Verordnung des UVEK über die Gefährdungsannahmen und die Bewertung des Schutzes gegen Störfälle in Kernanlagen
vom 17. Juni 2009 (Stand am 1. Februar 2019)
Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK),
gestützt auf Artikel 8 Absatz 6 der Kernenergieverordnung vom 10. Dezember 2004¹,
verordnet:
¹ SR 732.11
1. Kapitel: Gegenstand
Art. 1 Begriffe
In dieser Verordnung bedeuten:
a.²
Auslegungsstörfall: Störfall, bei dem durch auslegungsgemässes Verhalten der Sicherheitssysteme keine unzulässige Freisetzung radioaktiver Stoffe und keine unzulässige Bestrahlung von Personen auftreten. Die Gesamtheit der Auslegungsstörfälle kann in folgende Kategorien eingeteilt werden: 1. Störfälle der Kategorie 1: nicht durch Naturereignisse ausgelöste Störfälle mit einer Häufigkeit kleiner gleich 10-¹ und grösser als 10-² pro Jahr,
2. Störfälle der Kategorie 2: nicht durch Naturereignisse ausgelöste Störfälle mit einer Häufigkeit kleiner gleich 10-² und grösser als 10-⁴ pro Jahr sowie durch Naturereignisse mit einer Häufigkeit von 10-³ pro Jahr ausgelöste Störfälle,
3. Störfälle der Kategorie 3: nicht durch Naturereignisse ausgelöste Störfälle mit einer Häufigkeit kleiner gleich 10-⁴ und grösser als 10-⁶ pro Jahr sowie durch Naturereignisse mit einer Häufigkeit von 10-⁴ pro Jahr ausgelöste Störfälle;
b.
Auslegungsüberschreitender Störfall: Störfall, welcher in Bezug auf das auslösende Ereignis oder die Art und Anzahl zusätzlicher Fehler den Rahmen der Auslegung durchbricht; dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass radioaktive Stoffe in gefährdendem Umfang freigesetzt werden.
c.
Konzept der gestaffelten Sicherheitsvorsorge: Sicherheitskonzept, das auf mehreren Ebenen aufeinander folgende und voneinander unabhängige Schutzmassnahmen umfasst, die bei Abweichungen vom Normalbetrieb unzulässige radiologische Auswirkungen in der Umgebung verhindern und Freisetzungen in gefährdendem Umfang lindern.
d.
Grundlegende Schutzziele: Die grundlegenden Schutzziele zur Gewährleistung der nuklearen Sicherheit sind: 1. die Kontrolle der Reaktivität,
2. die Kühlung der Kernmaterialien und der radioaktiven Abfälle,
3. der Einschluss der radioaktiven Stoffe,
4. die Begrenzung der Strahlenexposition.
e.
Störfallanalyse: Untersuchung des Verhaltens der Kernanlage bei Störfällen mit Hilfe analytischer Methoden. Die Störfallanalyse umfasst eine deterministische und eine probabilistische Untersuchung von Störfallabläufen. Anhand der deterministischen Störfallanalyse ist nachzuweisen, dass ein abdeckendes Spektrum von Störfällen durch die getroffenen Schutzmassnahmen wirksam beherrscht wird und damit die grundlegenden Schutzziele eingehalten werden. Ergänzend hierzu ist anhand der probabilistischen Sicherheitsanalyse nachzuweisen, dass die gegen Störfälle getroffenen Schutzmassnahmen ausreichend zuverlässig und ausgewogen sind.
f.
Übergreifende Einwirkungen: Einwirkungen mit Ursprung innerhalb oder ausserhalb der Anlage, die aufgrund eines grossen räumlichen Einwirkungsbereichs Schäden an mehreren Bauwerken oder Anlageteilen verursachen können.
² Fassung gemäss Ziff. II der V des UVEK vom 7. Dez. 2018, in Kraft seit 1. Febr. 2019 ( AS 2019 187 ).
Art. 2 Einhaltung der grundlegenden Schutzziele
¹ Der Gesuchsteller für eine Bau- oder Betriebsbewilligung (Gesuchsteller) oder der Inhaber einer Betriebsbewilligung für eine Kernanlage (Bewilligungsinhaber) hat die Einhaltung der grundlegenden Schutzziele durch eine deterministische Störfallanalyse nachzuweisen.
