Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Uni... (0.251.268.1)
CH - Schweizer Bundesrecht

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union über die Zusammenarbeit bei der Anwendung ihres Wettbewerbsrechts

Abgeschlossen am 17. Mai 2013 Von der Bundesversammlung genehmigt am 20. Juni 2014¹ In Kraft getreten durch Notenaustausch am 1. Dezember 2014 (Stand am 1. Dezember 2014) ¹ Art. 1 Abs. 1 des BB vom 20. Juni 2014 ( AS 2014 3711 )
Die Schweizerische Eidgenossenschaft,
im Folgenden «Schweiz»,
einerseits
und
die Europäische Union,
im Folgenden «Union»,
andererseits,
im Folgenden «Vertragsparteien»,
in Anbetracht der engen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Union und in der Erkenntnis, dass die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen zur Verbesserung und zum Ausbau ihrer Beziehungen beitragen wird,
in dem Bewusstsein, dass die richtige und wirksame Durchsetzung des Wettbewerbsrechts für die Leistungsfähigkeit ihrer Märkte sowie für den wirtschaftlichen Wohlstand ihrer Verbraucher und den Handel miteinander von Bedeutung ist,
unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Systeme der Schweiz und der Union für die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts auf denselben Grundsätzen beruhen und vergleichbare Vorschriften enthalten,
in Anbetracht der am 27. und 28. Juli 1995 angenommenen überarbeiteten Empfehlung des Rates der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der den internationalen Handel beeinträchtigenden wettbewerbsbeschränkenden Praktiken,
in der Erkenntnis, dass Zusammenarbeit und Koordinierung, einschliesslich des Informationsaustauschs und insbesondere der Übermittlung von Informationen, die die Vertragsparteien in ihren Untersuchungsverfahren erlangt haben, zur wirksameren Durchsetzung des Wettbewerbsrechts beider Vertragsparteien beitragen werden,
sind wie folgt übereingekommen:
Art. 1 Zweck
Der Zweck dieses Abkommens besteht darin, durch Zusammenarbeit und Koordinierung einschliesslich des Informationsaustauschs zwischen den Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien zur wirksamen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Vertragsparteien beizutragen und die Möglichkeit von Konflikten zwischen den Vertragsparteien in allen Angelegenheiten, die die Anwendung ihres Wettbewerbsrechts betreffen, auszuschliessen oder zu verringern.
Art. 2 Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieses Abkommens bezeichnet der Ausdruck:
1. «Wettbewerbsbehörde» und «Wettbewerbsbehörden» der Vertragsparteien: a) im Falle der Union die Europäische Kommission hinsichtlich ihrer Befugnisse nach dem Wettbewerbsrecht der Union, und
b) im Falle der Schweiz die Wettbewerbskommission einschliesslich ihres Sekretariats;
2. «zuständige Behörde eines Mitgliedstaats» die für die Anwendung des Wettbewerbsrechts zuständige Behörde jedes Mitgliedstaats der Union. Bei Unterzeichnung dieses Abkommens wird die Union der Schweiz eine Liste dieser Behörden notifizieren. Bei jeder Änderung wird die Europäische Kommission der Wettbewerbsbehörde der Schweiz eine aktualisierte Liste notifizieren;
3. «Wettbewerbsrecht»: a) im Falle der Union die Artikel 101, 102 und 105 des Vertrags über die  Arbeitsweise der Europäischen Union, die Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (im Folgenden «Verordnung (EG) Nr. 139/2004»), die Artikel 53 und 54 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum² (im Folgenden «EWR-Abkommen»), soweit sie in Verbindung mit den Artikeln 101 und 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union angewandt werden, und die dazu erlassenen Durchführungsverordnungen und sämtlichen Änderungen, und
b) im Falle der Schweiz das Kartellgesetz vom 6. Oktober 1995³ über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (im Folgenden «KG») und die dazu erlassenen Durchführungsverordnungen und sämtlichen Änderungen;
4. «wettbewerbswidrige Verhaltensweisen» Verhaltensweisen, gegen die die Wettbewerbsbehörden nach dem Wettbewerbsrecht einer der Vertragspar­teien oder beider Vertragsparteien ein Verbot, Sanktionen oder sonstige Abhilfemassnahmen verhängen können;
5. «Durchsetzungsmassnahmen» jede Anwendung des Wettbewerbsrechts im Rahmen von Untersuchungen oder Verfahren, die von der Wettbewerbs­behörde einer Vertragspartei durchgeführt werden;
