Württ.-bad. Gesetz Nr. 29 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege Vom 31. Mai 1946
§ 1
(1) Politische Taten, durch die dem Nationalsozialismus oder Militarismus Widerstand geleistet wurde, sind nicht strafbar.
(2) Straffrei ist insbesondere,
1.
wer es unternahm, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu stürzen oder zu schwächen,
2.
wer aus Überzeugung Vorschriften unbeachtet ließ, die überwiegend der Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder der totalen Kriegführung dienten,
3.
wer für sein Verhalten allein nach nationalsozialistischer Auffassung zu bestrafen war,
4.
wer einen anderen der politischen Bestrafung entziehen wollte.
§ 2
Straftaten, die im Sinne des § 1 Ziff. 3 zu bestrafen waren, sind insbesondere Verstöße gegen:
a)
das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 439),
b)
den § 1 Abs. 1 und 2 sowie § 2 des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei vom 20. Dezember 1934 (RGBl. I S. 1269),
c)
den § 2 des Gesetzes zur Gewährleistung des Rechtsfriedens vom 13. Oktober 1933 (RGBl. I S. 723),
d)
das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 (RGBl. I S. 1146),
e)
die Erste Verordnung zur Durchführung des Reichsflaggengesetzes vom 24. Oktober 1935 (RGBl. I S. 1253),
f)
die Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe vom 22. April 1938 (RGBl. I S. 404),
g)
die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939 (RGBl. I S. 1683),
h)
den § 4 der Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des deutschen Volkes vom 25. November 1939 (RGBl. I S. 2319),
i)
die anderen auf Grund des Art. I des Gesetzes Nr. 1 des Kontrollrates (Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen), (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 1, Seite 6) und der Art. I und II des Gesetzes Nr. 11 des Kontrollrates (Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts), (Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland Nr. 3, Seite 55) aufgehobenen gesetzlichen Vorschriften.
§ 3
Anhängige Strafverfahren wegen Handlungen, die unter §§ 1 und 2 fallen, sind einzustellen. Neue Strafverfahren werden nicht eingeleitet.
§ 4
(1) Ist wegen einer der in den §§ 1 und 2 aufgeführten Handlungen während der nationalsozialistischen Herrschaft rechtskräftig auf Strafe erkannt, so ist das Urteil auf Antrag des Staatsanwalts, des Verurteilten oder seiner Hinterbliebenen (§ 361 Strafrechtspflegeordnung) aufzuheben, es sei denn, daß es auf Grund des § 9 kraft Gesetzes als aufgehoben gilt. Der Antrag ist innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieses Gesetzes zu stellen.2)
3)
(2) Die Aufhebung erfolgt durch Beschluß.
(3) Zuständig ist das Landgericht, in dessen Bezirk das Verfahren stattgefunden hat.
(4) Ist das Urteil vom Reichsgericht in erster Instanz, vom Volksgerichtshof oder von einem Gericht, an dessen Sitz keine deutsche Gerichtsbarkeit mehr besteht, oder von einem sonst nicht mehr bestehenden Gericht erlassen worden, so ist das Landgericht zuständig, in dessen Bezirk der Verurteilte zur Zeit der Verurteilung seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt hatte oder der Verurteilte oder seine Hinterbliebenen zur Zeit der Antragstellung haben.
Fußnoten
2)
Gemäß § 14 tritt dieses Gesetz am 15. Juni 1946 in Kraft.
§ 5
(1) Der Beschluß ergeht nach Aktenlage ohne mündliche Verhandlung. Das Gericht kann einzelne Beweiserhebungen oder eine mündliche Verhandlung anordnen. Auf diese finden die Vorschriften der Strafrechtspflegeordnung Anwendung.
(2) Das Gericht kann eine Aussetzung der Strafvollstreckung anordnen.
§ 6
Erscheint es nach Lage des Falles zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 1 vorliegen, so ist die dem Täter günstigere Auslegung zu Grunde zu legen.
§ 7
(1) Wird der Antrag abgelehnt, so ist der Beschluß mit Gründen zu versehen und unterliegt der sofortigen Beschwerde.
(2) Über die Beschwerde entscheidet das Oberlandesgericht.
§ 8
Wer an der Entscheidung, die aufgehoben werden soll, mitgewirkt hat, ist in dem Verfahren zur Aufhebung dieser Entscheidung vom Richteramt ausgeschlossen.
§ 9
(1) Straferkenntnisse, welche ausschließlich wegen Verstoßes gegen eine der in § 2 bezeichneten Vorschriften ergangen sind, sind durch dieses Gesetz aufgehoben, ohne daß es einer gerichtlichen Entscheidung bedarf.
(2) Hierüber erteilt die Staatsanwaltschaft auf Antrag eine Bescheinigung.
(3) Zuständig ist die Staatsanwaltschaft, die das Verfahren eingeleitet hatte oder in deren Bezirk der Verurteilte zur Zeit der Tat seinen Wohnsitz gehabt hat. Ist danach keine Staatsanwaltschaft zuständig, so kann das Justizministerium die Bescheinigung erteilen.
§ 10
(1) Hat das Urteil mehrere sachlich zusammentreffende Handlungen (Tatmehrheit) zum Gegenstand, so ist es insoweit aufzuheben, als der Verurteilte wegen Handlungen, die unter §§ 1 und 2 fallen, verurteilt worden ist.
(2) Hat der Täter nicht nur eines der in § 2 aufgezählten Gesetze, sondern zugleich auf Grund Tateinheit oder Gesetzeseinheit ein noch gültiges Strafgesetz verletzt, so sind Schuldanspruch und Strafe, falls nicht eine politische Tat i.S. des § 1 vorliegt, nach dem noch gültigen Gesetz neu festzusetzen. Das Verfahren richtet sich nach den §§ 4
- 8.
§ 11
(1) Die Aufhebung des Urteils umfaßt auch alle Nebenstrafen und Nebenfolgen.
(2) Ansprüche auf Erstattung von Kosten und Geldstrafen sowie sonstige Ansprüche auf geldwerte Leistungen, die sich aus der Aufhebung des Urteils ergeben könnten, bleiben besonderer gesetzlicher Regelung vorbehalten.
§ 12
Wird ein Urteil aufgehoben, so ist der Vermerk im Strafregister zu tilgen.
§ 13
Die Ausführungsbestimmungen erläßt das Justizministerium.
§ 14
Das Gesetz tritt am 15. Juni 1946 in Kraft.
Stuttgart, den 31. Mai 1946
Das Staatsministerium:
Dr. Reinhold Maier |
Josef Beyerle |
Theodor Heuß |
Dr. Cahn-Garnier |
Andre |
Kohl |
Dr. Köhler |
Feedback