39 Schulgesetz für den Freistaat Sachsen (
SchulG
) vom 3. Juli 1991 (SächsGVBl. S. 213), das zuletzt durch Artikel 27 des Gesetzes vom 28. Juni 2001 (SächsGVBl. S. 426, 428) geändert worden ist, erfolgen. Eventuell werden nach dem Gespräch mit den Erziehungsberechtigten Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen nach § 39
SchulG
geprüft. Die Erziehungsberechtigten sind darauf hinzuweisen, dass im Wiederholungsfalle ein Ordnungswidrigkeitsverfahren nach § 61
SchulG
eingeleitet wird. Die Schule fertigt eine Niederschrift über das Ergebnis des Gesprächs mit den Erziehungsberechtigten an und leitet diese ihnen zu.
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Führt das Gespräch mit den Erziehungsberechtigten nicht zu einem geregelten Schulbesuch, sollte grundsätzlich nach dem fünften Tag unentschuldigten Fehlens in einem Schulhalbjahr ein Ordnungswidrigkeitsverfahren nach § 61
SchulG
(eventuell Bußgeld bis zu 1 250 EUR) eingeleitet werden. Der Schulleiter entscheidet im Einzelfall, ob das Regionalschulamt und das zuständige Jugendamt benachrichtigt werden. Die Entscheidung ist aktenkundig zu machen.
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Seitens der unteren Verwaltungsbehörde findet eine Anhörung statt. Bei einer mündlichen Anhörung sollten, je nach Lage des Einzelfalls, neben dem betroffenen Schüler und den Erziehungsberechtigten auch ein Vertreter der Schule, des Jugendamtes und gegebenenfalls der zuständige Schulsozialarbeiter anwesend sein.
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Bei der weiteren Verweigerung eines regelmäßigen Schulbesuches setzt die untere Verwaltungsbehörde das entsprechende Verfahren fort und informiert darüber das Jugendamt. Die Einleitung erforderlicher Maßnahmen und geeigneter Hilfen gemäß Sozialgesetzbuch Achtes Buch (
SGB VIII
) – Kinder- und Jugendhilfe – in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3546), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 9. April 2002 (BGBl. I S. 1239, 1240) geändert worden ist, ist vom Jugendamt zu prüfen und nach Maßgabe des Einzelfalles zu veranlassen. Das Jugendamt wirkt im Rahmen seiner Aufgaben und Befugnisse mit der Schule gemäß § 81
SGB VIII
zusammen.
Wenn mit den genannten Maßnahmen bei Schülern und Erziehungsberechtigten kein Erfolg erzielt wird, kann die Schule die zwangsweise Zuführung des Schülers bei der zuständigen Kreispolizeibehörde beantragen. Im Wege der Amtshilfe kann der Polizeivollzugsdienst die Maßnahme durchführen. Dieses Vorgehen sollte zweckmäßigerweise nur dann in Betracht gezogen werden, wenn durch das einmalige zwangsweise Zuführen zur Schule eine Wiederholungsgefahr weitgehend ausgeschlossen werden kann. Die Erziehungsberechtigten werden verständigt, dass eine Zwangszuführung stattfinden wird.
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Bei einem Schulverweigerer, der trotz der bisherigen Maßnahmen nicht zum regelmäßigen Schulbesuch motiviert werden konnte, sind weitergehende Maßnahmen wie zum Beispiel eine alternative Beschulung zwischen Schule und Jugendamt abzusprechen und zu initiieren. Hierbei ist das Regionalschulamt zu beteiligen.
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Nach § 2 Abs. 3 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über den Besuch öffentlicher Schulen im Freistaat Sachsen (Schulbesuchsordnung –
SBO
) vom 12. August 1994 (SächsGVBl. S. 1565) kann der Schulleiter bei häufigen oder langen Erkrankungen vom Entschuldigungspflichtigen die Vorlage eines amts- oder vertrauensärztlichen Zeugnisses verlangen. Auffällig lang können zum Beispiel Erkrankungen von mehr als zehn Tagen sein.
Ein Grund für die Anforderung eines amts- oder vertrauensärztlichen Zeugnisses liegt vor, wenn konkrete Anhaltspunkte für Schulverweigerung bestehen und insbesondere in den Fällen, in denen der Verdacht nahe liegt, dass die Erziehungsberechtigten dies dulden oder fördern. Aus den in der Schülerkartei aufzubewahrenden Krankschreibungen können sich Anhaltspunkte ergeben, die Zweifel an der Krankschreibung rechtfertigen wie zum Beispiel bei auffällig häufigem Arztwechsel.