6. «im Untersuchungsverfahren erlangte Informationen» Informationen, die von einer Vertragspartei in Ausübung ihrer Untersuchungsbefugnisse erlangt oder einer Vertragspartei aufgrund einer rechtlichen Verpflichtung übermittelt wurden: a) im Falle der Union sind dies Informationen, die durch Auskunftsverlangen nach Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln⁴ (im Folgenden «Verordnung (EG) Nr. 1/2003»), Befragungen nach Artikel 19 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 und Nachprüfungen durch die Europäische Kommission oder im Namen der Europäischen Kommission nach Artikeln 20, 21 oder 22 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 erlangt wurden, oder Informationen, die in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 gewonnen wurden,
b) im Falle der Schweiz sind dies Informationen, die durch Auskunftsverlangen nach Artikel 40 KG, Beweisaussagen nach Artikel 42 Absatz 1 KG und Durchsuchungen durch die Wettbewerbsbehörden nach Artikel 42 Absatz 2 KG erlangt wurden, oder Informationen, die in Anwendung der Verordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen vom 17. Juni 1996 gewonnen wurden;
7. «im Kronzeugenverfahren erlangte Informationen»: a) im Falle der Union Informationen, die nach der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermässigung von Geldbussen in Kartellsachen erlangt wurden, und
b) im Falle der Schweiz Informationen, die nach Artikel 49 a Absatz 2 KG und den Artikeln 8–14 der Verordnung vom 12. März 2004⁵ über die Sanktionen bei unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen erlangt wurden;
8. «im Vergleichsverfahren erlangte Informationen»: a) im Falle der Union Informationen, die nach Artikel 10 a der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG‑Vertrag durch die Kommission⁶ (im Folgenden «Verordnung (EG) Nr. 773/2004») erlangt wurden, und
b) im Falle der Schweiz Informationen, die nach Artikel 29 KG erlangt wurden.
² BBl 1992 IV 1
³ SR 251
⁴ Gemäss Artikel 5 des Vertrags von Lissabon wurden die Artikel 81 und 82 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zu Artikeln 101 und 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union umnummeriert.
⁵ SR 251.5
⁶ Gemäss Artikel 5 des Vertrags von Lissabon wurden die Artikel 81 und 82 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zu Artikeln 101 und 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union umnummeriert.
Art. 3 Notifikationen
(1)  Die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei notifiziert der Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei schriftlich Durchsetzungsmassnahmen, die ihres Erachtens wichtige Interessen der anderen Vertragspartei berühren könnten. Die Notifikationen nach diesem Artikel können auf elektronischem Wege vorgenommen werden.
(2)  Zu den Durchsetzungsmassnahmen, die wichtige Interessen der anderen Vertragspartei berühren könnten, gehören insbesondere:
a) Durchsetzungsmassnahmen, die wettbewerbswidrige Verhaltensweisen betreffen, bei denen es sich nicht um Zusammenschlüsse handelt und die sich gegen ein Unternehmen richten, das nach den im Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei geltenden Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften eingetragen ist oder geführt wird;
b) Durchsetzungsmassnahmen, die Verhaltensweisen betreffen, von denen angenommen wird, dass sie von dieser Vertragspartei gefördert, verlangt oder gebilligt wurden;
c) Durchsetzungsmassnahmen, die einen Zusammenschluss betreffen, bei dem eines oder mehrere der an dem Rechtsgeschäft beteiligten Unternehmen nach den im Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei geltenden Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften eingetragen ist oder geführt wird;
d) Durchsetzungsmassnahmen, die einen Zusammenschluss betreffen, bei dem ein Unternehmen, das eine oder mehrere der an dem Rechtsgeschäft beteiligten Parteien kontrolliert, nach den im Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei geltenden Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften eingetragen ist oder geführt wird;
e) Durchsetzungsmassnahmen, die sich gegen wettbewerbswidrige Verhaltens­weisen mit Ausnahme von Zusammenschlüssen richten und die zu einem wesentlichen Teil auch im Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei stattfinden beziehungsweise stattgefunden haben; und
f) Durchsetzungsmassnahmen, die Abhilfemassnahmen umfassen, durch die ein Verhalten im Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei ausdrücklich vorgeschrieben oder verboten wird oder die bindende Verpflichtungen für die Unternehmen in diesem Hoheitsgebiet enthalten.
