Förderung der Kenntnisse über Ostmittel- und Osteuropa (Ostkunde)
Die Verwirklichung der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990 hat Deutschlands Rolle in Europa verändert. Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich heute aufgrund ihrer zentralen Lage vor die Aufgabe gestellt, als Mittler zwischen den Völkern das Hineinwachsen der Staaten des ehemaligen Ostblocks in ein freiheitliches Europa zu fördern. Bayern kommt dabei aufgrund seiner Geschichte, seiner Jahrhunderte alten Nachbarschaftsbeziehungen und der durch die Integration von mehr als zwei Millionen deutschen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen geprägten Zusammensetzung seiner Bevölkerung eine besondere Bedeutung zu. Der Geschichte, dem kulturellen Erbe und dem Schicksal dieses Teils seiner Bevölkerung weiß sich Bayern verpflichtet, zumal damit nicht zuletzt einem wichtigen bundesgesetzlichen Auftrag entsprochen wird.
Die tief greifenden politischen Veränderungen in den östlichen Nachbarländern in den letzten Jahren haben neue Möglichkeiten der Begegnung und Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg geschaffen. Das große Interesse an deutscher Sprache und Kultur und die Wiederbesinnung auf die Jahrhunderte lang miteinander durchlebte, von vielen gegenseitigen Verbindungen geprägte Geschichte eröffnen neue Möglichkeiten für die Pflege der zum Teil in fruchtbarem Zusammenwirken geschaffenen Kultur als gemeinsames Erbe. Ebenso große Bedeutung kommt der Kenntnis der aktuellen Gegebenheiten in unseren östlichen Nachbarländern, ihrer naturräumlichen Gliederung, ihrer Sprachen sowie ihrer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu. Den mit der Vermittlung dieser Kenntnisse verbundenen Aufgaben muss in allen Bildungseinrichtungen der angemessene Platz eingeräumt werden.
Dabei sind folgende Grundsätze zu beachten:
Die Beschäftigung mit den genannten Völkern und Kulturen setzt die Kenntnis der geographischen, geschichtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten voraus. Ziel muss die Vermittlung eines möglichst objektiven Bildes sein, das wissenschaftlich fundiert ist und durch den offenen Dialog mit den dort lebenden Menschen ergänzt wird.
Die oft einseitige nationalgeschichtliche und nationalstaatliche Betrachtungsweise eines vergangenen Zeitalters ist durch das Studium von nationenübergreifenden Prozessen und Fragen des friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens der Völker und Volksgruppen zu überwinden. Die gegenseitige kulturelle Durchdringung und Befruchtung, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, Reformbewegungen und Revolutionen sowie die ihnen zu Grunde liegenden politischen Theorien müssen ebenso beachtet werden wie die Schwierigkeiten, die die Staaten des ehemaligen Ostblocks nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialsystems und der kommunistischen Regime zu bewältigen haben.
Da sich, vor allem in Ostmitteleuropa, ein bedeutender Teil der deutschen Geschichte in vielfacher Verflechtung mit den im Osten lebenden Völkern und Volksgruppen vollzogen hat, gehört es zu einem ausgewogenen Geschichtsbewusstsein, Rolle und Schicksal der Deutschen in diesen Räumen im Unterricht zu berücksichtigen. Die Deutschen insgesamt sollen sich der Tatsache bewusst sein, dass die früheren deutschen Staatsgebiete und weitere Siedlungsräume im Osten für Teile ihres Volkes Jahrhunderte lang Heimat waren, aus der sie vertrieben worden sind. Ihre Geschichte und Kultur gehören zum Erbe aller Deutschen.
Ungeachtet der Veränderungen nach 1945 leben noch heute Deutsche in ihren östlichen Heimatgebieten. Als nationalen Minderheiten kommt ihnen neben den Flüchtlingen und den Vertriebenen eine besondere Brückenfunktion im Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn zu. Dasselbe gilt auch für diejenigen, die als Aussiedler unter uns leben. Die Vermittlung von Kenntnissen über ihr Schicksal soll auch dazu beitragen, die Integration dieser Bevölkerungsgruppe zu erleichtern.
Gemäß den mit Polen, der damaligen Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und der Russischen Föderation geschlossenen Verträgen sowie der „Charta für ein neues Europa “ der 34 KSZE-Staaten ist der schöpferische Beitrag aller Völker zum gemeinsamen kulturellen Erbe zu pflegen, um damit das Zusammenwachsen Europas zu fördern.
Der Bedeutung des europäischen Ostens und seiner Völker für die Bundesrepublik Deutschland entspricht es, das Angebot an Unterricht in slawischen und anderen Sprachen östlicher Nachbarvölker zu fördern.
Für die Bildungsarbeit bleiben die Ergebnisse objektiver wissenschaftlicher Forschung an Universitäten oder entsprechenden Instituten die unentbehrliche Grundlage.
Die Behandlung ostkundlicher Stoffgebiete erfolgt als fachübergreifendes Prinzip durch Eingliederung in den Erdkunde-, Geschichts- und Sozialkundeunterricht, den Unterricht in Wirtschafts- und Rechtslehre, den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht, die Kunsterziehung, den Musikunterricht sowie in geeigneten schulischen Veranstaltungen. Im Geschichts- und Sozialkundeunterricht ist über die Deportation, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten hinaus das weltweite Problem der Vertreibung zu behandeln. Für eine friedvolle Entwicklung, nicht nur im europäischen Raum, ist die Kenntnis der Rechtsgrundlagen eines gedeihlichen Zusammenlebens von Völkern und Volksgruppen ein wesentlicher Bestandteil dieser Bildungsaufgabe.
Aus den vorgenannten Grundsätzen ergibt sich ein entsprechender Bildungsauftrag an die Aus- und Weiterbildung der Lehrer aller Schularten sowie an außerschulische Bildungsträger, d.h. an Museen, Bibliotheken, Archive und an Einrichtungen der Jugend- wie Erwachsenenbildung.
Die am 23. November 1973 vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus veröffentlichte Bekanntmachung zur „Förderung der Kenntnisse von Ost- und Südost(mittel)europa ('Ostkunde') “ (KMBl 1974 S. 282 f.) wird aufgehoben.
Zehetmair
Staatsminister
KWMBl I 1997 S. 118
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