Vertrag zwischen der Schweiz und der Türkei zur Erledigung von Streitigkeiten i... (0.193.417.63)
CH - Schweizer Bundesrecht

Vertrag zwischen der Schweiz und der Türkei zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs‑, Gerichts‑ und Schiedsverfahren

Abgeschlossen am 9. Dezember 1928 Von der Bundesversammlung genehmigt am 21. Juni 1929³ Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 7. August 1930 In Kraft getreten am 7. August 1930 ¹  AS 46 474 und BS 11 371; BBl 1929 I 311 ² Der Originaltext findet sich unter der gleichen Nummer in der französischen Ausgabe dieser Sammlung. ³ AS 46 473
Der Schweizerische Bundesrat und der Präsident der Türkischen Republik,
von dem Wunsche beseelt, die zwischen der Schweiz und der Türkei bestehenden freundschaftlichen Bande zu festigen und Streitigkeiten, die etwa zwischen den beiden Ländern entstehen sollten, einer friedlichen Regelung zu unterwerfen,
sind übereingekommen, zu diesem Zweck einen Vertrag abzuschliessen, und haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt:
(Es folgen die Namen der Bevollmächtigten)
die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben, über folgende Bestimmungen übereingekommen sind:
Art. 1
Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, auf Verlangen des einen von ihnen diejenigen Streitigkeiten, die nicht in angemessener Frist auf diplomatischem Wege geschlichtet werden können und bei denen die Parteien untereinander über ein Recht im Streite sind, einem Vergleichs‑ und gegebenenfalls einem Gerichts‑ oder Schiedsverfahren zu unterwerfen, insbesondere diejenigen Streitigkeiten, die zum Gegenstand haben:
1. die Auslegung eines Staatsvertrages;
2. irgendeine Frage des internationalen Rechtes‑,
3. das Bestehen irgendeiner Tatsache, die wenn sie erwiesen wäre, die Verletzung einer internationalen Verpflichtung bedeuten würde;
4. den Umfang oder die Art der für eine solche Verletzung geschuldeten Wiedergutmachung.⁴
Die vorstehenden Bestimmungen finden keine Anwendung auf Streitigkeiten, deren Gegenstand nach Ansicht der einen der Parteien gemäss den Grundsätzen des Völkerrechts ausschliesslich ihrer Souveränität untersteht oder gemäss den zwischen ihnen in Kraft stehenden Staatsverträgen in ihre ausschliessliche Zuständigkeit fällt. Wenn indes die andere Partei entgegengesetzter Ansicht sein sollte, so kann sie vorher durch den Ständigen Internationalen Gerichtshof⁵ entscheiden lassen, ob sich seine Zuständigkeit, wie sie sich aus dem vorliegenden Vertrage ergibt, auf die Streitigkeit erstreckt.⁶
Die vorbehaltlose Zustimmung einer Partei zur Durchführung eines Vergleichsverfahrens beeinträchtigt ihr Recht nicht, ein Begehren um Durchführung des Gerichts‑ oder Schiedsverfahrens im Sinne der Artikel 6 bis 8 des gegenwärtigen Vertrages unter den im vorstehenden Absatze vorgesehenen Bedingungen abzulehnen.
Es bleibt den vertragschliessenden Teilen unbenommen, jederzeit zu vereinbaren, dass ein Streitfall unmittelbar durch das Gerichts‑ oder Schiedsverfahren geregelt werden soll, ohne dass vorher das Vergleichsverfahren durchgeführt würde.
⁴ Fassung gemäss Prot. vom 1. Juni 1933, von der Bundesversammlung genehmigt am 12. Okt. 1933 ( AS 51 312 311 ; BBl 1933 II 42 ). Die Ratifikationsurkunden hiezu wurden am 7. Mai 1935 ausgetauscht. Am gleichen Tag ist das Protokoll in Kraft getreten.
⁵ Heute: der Internationale Gerichtshof (Art. 37 des Statuts des Internationalen Gerichts­hofes – SR 0.193.501 ).
⁶ Fassung gemäss Prot. vom 1. Juni 1933, von der Bundesversammlung genehmigt am 12. Okt. 1933 ( AS 51 312 311 ; BBl 1933 II 42 ). Die Ratifikationsurkunden hiezu wurden am 7. Mai 1935 ausgetauscht. Am gleichen Tag ist das Protokoll in Kraft getreten.
Art. 2
Die Durchführung des Vergleichsverfahrens wird einer ständigen Vergleichskommission von drei Mitgliedern übertragen.