² Beim Nachweis des ausreichenden Schutzes gegen Störfälle sind mindestens die in den Artikeln 3–6 aufgeführten Gefährdungsannahmen zu berücksichtigen.
³ Die grundlegenden Schutzziele sind in jedem Fall eingehalten, falls die in den Artikeln 7 und 8 aufgeführten Kriterien erfüllt sind, für Kernkraftwerke zusätzlich die in den Artikeln 9–11 aufgeführten technischen Kriterien.
⁴ Die Aufsichtsbehörde wird beauftragt, die Anforderungen an die deterministische Störfallanalyse in Richtlinien zu regeln.
2. Kapitel: Gefährdungsannahmen
1. Abschnitt: Gefährdungsannahmen für Kernanlagen
Art. 3 Allgemeine Gefährdungsannahmen
¹ Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat Annahmen zu treffen und zu begründen über:
a. den Umfang der Störfälle, gegen die Schutzmassnahmen zu treffen sind;
b. die Art und Höhe der bei Störfällen entstehenden Belastungen auf die Anlage;
c. die Häufigkeiten der Störfälle.
² Er hat dabei die Art und den Standort der Kernanlage zu berücksichtigen.
Art. 4 Gefährdungsannahmen für Störfälle mit Ursprung innerhalb der Anlage
¹ Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat für folgende Störfälle mit Ursprung innerhalb der Anlage mindestens die jeweils genannten Auswirkungen zu berücksichtigen und zu bewerten:
a. Reaktivitätsstörungen: Leistungsexkursionen, Bestrahlung;
b. Brand: heisse Gase, Rauch und Wärmestrahlung;
c. Überflutung: Staudruck auf Gebäude und Kurzschlüsse in elektrischen Anlagen;
d. Komponentenversagen: mechanische Einwirkungen auf Bauwerke und Anlageteile;
e. Fehlhandlungen des Personals: direkte Freisetzung radioaktiver Stoffe, Auslösung von Störfällen sowie Erschwerung der Störfallbeherrschung;
f. Fehlerhafte Handhabung von radioaktivem Material: Kontamination;
g. Versagen oder Fehlfunktion von Betriebssystemen: Auslösung von Störfällen;
h. Versagen oder Fehlfunktion von Sicherheitssystemen: Auslösung von Störfällen und Verletzung der Integrität von Barrieren;
i. Explosionen: Druckwelle, Wärmestrahlung und Brand;
j. Absturz schwerer Lasten: Beschädigung von Strukturen oder Komponenten.
² Er hat bei den Auswirkungen eine Gefährdung durch übergreifende Einwirkungen, insbesondere bei anlageinternen Bränden, Explosionen, Dampfausströmungen und Überflutungen, zu berücksichtigen und zu bewerten.
³ Er hat anzunehmen, dass sich brennbare Stoffe entzünden, sofern diese nicht besonders geschützt sind. In inertisierten Anlagenbereichen ist kein Brand zu unterstellen.
⁴ Er hat bei der Bestimmung der Gefährdung durch Überflutungen neben dem Inventar der direkt betroffenen Wasser führenden Systeme auch automatische Nachspeisemöglichkeiten zu berücksichtigen.
Art. 5 Gefährdungsannahmen für Störfälle mit Ursprung ausserhalb der Anlage
¹ Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat für folgende Störfälle mit Ursprung ausserhalb der Anlage mindestens die jeweils genannten Auswirkungen zu berücksichtigen und zu bewerten:
a. Erdbeben: Bodenerschütterungen, Bodensetzungen, Erdrutsche, Zerstörung in der Nähe befindlicher Anlagen, welche die Sicherheit der Kernanlage gefährden können und Verlust von nicht erdbebenfesten Hilfs- und Versorgungssystemen, Brand und Überflutung;
b. Überflutung: Flutwellenwirkung auf Gebäude, Eindringen von Wasser in Gebäude und Unterspülung von Gebäuden;
c. Flugzeugabsturz: durch den Absturz induzierte Erschütterung von Anlageteilen, Treibstoffbrand (inkl. Rauchentwicklung), Explosionen und Trümmerwirkung;
d. Extreme Wetterbedingungen: Verlust von nicht gegen diese Bedingungen ausgelegten Hilfs- und Versorgungssystemen sowie Druck- und Temperaturbelastung von Gebäuden;
e. Blitzschlag: Spannungseintrag in elektrische Einrichtungen;
f. Explosionen: Druck- und Hitzewelle;
g. Brand: heisse Gase, Rauch und Wärmestrahlung.