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Der Polizeivollzugsdienst sowie die Polizeibehörden gemäß § 64 Abs. 1 Nr. 3 und 4 des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen (
SächsPolG
) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. August 1999 (SächsGVBl. S. 466) haben bei der Feststellung von Kindern und Jugendlichen, die sich während der Schulzeit außerhalb der Schule aufhalten, nach sachlichem Ermessen eigeninitiativ die Personen anzusprechen und den Grund der unterrichtsfreien Zeit zu hinterfragen. In Zweifelsfällen und bei Verdacht der Schulverweigerung ist Rücksprache mit der Schulleitung zu nehmen. Die Bestimmungen des § 53 des
Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten
(
OWiG
)in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 1987 (BGBl. I S. 602), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 13. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3574, 3578) geändert worden ist, bleiben unberührt. Die Rechtsgrundlage für entsprechendes polizeiliches Handeln ist in der Anlage zu dieser Verwaltungsvorschrift abgedruckt.
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Diese Verwaltungsvorschrift tritt am Tage nach ihrer Veröffentlichung in Kraft.
Dresden, den 29. April 2002
Der Staatsminister für Kultus
Dr. Matthias Rößler
Der Staatsminister für Soziales,
Gesundheit, Jugend und Familie
Dr. Hans Geisler
Der Staatsminister des Innern
Klaus Hardraht
Rechtsgrundlage für polizeiliches Handeln
I.
Polizeiliches Handeln auf Antrag der Schule im Rahmen der Amts-/Vollzugshilfe
Die Sächsische Polizei kann für andere Behörden nur im Rahmen der Amtshilfe, gemäß § 4 ff. des Vorläufigen
Verwaltungsverfahrensgesetzes
für den Freistaat Sachsen (
SächsVwVfG
) vom 21. Januar 1993 (SächsGVBl. S. 74), das zuletzt durch § 17 des Gesetzes vom 31. März 1999 (SächsGVBl. S. 161, 163) geändert worden ist, oder der Vollzugshilfe gemäß § 61
SächsPolG
tätig werden. Gemäß § 61 Abs. 1
SächsPolG
ist durch den Polizeivollzugsdienst Vollzugshilfe auf Ersuchen einer Behörde zu leisten, wenn unmittelbarer Zwang anzuwenden ist und die ersuchende Stelle auf andere Weise ihre Maßnahmen nicht durchsetzen kann. Das Abholen und Verbringen der Schüler zur Schule stellt gemäß § 31 Abs. 1
SächsPolG
, durch das Einwirken auf Personen mittels einfacher körperlicher Gewalt, unmittelbaren Zwang dar, welcher gemäß § 30 Abs. 2
SächsPolG
nur dem Polizeivollzugsdienst obliegt.
Laut § 61 Abs. 1
SächsPolG
können sächsische Polizeivollzugsbeamte deshalb Schüler, welche die Teilnahme am Unterricht verweigern, nur dann von zu Hause abholen und der Schule zuführen, wenn eine rechtmäßige Primärmaßnahme seitens der ersuchenden Behörde, hier der Schule, vorliegt. Die Polizei ist dabei gemäß § 61 Abs. 2
SächsPolG
nur für die Art und den Umfang der Maßnahme verantwortlich, nicht jedoch für die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Maßnahme.
a)
Allgemeines Verwaltungshandeln zur Durchsetzung der Schulpflicht
Diese vorgenannte Primärmaßnahme ist aus den geltenden schulrechtlichen Bestimmungen abzuleiten. Das
SchulG
regelt in § 26 Abs. 1 die allgemeine Schulpflicht. Die Verantwortung für die Teilnahme am Schulunterricht tragen gemäß § 31 Abs. 1
SchulG
in erster Linie die Erziehungsberechtigten. Bei Nichterfüllung hat die Schule gemäß § 32 Abs. 2
SchulG
erforderliche Maßnahmen und allgemeine Anordnungen zu treffen, um dem Schulbesuch Nachdruck zu verleihen.
Bleiben die Maßnahmen der Schule ohne Erfolg oder sind von vornherein nicht erfolgversprechend, sind alternativ dem Ermessensgrundsatz entsprechend Ahndungsmöglichkeiten einer bestehenden Ordnungswidrigkeit gemäß § 61
SchulG
beziehungsweise die Möglichkeiten des Verwaltungszwangs zu prüfen.
Da öffentliche Schulen nach § 32 Abs. 1 Satz 1
SchulG
nichtrechtsfähige öffentliche Anstalten sind, ist bei der Ahndung von Verstößen gegen das
SchulG
gemäß § 61 Abs. 3
SchulG
in Verbindung mit § 35 ff.