(3)  In Bezug auf Zusammenschlüsse ist eine Notifikation nach Absatz 1 vorzunehmen:
a) im Falle der Union, wenn ein Verfahren nach Artikel 6 Absatz 1 Buch­stabe c der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 eingeleitet wird; und
b) im Falle der Schweiz, wenn ein Verfahren nach Artikel 33 KG⁷ eingeleitet wird.
(4)  In Bezug auf andere Fälle als Zusammenschlüsse sind Notifikationen nach Absatz 1 vorzunehmen:
a) im Falle der Union, wenn ein in Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 genanntes Verfahren eingeleitet wird; und
b) im Falle der Schweiz, wenn ein Verfahren nach Artikel 27 KG eingeleitet wird.
(5)  In den Notifikationen sind insbesondere die Namen der von der Untersuchung betroffenen Unternehmen, die untersuchten Verhaltensweisen und die Märkte, auf die sie sich beziehen, die einschlägigen Rechtsvorschriften und das Datum der Durchsetzungsmassnahmen anzugeben.
⁷ SR 251
Art. 4 Koordinierung von Durchsetzungsmassnahmen
(1)  Führen die Wettbewerbsbehörden beider Vertragsparteien Durchsetzungsmassnahmen in Bezug auf miteinander verbundene Vorgänge durch, so können sie ihre Durchsetzungsmassnahmen koordinieren. Insbesondere können sie ihre Nachprüfungen beziehungsweise Durchsuchungen zeitlich aufeinander abstimmen.
(2)  Bei der Prüfung, ob bestimmte Durchsetzungsmassnahmen koordiniert werden können, berücksichtigen die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien insbeson­dere die folgenden Gesichtspunkte:
a) die Auswirkungen einer solchen Koordinierung auf die Fähigkeit der Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien, die mit ihren Durchsetzungsmassnahmen verfolgten Ziele zu erreichen;
b) die relativen Fähigkeiten der Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien, die zur Durchführung der Durchsetzungsmassnahmen erforderlichen Informationen zu erlangen;
c) die Möglichkeit, widerstreitende Verpflichtungen und unnötige Belastungen für die Unternehmen, gegen die sich die Durchsetzungsmassnahmen richten, zu vermeiden; und
d) die Möglichkeit einer effizienteren Nutzung ihrer Ressourcen.
(3)  Vorbehaltlich der ordnungsgemässen Unterrichtung der Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei kann die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei die  Koordinierung der Durchsetzungsmassnahmen jederzeit einschränken und bestimmte Durchsetzungsmassnahmen alleine durchführen.
Art. 5 Vermeidung von Konflikten (Negative Comity)
(1)  Die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei trägt den wichtigen Interessen der anderen Vertragspartei in allen Phasen ihrer Durchsetzungmassnahmen sorgfältig Rechnung, einschliesslich der Beschlüsse über die Einleitung von Durchsetzungmassnahmen, den Umfang von Durchsetzungsmassnahmen und die Art der im Einzelfall angestrebten Sanktionen oder sonstigen Abhilfemassnahmen.
(2)  Plant die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei eine bestimmte Durchsetzungsmassnahme, die wichtige Interessen der anderen Vertragspartei berühren könnte, so bemüht sie sich unbeschadet ihres uneingeschränkten Ermessens nach besten Kräften:
a) die Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei rechtzeitig über wich­tige Entwicklungen, die die Interessen dieser Vertragspartei betreffen, zu unterrichten;
b) der Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; und
c) die Stellungnahme der Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei zu berücksichtigen, wobei die Entscheidungsfreiheit der Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien ohne Einschränkungen gewahrt wird.
Die Anwendung dieses Absatzes lässt die Verpflichtungen der Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien nach Artikel 3 Absätze 3 und 4 unberührt.