² Er hat bei den anzunehmenden Auswirkungen eine Gefährdung durch übergreifende Einwirkungen zu berücksichtigen und zu bewerten.
³ Er hat die Gefährdungen aus Störfällen, die durch Naturereignisse ausgelöst werden, insbesondere durch Erdbeben, Überflutung und extreme Wetterbedingungen, mit Hilfe einer probabilistischen Gefährdungsanalyse zu ermitteln. Hierbei sind die aus aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen gewonnenen historischen Daten sowie absehbare Veränderungen der massgebenden Einflussgrössen zu berücksichtigen und zu bewerten.
⁴ …³
⁵ Er hat für den Nachweis des ausreichenden Schutzes gegen Flugzeugabsturz den zum Zeitpunkt des Baubewilligungsgesuchs im Einsatz befindlichen militärischen oder zivilen Flugzeugtyp zu berücksichtigen, der unter realistischen Annahmen die grössten Stosslasten auf Gebäude ausübt.
³ Aufgehoben durch Ziff. II der V des UVEK vom 7. Dez. 2018, mit Wirkung seit 1. Febr. 2019 ( AS 2019 187 ).
2. Abschnitt: Zusätzliche Gefährdungsannahmen für Kernkraftwerke mit Leichtwasserreaktoren
Art. 6
¹ Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber für Kernkraftwerke mit Leichtwasserreaktoren hat für folgende Störfälle mit Ursprung innerhalb des Kernkraftwerks mindestens die jeweils genannten Auswirkungen zu berücksichtigen und zu bewerten:
a. Leckagen oder Brüche im Reaktorkühlkreislauf (Kühlmittelverlust): Unzureichende Kühlung der Brennelemente, Druck-, Temperatur- und Feuchtigkeitsaufbau, Strahl- und Reaktionskräfte, Überflutung, Freisetzung radioaktiver Stoffe und Bildung brennbarer Gase;
b. Leckagen oder Brüche im Frischdampf- und/oder Speisewassersystem innerhalb und ausserhalb des Reaktorgebäudes: Druck-, Temperatur- und Feuchtigkeitsaufbau, Strahl- und Reaktionskräfte, Überflutung und Freisetzung radioaktiver Stoffe;
c. Leckagen oder Brüche in an das Brennelementlagerbecken anschliesse n den Leitungen: Unzureichende Kühlung der Brennelemente, Überflutung, Freisetzung radioaktiver Stoffe und Bildung brennbarer Gase;
d. Brennelement-Handhabungsfehler: Beschädigung von Brennstäben, geringe Wasserüberdeckung eines Brennelements.
² Er hat die Annahmen zu Leckgrösse und -ort aufgrund der jeweiligen Auslegungs-, Fertigungs- und Instandhaltungsmassnahmen zu begründen.
3. Kapitel: Kriterien für die Bewertung des Schutzes gegen Auslegungsstörfälle
1. Abschnitt: Kriterien für Kernanlagen
Art. 7 ⁴ Radiologische Kriterien
Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat für jeden angenommenen Störfall nachzuweisen, dass:
a. die Dosiswerte nach Artikel 8 Absätze 4 und 4bis der Kernenergieverordnung vom 10. Dezember 2004⁵ und nach Artikel 125 Absatz 5 der Strahlenschutzverordnung vom 26. April 2017⁶ eingehalten werden;
b. die Strahlenexposition bei Störfällen durch Massnahmen gemäss Artikel 9 des Strahlenschutzgesetzes vom 22. März 1991⁷ begrenzt wird.
