Europäisches Übereinkommen über die an den Verfahren vor der Europäischen Kommission... (0.101.1)
CH - Schweizer Bundesrecht

Europäisches Übereinkommen über die an den Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden Personen

Abgeschlossen in London am 6. Mai 1969 Von der Bundesversammlung genehmigt am 3. Oktober 1974³ Schweizerische Ratifikationsurkunde hinterlegt am 28. November 1974 In Kraft getreten für die Schweiz am 29. Dezember 1974 (Stand am 21. Juli 2016) ¹  AS  1974  2178 ; BBl  1974  I 1035 ² Der französische Originaltext findet sich unter der gleichen Nummer in der französischen Ausgabe dieser Sammlung. ³ Art. 1 Abs. 1 Bst. c des BB vom 3. Okt. 1974 ( AS  1974  2148 )
Die Mitgliedstaaten des Europarats, die dieses Übereinkommen unterzeichnen,
im Hinblick auf die am 4. November 1950⁴ in Rom unterzeichnete Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im folgenden als «Konvention» bezeichnet);
in der Erwägung, dass es für eine bessere Verwirklichung der Ziele der Konvention wichtig ist, den Personen, die an Verfahren vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte (im folgenden als «Kommission» bezeichnet) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im folgenden als «Gericht» bezeichnet) teilnehmen, bestimmte Immunitäten und Erleichterungen zu gewähren;
in dem Wunsch, zu diesem Zweck ein Übereinkommen zu schliessen,
haben folgendes vereinbart:
⁴ SR  0.101
Art. 1
1.  Dieses Übereinkommen findet auf die folgenden Personen Anwendung:
(a) Agenten der Vertragsparteien und die sie unterstützenden Berater und Anwälte;
(b) Personen, die in eigenem Namen oder als Vertreter eines der in Artikel 25 der Konvention genannten Antragsteller an Verfahren, die nach Artikel 25 vor der Kommission eingeleitet worden sind, teilnehmen;
(c) Anwälte oder Professoren der Rechte, die an Verfahren teilnehmen, um einer der unter Buchstabe  (b) genannten Personen beizustehen;
(d) Personen, die die Vertreter der Kommission zu ihrer Unterstützung im Verfahren vor dem Gericht bezeichnet haben;
(e) Zeugen und Sachverständige sowie andere Personen, die auf Vorladung der Kommission oder des Gerichts an Verfahren vor der Kommission oder dem Gericht teilnehmen.
2.  Für die Zwecke dieses Übereinkommens fällt unter die Begriffe «Kommission» und «Gericht» auch ein Unterausschuss, eine Kammer oder Mitglieder dieser beiden Gremien, wenn sie ihre Aufgaben nach den Bestimmungen der Konvention oder den Verfahrensordnungen der Kommission oder des Gerichts ausüben; unter den Begriff «am Verfahren teilnehmen» fällt auch das Einreichen von vorbereitenden Mitteilun­gen für eine Beschwerde gegen einen Staat der das Recht auf Individualbeschwerde nach Artikel 25 der Konvention anerkannt hat.
3.  Fordert der Ministerausschuss bei der Ausübung seiner Befugnisse nach Artikel 32 der Konvention eine in Absatz 1 dieses Artikels erwähnte Person auf, vor dem Ministerausschuss zu erscheinen oder bei ihm schriftliche Erklärungen einzureichen, so finden auf diese Person die Vorschriften dieses Übereinkommens Anwendung.
Art. 2
1.  Die in Artikel 1 Absatz 1 dieses Übereinkommens genannten Personen geniessen Immunität von der Gerichtsbarkeit in bezug auf die mündlichen und schriftlichen Erklärungen, die sie gegenüber der Kommission oder dem Gericht abgegeben und die Urkunden und anderen Beweismittel, die sie bei der Kommission oder dem Gericht eingereicht haben.
2.  Diese Immunität von der Gerichtsbarkeit besteht nicht, wenn Personen, denen nach dem vorstehenden Absatz Immunität zukommt, Erklärungen, Urkunden oder Beweismittel, die sie bei der Kommission oder dem Gericht abgeben bzw. einge­reicht haben, ausserhalb der Kommission oder des Gerichts ganz oder teilweise bekannt machen oder bekannt machen lassen.
Art. 3
1.  Die Vertragsparteien erkennen das Recht der in Artikel 1 Absatz 1 dieses Über­einkommens angeführten Personen auf ungehinderten schriftlichen Verkehr mit der Kommission oder dem Gericht an.
2.  Für inhaftierte Personen gehört zur Ausübung dieses Rechts insbesondere folgendes:
(a) im Falle der Überwachung ihres schriftlichen Verkehrs durch die zuständi­gen Behörden muss die Absendung und Aushändigung ohne übermässige Verzögerung und ohne Änderung erfolgen;
(b) wegen einer Mitteilung, die diese Personen der Kommission oder dem Gericht auf ordnungsgemässem Wege zugesandt haben, dürfen gegen sie keine disziplinarischen Massnahmen in irgendeiner Form ergriffen werden;
(c) diese Personen sind berechtigt, über eine Beschwerde an die Kommission und ein sich daraus ergebendes Verfahren mit einem Anwalt, der vor den Gerichten des Staates, in dem sie inhaftiert sind, zugelassen ist, Briefe zu wechseln und sich mit ihm zu beraten, ohne dass irgendeine andere Person zuhört.
3.  Bei der Anwendung der vorstehenden Absätze sind weitere Eingriffe einer öffentlichen Behörde nur statthaft, soweit dies gesetzlich vorgesehen ist und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten oder des Schutzes der Gesundheit notwendig ist.
Art. 4
1. (a) Die Vertragsparteien verpflichten sich, die in Artikel 1 Absatz 1 dieses Übereinkommens genannten Personen, deren Anwesenheit die Kommission oder das Gericht vorher gestattet hat, nicht zu hindern, sich frei zu bewegen und zu reisen, um an den Verfahren vor der Kommission oder dem Gericht teilzunehmen und danach wieder zurückzukehren.
(b) Die Ausübung dieser Bewegungs- und Reisefreiheit darf keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als denen, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Verhütung von Straftaten, des Schutzes der Gesundheit und der Moral und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.
2. (a) Diese Personen dürfen in Durchgangsstaaten oder in dem Staat, in dem das Verfahren stattfindet, wegen Handlungen oder Verurteilungen aus der Zeit vor Beginn ihrer Reise weder verfolgt, noch in Haft gehalten, noch einer sonstigen Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit unterworfen werden.
(b) Jede Vertragspartei kann bei der Unterzeichnung oder Ratifizierung dieses Übereinkommens erklären, dass die Vorschriften dieses Absatzes nicht auf ihre eigenen Staatsangehörigen Anwendung finden. Eine solche Erklärung kann jederzeit im Wege einer an den Generalsekretär des Europarats gerichteten Notifikation zurückgenommen werden.
3.  Die Vertragsparteien verpflichten sich, jeder Person, die die Reise in ihrem Hoheitsgebiet angetreten hat, die Rückkehr in dieses Gebiet zu gestatten.
4.  Die Vorschriften der Absätze 1 und 2 dieses Artikels werden nicht mehr ange­wandt, wenn der Betreffende innerhalb von fünfzehn aufeinanderfolgenden Tagen, nach­dem seine Anwesenheit von der Kommission oder denn Gericht nicht mehr verlangt wurde, die Möglichkeit gehabt hat, in das Land, in dem er seine Reise begonnen hatte, zurückzukehren.
5.  Bei einem Widerspruch zwischen den sich aus Absatz 2 dieses Artikels ergeben­den Verpflichtungen einer Vertragspartei und Verpflichtungen, die sich aus einer Europaratskonvention, einem Auslieferungsvertrag oder einem anderen Rechts­hilfevertrag in Strafsachen mit anderen Vertragsparteien ergeben, gehen die Vorschriften des Absatzes 2 vor.
Art. 5
1.  Befreiungen und Erleichterungen werden in Artikel 1 Absatz 1 dieses Überein­kommens genannten Personen nur gewährt, um ihnen die Redefreiheit und Unab­hängigkeit zu garantieren, die für die Erledigung ihrer Funktionen, Aufgaben und Pflichten oder für die Wahrnehmung ihrer Rechte gegenüber der Kommission oder dem Gericht erforderlich sind.
2. (a) Die Kommission oder gegebenenfalls das Gericht ist allein zuständig, die in Artikel 2 Absatz 1 vorgesehene Immunität ganz oder teilweise aufzuheben; sie haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die Immunität in allen Fällen aufzuheben, in denen nach ihrer Auffassung diese Immunität verhindern würde, dass der Gerechtigkeit Genüge geschieht und in denen die vollständige oder teilweise Aufhebung der Immunität die in Absatz 1 dieses Artikels bestimmten Zwecke nicht beeinträchtigt.
(b) Die Kommission und das Gericht können von Amtes wegen oder auf einen an den Generalsekretär des Europarats gerichteten Antrag einer Vertrags­partei oder einer betroffenen Person die Immunität aufheben.