(3)  Ist die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei der Auffassung, dass ihre Durchsetzungsmassnahmen wichtige Interessen der anderen Vertragspartei beeinträchtigen könnten, so bemüht sie sich nach besten Kräften, diesen Interessen in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Bei dem Bemühen um ein solches Entgegenkommen sollte die Wettbewerbsbehörde der betreffenden Vertragspartei zusätzlich zu allen anderen Faktoren, die unter den gegebenen Umständen von Belang sein könnten, die folgenden Gesichtspunkte berücksichtigen:
a) die relative Bedeutung der tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen auf wichtige Interessen der Vertragspartei, die die Durchsetzungsmassnahmen trifft, im Vergleich zu den Auswirkungen auf wichtige Interessen der anderen Vertragspartei;
b) die relative Bedeutung der Verhaltensweisen oder Rechtsgeschäfte im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei im Vergleich zu den Verhaltensweisen oder Rechtsgeschäften im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei für die wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen;
c) das Ausmass, in dem Durchsetzungsmassnahmen der anderen Vertragspartei gegen dieselben Unternehmen betroffen wären; und
d) das Ausmass, in dem die Unternehmen widersprüchlichen Anforderungen der beiden Vertragsparteien unterliegen würden.
Art. 6 Positive Comity
(1)  Ist die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei der Auffassung, dass wettbewerbswidrige Verhaltensweisen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei wichtige Interessen ihrer Vertragspartei beeinträchtigen könnten, so kann sie unter Berücksichtigung der Bedeutung der Vermeidung von Zuständigkeitskonflikten und dessen, dass die Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei möglicherweise wirksamer gegen die betreffenden wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen vorgehen könnte, die Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei ersuchen, geeignete Durchsetzungsmassnahmen einzuleiten oder auszuweiten.
(2)  In dem Ersuchen sind die Art der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen und ihre tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen auf die wichtigen Interessen der Vertragspartei der ersuchenden Wettbewerbsbehörde so genau wie möglich zu beschreiben und zusätzliche Informationen und sonstige Formen der Zusammenarbeit anzubieten, die die ersuchende Wettbewerbsbehörde anbieten kann.
(3)  Die ersuchte Wettbewerbsbehörde prüft sorgfältig, ob in Bezug auf die in dem Ersuchen angegebenen wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen Durchsetzungsmass­nahmen eingeleitet oder laufende Durchsetzungsmassnahmen ausgeweitet werden sollen. Die ersuchte Wettbewerbsbehörde unterrichtet die ersuchende Wettbewerbsbehörde so bald wie praktisch möglich über ihre Entscheidung. Werden Durch­setzungsmassnahmen eingeleitet oder ausgeweitet, so unterrichtet die ersuchte Wett­bewerbsbehörde die ersuchende Wettbewerbsbehörde über das Ergebnis der Massnahmen und, soweit möglich, über in der Zwischenzeit eingetretene wichtige Entwicklungen.
(4)  Dieser Artikel schränkt weder das Ermessen der ersuchten Wettbewerbsbehörde ein, nach ihrem Wettbewerbsrecht und ihrer Durchsetzungspraxis Durchsetzungsmassnahmen in Bezug auf die in dem Ersuchen angegebenen wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zu treffen, noch steht er der Rücknahme des Ersuchens durch die ersuchende Wettbewerbsbehörde entgegen.
Art. 7 Informationsaustausch
(1)  Zur Erreichung des in Artikel 1 festgelegten Zwecks dieses Abkommens können die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien nach Massgabe dieses Artikels und der Artikel 8, 9 und 10 Auffassungen und Informationen über die Anwendung des jeweiligen Wettbewerbsrechts austauschen.
(2)  Die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien können Informationen, einschliesslich im Untersuchungsverfahren erlangter Informationen, erörtern, soweit dies für die nach diesem Abkommen vorgesehene Zusammenarbeit und Koordinierung erforderlich ist.
(3)  Die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien können einander ihnen vorliegende Informationen übermitteln, nachdem das Unternehmen, das die Informationen zur Verfügung gestellt hat, ausdrücklich schriftlich zugestimmt hat. Enthalten diese Informationen personenbezogene Daten, so dürfen diese personenbezogenen Daten nur übermittelt werden, wenn die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien dieselben oder miteinander verbundene Verhaltensweisen oder Rechtsgeschäfte untersuchen. Im Übrigen gilt Artikel 9 Absatz 3.