⁴ Fassung gemäss Ziff. II der V des UVEK vom 7. Dez. 2018, in Kraft seit 1. Febr. 2019 ( AS 2019 187 ).
⁵ SR 732.11
⁶ SR 814.501
⁷ SR 814.50
Art. 8 Technische Kriterien
¹ Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat für jeden angenommenen Störfall nachzuweisen, dass die zur Umsetzung des Konzepts der gestaffelten Sicherheitsvorsorge getroffenen technischen und organisatorischen Schutzmassnahmen wirksam sind.
² Er hat hierfür insbesondere aufzuzeigen, dass die benötigten Bauwerke und Anlageteile die auf sie wirkenden Störfalllasten abtragen können.
2. Abschnitt: Zusätzliche technische Kriterien für Kernkraftwerke mit Leichtwasserreaktoren
Art. 9 Störfälle der Kategorie 1
Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber für Kernkraftwerke mit Leichtwasserreaktoren hat für Störfälle der Kategorie 1 nachzuweisen, dass jederzeit:
a. die Unterkritikalität gewährleistet ist;
b. ein ausreichender Wärmeübergang von den Brennstab-Hüllrohren zum Kühlmittel gewährleistet ist;
c. die Integrität folgender Barrieren durch derartige Störfälle nicht beeinträchtigt wird: 1. Brennstab-Hüllrohre,
2. Reaktorkühlkreislauf (kein Ansprechen von Überdruckschutzeinrichtungen),
3. Primär-Containment.
Art. 10 Störfälle der Kategorie 2
Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat für Störfälle der Kategorie 2 nachzuweisen, dass jederzeit:
a. die Unterkritikalität gewährleistet ist;
b. ein ausreichender Wärmeübergang von den Brennstab-Hüllrohren zum Kühlmittel gewährleistet ist;
c. die Integrität folgender Barrieren durch derartige Störfälle nicht beeinträchtigt wird: 1. Brennstab-Hüllrohre,
2. Primär-Containment.
Art. 11 Störfälle der Kategorie 3
Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat für Störfälle der Kategorie 3 nachzuweisen, dass:
a. die Unterkritikalität höchstens kurzfristig nicht gewährleistet ist;
b. der Wärmeübergang von den Brennstab-Hüllrohren zum Kühlmittel höchstens lokal und kurzzeitig beeinträchtigt ist;
c. die Integrität mindestens einer der unter Artikel 9 Buchstabe c genannten Barrieren bei derartigen Störfällen jederzeit gewährleistet ist.
4. Kapitel: Kriterien für die Bewertung des Schutzes gegen auslegungsüberschreitende Störfälle
Art. 12
¹ Der Gesuchsteller oder der Bewilligungsinhaber hat nachzuweisen, dass:
a. die Häufigkeit eines Kernschadens für bestehende Kernkraftwerke kleiner als 10-⁴/a ist;
b. bei einer Häufigkeit eines Kernschadens zwischen 10-⁴/a und 10-⁵/a für bestehende Kernkraftwerke alle angemessenen Vorkehren getroffen wurden;
c. die Risikobeiträge auslegungsüberschreitender Störfälle ausgewogen sind;
d. die Häufigkeit von Freisetzungen radioaktiver Stoffe in gefährdendem Umfang deutlich geringer ist als die Häufigkeit eines Kernschadens.
² Er hat den Nachweis mit Hilfe einer probabilistischen Sicherheitsanalyse zu erbringen.
³ Die Aufsichtsbehörde wird beauftragt, die Anforderungen an die probabilistische Sicherheitsanalyse in Richtlinien zu regeln.
5. Kapitel: Kernanlagen in Betrieb
Art. 13
Der Bewilligungsinhaber hat bei neuen Gefährdungsannahmen oder bei Änderung der in der Baubewilligung zugrunde gelegten Gefährdungsannahmen die deterministische Störfallanalyse und die probabilistische Sicherheitsanalyse mit den neuen Annahmen durchzuführen und die Auswirkungen auf die Sicherheit der Anlage und insbesondere auf das Risiko zu bewerten.
6. Kapitel: Inkrafttreten
Art. 14
Diese Verordnung tritt am 1. August 2009 in Kraft.
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