(c) Die Entscheidungen, welche die Aufhebung der Immunität betreffen, sind zu begründen.
3.  Bescheinigt eine Vertragspartei, dass die Aufhebung der in Artikel 2 Absatz 1 dieses Übereinkommens vorgesehenen Immunität für ein Verfahren wegen eines Verstosses gegen die nationale Sicherheit erforderlich ist, so hebt die Kommission oder das Gericht die Immunität in dem in der Bescheinigung angegebenen Masse auf.
4.  Wird nach einer Entscheidung, durch die die Aufhebung der Immunität versagt worden ist, eine Tatsache bekannt, die geeignet gewesen wäre, einen massgeblichen Einfluss auf die Entscheidung auszuüben, so kann der Antragsteller, falls ihm die Tatsache ebenfalls nicht bekannt war, bei der Kommission oder dem Gericht einen neuen Antrag stellen.
Art. 6
Nichts in diesem Übereinkommen darf als Einschränkung oder Aufhebung der Ver­pflichtungen, die die Vertragsparteien auf Grund der Konvention übernommen haben, ausgelegt werden.
Art. 7
1.  Dieses Übereinkommen liegt für die Mitgliedstaaten des Europarats zur Unter­zeichnung auf; sie können Vertragspartei werden,
(a) indem sie es ohne Vorbehalt der Ratifikation oder der Annahme unterzeichnen oder
(b) indem sie es unter Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme unterzeichnen und später ratifizieren oder annehmen.
2.  Die Ratifikations- oder Annahmeurkunden werden beim Generalsekretär des Euro­parats hinterlegt.
Art. 8
1.  Dieses Übereinkommen tritt einen Monat nach dem Zeitpunkt in Kraft, an dem fünf Mitgliedstaaten des Rates nach Artikel 7 Vertragsparteien des Übereinkommens geworden sind.
2.  Für jeden Mitgliedstaat, der das Übereinkommen in einem späteren Zeitpunkt ohne Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme unterzeichnet oder der es ratifiziert oder annimmt, tritt es einen Monat nach dem Tag der Unterzeichnung oder der Hinterlegung der Ratifikations- oder Annahmeurkunde in Kraft.
Art. 9
1.  Jede Vertragspartei kann bei der Unterzeichnung oder bei der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Annahmeurkunde dasjenige oder die Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die dieses Übereinkommen Anwendung findet.
2.  Jede Vertragspartei kann bei der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Annahmeurkunde oder jederzeit danach durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung dieses Übereinkommens auf jedes weitere in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet erstrecken, dessen internationale Beziehungen sie wahrnimmt oder für das sie Vereinbarungen treffen kann.
3.  Jede nach Absatz 2 abgegebene Erklärung kann in bezug auf jedes darin genannte Hoheitsgebiet gemäss dem in Artikel 10 dieses Übereinkommens vor­gesehenen Verfahren zurückgenommen werden.
Art. 10
1.  Dieses Übereinkommen bleibt auf unbegrenzte Zeit in Kraft.
2.  Jede Vertragspartei kann durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation dieses Übereinkommen für sich kündigen.
3.  Diese Kündigung wird sechs Monate nach dem Eingang der Notifikation beim Generalsekretär wirksam. Sie bewirkt jedoch nicht die Entlassung der betreffenden Vertragspartei aus all jenen Verpflichtungen, die sich gegebenenfalls aus diesem Übereinkommen gegenüber einer der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Personen ergeben haben.
Art. 11
Der Generalsekretär des Europarats notifiziert den Mitgliedstaaten des Rates:
(a) jede Unterzeichnung ohne Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme;
(b) jede Unterzeichnung unter Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme;
(c) jede Hinterlegung einer Ratifikations- oder Annahmeurkunde;
(d) jeden Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Übereinkommens nach seinem Artikel 8;
(e) jede nach Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 9 Absätze 2 und 3 eingegangene Erklärung;
(f) jede Notifikation, mit der eine Erklärung nach Artikel 4 Absatz 2 zurück­genommen wird, und jede nach Artikel 10 eingegangene Notifikation und den Zeitpunkt, an dem die Kündigung wirksam wird.