(4)  Fehlt die in Absatz 3 genannte Zustimmung, so kann die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei im Untersuchungsverfahren erlangte Informationen, die ihr bereits vorliegen, der Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei auf Ersuchen unter den folgenden Voraussetzungen zur Verwendung als Beweismittel übermitteln:
a) die im Untersuchungsverfahren erlangten Informationen dürfen nur übermittelt werden, wenn beide Wettbewerbsbehörden dieselben oder miteinander verbundene Verhaltensweisen oder Rechtsgeschäfte untersuchen;
b) das Ersuchen um Übermittlung dieser Informationen ist schriftlich zu stellen und muss eine allgemeine Beschreibung des Gegenstands und der Art der Untersuchungen oder Verfahren, auf die sich das Ersuchen bezieht, und die einschlägigen Rechtsvorschriften enthalten; ferner sind darin die zum Zeitpunkt des Ersuchens bekannten Unternehmen anzugeben, gegen die sich die Untersuchung oder das Verfahren richtet; und
c) die ersuchte Wettbewerbsbehörde bestimmt nach Rücksprache mit der ersuchenden Wettbewerbsbehörde, welche in ihrem Besitz befindlichen Informationen von Belang sind und übermittelt werden können.
(5)  Eine Wettbewerbsbehörde ist nicht verpflichtet, im Untersuchungsverfahren erlangte Informationen zu erörtern oder der anderen Wettbewerbsbehörde zu übermitteln, insbesondere wenn dies mit ihren wichtigen Interessen unvereinbar wäre oder eine unangemessene Belastung darstellen würde.
(6)  Die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien erörtern und übermitteln einander keine Informationen, die sie im Rahmen ihrer jeweiligen Kronzeugen- oder Vergleichsverfahren erlangt haben, es sei denn, das Unternehmen, das die Informationen zur Verfügung gestellt hat, hat ausdrücklich schriftlich zugestimmt.
(7)  Die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien erörtern, erbitten und übermitteln einander keine im Untersuchungsverfahren erlangten Informationen, wenn die Verwendung dieser Informationen die in den jeweiligen Rechtsvorschriften der Vertragsparteien garantierten und auf ihre Durchsetzungsmassnahmen anwendbaren Verfahrensrechte und ‑privilegien einschliesslich des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen und des Schutzes des Anwaltsgeheimnisses verletzen würde.
(8)  Stellt die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei fest, dass nach diesem Artikel übermittelte Unterlagen unrichtige Informationen enthalten, so unterrichtet sie unverzüglich die Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei, die diese Informationen berichtigt oder entfernt.
Art. 8 Verwendung von Informationen
(1)  Informationen, die die Wettbewerbsbehörde der einen Vertragspartei nach diesem Abkommen mit der Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei erörtert oder ihr übermittelt, dürfen nur für den Zweck der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts dieser Vertragspartei durch deren Wettbewerbsbehörde verwendet werden.
(2)  Im Untersuchungsverfahren erlangte Informationen, die nach diesem Abkommen mit der Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei erörtert oder ihr übermittelt werden, dürfen von der empfangenden Wettbewerbsbehörde nur für die Durchsetzung ihres Wettbewerbsrechts hinsichtlich derselben oder miteinander verbundener Verhaltensweisen oder Rechtsgeschäfte verwendet werden.
(3)  Nach Artikel 7 Absatz 4 übermittelte Informationen dürfen von der empfangenden Wettbewerbsbehörde nur für den in dem Ersuchen festgelegten Zweck verwendet werden.
(4)  Nach diesem Abkommen erörterte oder übermittelte Informationen dürfen nicht für die Verhängung von Sanktionen gegen natürliche Personen verwendet werden.
(5)  Die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei kann verlangen, dass nach diesem Abkommen übermittelte Informationen zu den von ihr festgelegten Bedingungen verwendet werden. Ohne vorherige Zustimmung dieser Wettbewerbsbehörde darf die empfangende Wettbewerbsbehörde diese Informationen nicht in einer den Bedingungen zuwiderlaufenden Weise verwenden.