Die vertragschliessenden Teile ernennen jeder für sich nach freier Wahl ein Mitglied und bezeichnen das dritte, das ohne weiteres in der ständigen Vergleichskommission den Vorsitz führt, im gemeinsamen Einverständnisse. Der Vorsitzende soll nicht Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten sein, noch soll er auf ihrem Gebiete seinen Wohnsitz haben oder in ihrem Dienste stehen.
Die Kommission ist binnen sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages zu bilden.
Wenn die Ernennung des Vorsitzenden nicht innerhalb dieser sechsmonatigen Frist oder, im Falle des Rücktritts oder Ablebens, nicht binnen drei Monaten nach dem Freiwerden des Sitzes stattgefunden hat, so wird sie nötigenfalls auf Verlangen einer einzigen Partei durch den Präsidenten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes⁷ oder, wenn dieser Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten ist, durch den Vizepräsidenten oder, wenn auch dieser sich im gleichen Falle befindet, durch das älteste Mitglied des Gerichtshofes vollzogen, das nicht Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten ist.
Die Mitglieder der Kommission werden für drei Jahre ernannt; ihr Mandat gilt jedoch jeweils für einen weitern Zeitabschnitt von drei Jahren als erneuert, wenn sich keine der Parteien der Erneuerung widersetzt.
⁷ Der Ständige Internationale Gerichtshof wurde aufgelöst durch Beschluss der Völkerbundsversammlung vom 18. April 1946 ( BBl 1946 II 1227 ) und ersetzt durch den Internationalen Gerichtshof ( SR 0.193.50 ).
Art. 3
Die vertragschliessenden Teile behalten sich vor, die Vergleichskommission in jedem einzelnen Falle durch zwei weitere Mitglieder zu ergänzen, die im gemein­samen Einverständnisse zu bezeichnen sind und bis zum Abschlusse des Verfahrens der Kommission in der gleichen Eigenschaft angehören wie die schon bestellten.
Art. 4
Der Vergleichskommission liegt ob, die streitigen Fragen zu klären und in einem Berichte Vorschläge für die Beilegung der Streitigkeit zu machen.
Die Anrufung der Kommission erfolgt durch ein dahinzielendes Begehren, das von einem der vertragschliessenden Teile an den Kommissionsvorsitzenden gerichtet wird. Die Partei, welche die Durchführung des Vergleichsverfahrens verlangt, wird der Gegenpartei diese ihre Absicht vorher zur Kenntnis bringen. Wenn innerhalb einer Frist von drei Monaten nach dieser Anzeige die Gegenpartei keine der Ein­reden des Artikels 1 Absatz 2 des gegenwärtigen Vertrages erhoben hat, so kann der Streit­fall rechtsgültig bei der Kommission anhängig gemacht werden.
Art. 5
Die Vergleichskommission hat ihren Bericht innerhalb von sechs Monaten nach dem Tage zu erstatten, wo sie in einem Streitfall angerufen worden ist, es sei denn, dass die vertragschliessenden Teile diese Frist im gemeinsamen Einverständnisse verkürzen oder verlängern.
Jeder der Parteien wird eine Ausfertigung des Berichtes ausgehändigt. Der Bericht hat weder in bezug auf den Tatbestand noch hinsichtlich der rechtlichen Erwägungen die Bedeutung eines Schiedsspruches.
Die Kommission hat die Frist festzusetzen, innerhalb deren sich die Parteien zu ihren Vorschlägen zu äussern haben. Diese Frist darf indessen drei Monate nicht überschreiten.
Unter Vorbehalt entgegenstehender Verabredungen im gegenwärtigen Vertrage sind für das Vergleichsverfahren die Bestimmungen des dritten Titels des Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907⁸ zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle massgebend.
⁸ SR 0.193.212
Art. 6
Nimmt einer der vertragschliessenden Teile die Vorschläge der Vergleichskommission nicht an oder äussert er sich nicht binnen der im Berichte festgesetzten Frist, so kann jeder von ihnen verlangen, dass der Streitfall durch eine Schiedsordnung dem Ständigen Internationalen Gerichtshof⁹ unterbreitet werde.
⁹ Siehe Fussn. 2 zu Art. 1.
Art. 7
Die vertragschliessenden Teile behalten sich vor, im gemeinsamen Einverständnisse den Streitfall durch eine Schiedsordnung vor ein Schiedsgericht zu bringen, das unter den Auspizien des Ständigen Schiedshofes tagt.