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Über­einkommen unterschrieben.
Geschehen zu London am 6. Mai 1969 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermassen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarats übermittelt allen Unterzeichnerstaaten beglaubigte Abschriften.
(Es folgen die Unterschriften)

Geltungsbereich am 21. Juli 2016 ⁵

⁵ AS  1980  160 , 1982  2067 , 1984  974 , 1990  59 , 2005  1903 und 2016  2737 . Eine aktualisierte Fassung des Geltungsbereiches findet sich auf der Internetseite des EDA (www.eda.admin.ch/vertraege).

Vertragsstaaten

Ratifikation

Inkrafttreten

Belgien

16. März

1971

17. April

1971

Dänemark

  7. März

1984

  8. April

1984

Deutschland*

  3. April

1978

  4. Mai

1978

Finnland

27. Februar

1991

28. März

1991

Frankreich*

27. Februar

1984

28. März

1984

Irland

  9. November

1971

10. Dezember

1971

Island

29. Juni

1995

30. Juli

1995

Italien*

  6. Januar

1981

  7. Februar

1981

Liechtenstein*

26. Januar

1984

27. Februar

1984

Luxemburg

10. September

1970

17. April

1971

Malta

30. April

1971

  1. Juni

1971

Niederlande*

28. Januar

1972

29. Februar

1972

Aruba a

24 Dezember

1985

  1. Januar

1986

Curaçao

24. August

1993

  1. Dezember

1993

Karibische Gebiete (Bonaire,
Sint Eustatius und Saba)

24. August

1993

  1. Dezember

1993

Sint Maarten a

24. August

1993

  1. Dezember

1993

Norwegen

  1. Juli

1970

17. April

1971

Österreich

17. Juli

1981

18. August

1981

Polen*

12. April

1996

13. Mai

1996

Portugal

23. Juli

1981

24. August

1981

Rumänien

  8. April

1998

  9. Mai

1998

San Marino

22. März

1989

23. April

1989

Schweden

20. Dezember

1971

21. Januar

1972

Schweiz*

28. November

1974

29. Dezember

1974

Slowenien

27. Mai

1994

28. Juni

1994

Spanien*

23. Juni

1989

24. Juli

1989

Tschechische Republik*

27. März

1996

28. April

1996

Ungarn

12. Januar

1996

13. Februar

1996

Vereinigtes Königreich*

24. Februar

1971

17. April

1971

Guernsey b

19. Oktober

1971

20. Oktober

1971

Insel Man b

19. Oktober

1971

20. Oktober

1971

Jersey b

19. Oktober

1971

20. Oktober

1971

Zypern

23. November

1970

17. April

1971

* Vorbehalte und Erklärungen.
Die Vorbehalte und Erklärungen werden in der AS nicht veröffentlicht, mit Ausnahme jener der Schweiz. Die französischen und englischen Texte können auf der Internetseite des Europarates: www.coe.int/de/web/conventions/ eingesehen oder bei der Direktion für Völkerrecht, Sektion Staatsverträge, 3003 Bern, bezogen werden.
a
Anwendungserklärung nach Art. 9 Abs. 1
b
Anwendungserklärung nach Art. 9 Abs. 2

Vorbehalte und Erklärungen

Schweiz ⁶
Der Schweizerische Bundesrat erklärt, dass Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe  (a) des Übereinkommens auf die schweizerischen Staatsangehörigen, die in der Schweiz wegen eines schweren Verbrechens gegen den Staat, die Landesverteidigung oder die Wehrkraft verfolgt werden oder verurteilt worden sind, keine Anwendung findet.
⁶ Art. 1 Abs. 1 Bst. c des BB vom 3. Okt. 1974 ( AS  1974  2148 )
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