Art. 9 Schutz und Vertraulichkeit der Informationen
(1)  Die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien behandeln die Tatsache, dass ein Ersuchen gestellt worden oder eingegangen ist, vertraulich. Die nach diesem Abkommen erlangten Informationen werden von der empfangenden Wettbewerbsbehörde nach ihren jeweiligen Rechtsvorschriften vertraulich behandelt. Insbeson­dere geben beide Wettbewerbsbehörden Ersuchen Dritter oder anderer öffentlicher Stellen um Offenlegung der erhaltenen Informationen nicht statt. Dies steht einer Offenlegung dieser Informationen für die folgenden Zwecke nicht entgegen:
a) Erwirkung einer gerichtlichen Entscheidung im Zusammenhang mit der behördlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts einer Vertragspartei;
b) Offenlegung gegenüber Unternehmen, gegen die sich eine Untersuchung oder ein Verfahren nach dem Wettbewerbsrecht der Vertragsparteien richtet und gegen die die Informationen verwendet werden könnten, sofern diese Offenlegung nach dem Recht der Vertragspartei, die die Informationen erhält, vorgeschrieben ist;
c) Offenlegung vor Gericht in Rechtsbehelfsverfahren;
d) Offenlegung, sofern und soweit dies für die Ausübung des Rechts auf Zugang zu Dokumenten nach den Rechtsvorschriften einer Vertragspartei unerlässlich ist.
In diesen Fällen gewährleistet die empfangende Wettbewerbsbehörde, dass der Schutz von Geschäftsgeheimnissen in vollem Umfang gewahrt bleibt.
(2)  Die Wettbewerbsbehörde einer Vertragspartei unterrichtet unverzüglich die Wettbewerbsbehörde der anderen Vertragspartei, wenn sie feststellt, dass trotz aller Bemühungen Informationen versehentlich in einer diesem Artikel zuwiderlaufenden Weise verwendet oder offengelegt wurden. Die Vertragsparteien beraten dann umgehend über Schritte, um den sich aus dieser Verwendung oder Offenlegung ergebenden Schaden so gering wie möglich zu halten und die Wiederholung einer solchen Situation auszuschliessen.
(3)  Die Vertragsparteien gewährleisten den Schutz personenbezogener Daten nach ihren jeweiligen Rechtsvorschriften.
Art. 10 Unterrichtung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und der EFTA-Überwachungsbehörde
(1)  Auf der Grundlage des Wettbewerbsrechts der Union oder anderer internationaler Bestimmungen über Wettbewerb:
a) kann die Europäische Kommission die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats unterrichten, dessen wichtige Interessen durch die ihr von der Wettbewerbsbehörde der Schweiz nach Artikel 3 übersandten Notifikationen berührt werden;
b) kann die Europäische Kommission die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats über das Bestehen einer Zusammenarbeit bei Durchsetzungsmassnahmen oder eine Koordinierung von Durchsetzungsmassnahmen unterrichten;
c) kann die Europäische Kommission den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten Informationen, die von der Wettbewerbsbehörde der Schweiz nach Artikel 7 dieses Abkommens übermittelt wurden, nur zur Erfüllung ihrer Informationspflichten nach den Artikeln 11 und 14 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 und Artikel 19 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 offenlegen; und
d) kann die Europäische Kommission der EFTA-Überwachungsbehörde Informationen, die von der Wettbewerbsbehörde der Schweiz nach Artikel 7 dieses Abkommens übermittelt wurden, nur zur Erfüllung ihrer Informationspflichten nach den Artikeln 6 und 7 des Protokolls 23 (Zusammenarbeit zwischen den Überwachungsorganen) zum EWR-Abkommen offenlegen.
(2)  Informationen, ausgenommen öffentlich zugängliche Informationen, die nach Absatz 1 den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats und der EFTA-Überwa­chungsbehörde übermittelt werden, dürfen für keine anderen Zwecke als die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union durch die Europäische Kommission verwendet und nicht offengelegt werden.