Kann das Schiedsgericht innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten, nachdem die Parteien übereingekommen sind, den Streitfall vor ein Schiedsgericht zu bringen, durch Einigung zwischen ihnen nicht gebildet werden, so soll sich das Schiedsgericht aus fünf Schiedsrichtern zusammensetzen, die der Liste der Mitglieder des Ständigen Schiedshofes im Haag zu entnehmen sind. Jede Partei ernennt einen Schiedsrichter nach freier Wahl; die drei andern und unter diesen den Obmann bezeichnen die Parteien gemeinsam. Diese drei Schiedsrichter dürfen weder Angehörige der vertragschliessenden Staaten sein noch auf deren Gebiet ihren Wohnsitz haben oder in deren Dienste stehen. Hat die Ernennung der gemeinsam zu bezeichnenden Schiedsrichter oder die Bezeichnung des Obmannes binnen drei Monaten, nachdem die Parteien übereingekommen sind, den Streitfall vor ein Schiedsgericht zu bringen, nicht stattgefunden, so werden die Ernennungen gemäss Artikel 45 des Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907¹⁰ zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vorgenommen.
Unter Vorbehalt entgegenstehender Verabredungen im gegenwärtigen Vertrage sind für das Schiedsverfahren die Bestimmungen des dritten Kapitels des Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907¹¹ zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle massgebend.
¹⁰ SR 0.193.212
¹¹ SR 0.193.212
Art. 8
Die Schiedsordnung, von der die Artikel 6 und 7 sprechen, wird durch den Notenaustausch zwischen den beiden Regierungen festgesetzt.
Kommt sie nicht binnen drei Monaten zustande, nachdem eine Partei der andern ihre Absicht mitgeteilt hat, das Gerichtsverfahren einzuschlagen, oder nachdem die beiden Parteien übereingekommen sind, den Streitfall vor ein Schiedsgericht zu bringen, so fällt der Ständige Internationale Gerichtshof¹² oder das Schiedsgericht das Urteil auf Grund der Parteibegehren.
¹² Siehe Fussn. 2 zu Art. 1.
Art. 9
Während der Dauer des Vergleichs‑, Gerichts‑ oder Schiedsverfahrens enthalten sich die vertragschliessenden Parteien jeglicher Massnahme, die eine nachteilige Rückwirkung auf die Annahme der Vorschläge der Vergleichskommission oder auf die Erfüllung des Urteils des Ständigen Internationalen Gerichtshofes¹³ oder des Spruches des Schiedsgerichts haben könnte.
¹³ Siehe Fussn. 2 zu Art. 1.
Art. 10
Etwaige Anstände über die Erfüllung eines Gerichtsurteils oder Schiedsspruches oder, unter Vorbehalt der Bestimmungen des zweiten und dritten Absatzes des Artikels 1 über die Auslegung des gegenwärtigen Vertrages, können auf Begehren einer einzigen Partei dem Ständigen Internationalen Gerichtshof¹⁴ unterbreitet werden.
¹⁴ Siehe Fussn. 2 zu Art. 1.
Art. 11
Die Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages finden keine Anwendung auf Streitigkeiten, die vor dem Austausche der Ratifikationsurkunden etwa entstehen sollten, auch wenn sie mit den derzeitigen Verträgen zwischen den beiden vertragschliessenden Teilen im Zusammenhange stehen. Es herrscht indessen Einverständnis darüber, dass die Streitigkeiten aus diesen Verträgen vom Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages an den in ihm vorgesehenen Bestimmungen unterworfen sein sollen.
Art. 12
Der gegenwärtige Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Bern ausgetauscht werden.
Der Vertrag gilt für die Dauer von fünf Jahren vom Austausche der Ratifikationsurkunden an. Wird er nicht sechs Monate vor Ablauf dieser Frist gekündigt, so bleibt er weiter in Kraft bis zum Ablauf einer Frist von sechs Monaten vom Tage an, wo eine Partei der andern ihre Absicht kund gibt, der Wirkung des Vertrages ein Ende zu setzen.

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die eingangs genannten Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag in doppelter Urschrift unterzeichnet und ihm ihr Siegel beigedrückt.
Ausgefertigt in Angora, am neunten Dezember eintausendneunhundertundachtundzwanzig.

Henri Martin

A. Chevki Veli

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