OWiG
beziehungsweise bei der Anordnung und Ausübung des Verwaltungszwangs das Ordnungsamt als unterste Verwaltungs- beziehungsweise Polizeibehörde zuständig.
Im Sinne des Ordnungswidrigkeitenrechtes bedarf es der Anzeige beim Landratsamt beziehungsweise der Stadtverwaltung durch die Schule. Bei Anordnung von Verwaltungszwang zur Durchsetzung der Schulpflicht bedarf es der Amtshilfe nach § 4 ff.
SächsVwVfG
durch Antrag der Schule an das zuständige Ordnungsamt.
b)
Allgemeines Verwaltungshandeln im Sinne der Gefahrenabwehr
Die weitere Zuwiderhandlung zu den Bestimmungen der Schulpflicht stellt die Beibehaltung einer Verletzung geltender Rechtsnormen dar. Das
SchulG
ist Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung und fällt damit unter die zu schützenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die Polizeibehörden haben nach § 1
SächsPolG
die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten sowie Gefahren für den Einzelnen beziehungsweise das Gemeinwesen abzuwehren. Schulverweigerung ist im Sinne dieser Zielbestimmungen des
Schulgesetzes
eine Gefährdung für das Wohl des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen. Ein fortlaufender Verstoß gegen diese bestehende Rechtsordnung erfüllt die Tatbestandsmäßigkeit einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Gemäß § 1 Abs. 1 in Verbindung mit § 60 Abs. 1
SächsPolG
sind danach die Polizeibehörden für die Wahrnehmung dieser polizeilichen Aufgabe, des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zuständig.
Sind durch die Schule und durch die unterste Verwaltungsbehörde alle rechtmäßig möglichen Maßnahmen zur Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht ausgeschöpft worden und ist der Zweck durch die getroffenen Maßnahmen nicht zu erreichen, so kann Ultima Ratio auf Antrag der Verwaltungsbehörden der Polizeivollzugsdienst gemäß § 61 Abs. 1
SächsPolG
zur Vollzugshilfe in Form von unmittelbarem Zwang gegenüber den Adressaten hinzugezogen werden. Da die Schüler der Schulpflicht nachkommen müssen, sind sie Adressat der polizeilichen (Sekundär-)Maßnahme und können im Rahmen der Verhältnismäßigkeit von zu Hause abgeholt und zur Schule verbracht werden. Die Ausführungen zu § 61 Abs. 2
SächsPolG
gelten entsprechend.
II.
Eigeninitiatives Handeln der Polizei im Sinne der Generalermächtigung nach § 1 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1
SächsPolG
Da bei einem unberechtigten Fernbleiben vom Unterricht von einem Rechtsverstoß auszugehen ist, kann die Polizei eigeninitiativ Prüfungshandlungen (Personalienfeststellung/Befragung) vornehmen. Bei Antreffen von Schülern während der Unterrichtszeit außerhalb der Schule wäre eine erste Prüfungshandlung die Rücksprache mit der Schulleitung. Bei Klärung des Sachverhalts kann je nach Schwere der Schulschwänzerei beziehungsweise der bisher veranlassten Maßnahmen entweder eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 3
SchulG
oder im Weiteren eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach den allgemeinen Bestimmungen vorliegen.
Entsprechend dem geprüften Sachverhalt hat die Polizei die Möglichkeit der Anzeige einer Ordnungswidrigkeit; parallel dazu kann sie gemäß § 3 Abs. 1
SächsPolG
bei Feststellen einer bestehenden Gefahr im Verzuge oder bei Störung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderliche Sofortmaßnahmen treffen, um diese abzuwehren. Im Rahmen der Eilzuständigkeit steht der Polizei nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen ein Ermessensspielraum für Handlungs- und Eingriffsbefugnisse zu.
Mögliche Befugnisse sind Identitätsfeststellung gemäß § 19
SächsPolG
, Befragung gemäß § 18
SächsPolG
, Platzverweis gemäß § 21
SächsPolG
, Gewahrsamnahme (Verbringung zur Schule oder Eltern) gemäß § 22
SächsPolG
, Durchsuchen von Personen und Sachen gemäß §§ 23 und 24
SächsPolG
und Sicherstellung beziehungsweise Beschlagnahme von Gegenständen gemäß §§ 26 und 27
SächsPolG
.
Zur Beantwortung der Ausgangsfrage kann insoweit eine Zuführung der Schüler zur Schule durch die Polizei als rechtmäßige, zweckmäßige und gleichzeitig wirksamste Maßnahme angesehen werden.
Stock
Ständiger Vertreter
des Landespolizeipräsidenten
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