Art. 11 Konsultationen
(1)  Die Vertragsparteien konsultieren einander auf Ersuchen einer Vertragspartei in allen Fragen, die sich aus der Durchführung dieses Abkommens ergeben können. Auf Ersuchen einer Vertragspartei erwägen die Vertragsparteien eine Überprüfung des Funktionierens dieses Abkommens und prüfen die Möglichkeit einer Weiterentwicklung ihrer Zusammenarbeit.
(2)  Die Vertragsparteien unterrichten einander so bald wie möglich über jede Änderung ihres Wettbewerbsrechts sowie über jede Änderung anderer Gesetze und sonstiger Rechtsvorschriften und über jede Änderung der Durchsetzungspraxis ihrer Wettbewerbsbehörden, die das Funktionieren dieses Abkommens berühren könnten. Auf Ersuchen einer Vertragspartei halten die Vertragsparteien Konsultationen ab, um die spezifischen Auswirkungen einer solchen Änderung auf dieses Abkommen zu bewerten und insbesondere zu prüfen, ob dieses Abkommen nach Artikel 14 Absatz 2 geändert werden sollte.
(3)  Die Wettbewerbsbehörden der Vertragsparteien treten auf Ersuchen einer der Wettbewerbsbehörden auf geeigneter Ebene zusammen. Bei diesen Zusammenkünften können sie:
a) einander über ihre laufenden Durchsetzungsmassnahmen und Prioritäten in Bezug auf das Wettbewerbsrecht der Vertragsparteien unterrichten;
b) Auffassungen über Wirtschaftszweige von gemeinsamem Interesse austauschen;
c) wettbewerbspolitische Fragen von beiderseitigem Interesse erörtern; und
d) sonstige Angelegenheiten von beiderseitigem Interesse erörtern, die mit der Anwendung des Wettbewerbsrechts jeder der Vertragsparteien in Zusammenhang stehen.
Art. 12 Mitteilungen
(1)  Sofern von den Vertragsparteien oder ihren Wettbewerbsbehörden nichts anderes vereinbart wird, sind Mitteilungen nach diesem Abkommen in englischer Sprache abzufassen.
(2)  Die Wettbewerbsbehörde jeder Vertragspartei benennt eine Kontaktstelle, um Mitteilungen zwischen den Vertragsparteien zu Angelegenheiten, die mit der Durchführung dieses Abkommens in Zusammenhang stehen, zu erleichtern.
Art. 13 Geltendes Recht
Dieses Abkommen ist nicht so auszulegen, dass es die Formulierung oder Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Vertragsparteien berührt.
Art. 14 Inkrafttreten, Änderung und Kündigung
(1)  Dieses Abkommen wird von den Vertragsparteien nach ihren eigenen internen Verfahren genehmigt. Die Vertragsparteien notifizieren einander den Abschluss der jeweiligen Verfahren. Dieses Abkommen tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach dem Datum der letzten Genehmigungsnotifikation in Kraft.
(2)  Die Vertragsparteien können Änderungen dieses Abkommens vereinbaren. Sofern nichts anderes vereinbart wird, tritt eine solche Änderung nach den in Absatz 1 festgelegten Verfahren in Kraft.
(3)  Jede Vertragspartei kann dieses Abkommen jederzeit kündigen, indem sie dies der anderen schriftlich auf diplomatischem Wege notifiziert. In diesem Fall tritt dieses Abkommen sechs (6) Monate nach dem Tag des Eingangs einer solchen Notifikation ausser Kraft.

Unterschriften

Zu Urkund dessen haben die durch die jeweilige Vertragspartei ordnungsgemäss bevollmächtigten Unterzeichneten ihre Unterschrift unter dieses Abkommen gesetzt.
Geschehen zu Brüssel am 17. Mai 2013 in zwei Urschriften in deutscher, französischer, italienischer, bulgarischer, dänischer, englischer, estnischer, finnischer, griechischer, lettischer, litauischer, maltesischer, niederländischer, polnischer, portugiesischer, rumänischer, schwedischer, slowakischer, slowenischer, spanischer, tschechischer und ungarischer Sprache.

Für die
Schweizerische Eidgenossenschaft:

Für die
Europäische Union:

Johann N. Schneider-Ammann

J. Almunia
Tom Hanney

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